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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Besatzungsmacht
© Edeltraud Schönfeldt
Mit einem Stück Kreide fing es an. Es lag mitten im Zimmer.
Ich war Lehrerin, bin es aber seit über fünfzehn Jahren nicht mehr. Tafelkreide besitze ich zwar noch, aber keine Stümpfchen, sondern Stangen der vollen Länge, viereckig mit klar konturierten Kanten und weiß-blauem Papier um die unteren beiden Drittel herum. Dies hier war ein rund geschabter kläglicher Rest. Jemand, von dem ich nichts wusste, war in meiner Abwesenheit in meiner Wohnung gewesen.
Innerlich wich ich zurück bis in den Kern meines Selbst. Da lag dieses unschuldig weiße Stück, unscheinbar, ein Nichts, und der Schock schoss mir vom Haar in die Zehen. Metallisch der Geschmack unter der Zunge, elektrischer Schlag mitten durchs Herz. Wer, und mit welcher Absicht?
In solchen Momenten hat man keine Zeit. Ich bin sicher, wenn ich eines Tages einen smarten Jüngling mit einem Stück Kreide in der Hand beim Mustern meiner Bücherregale erwische, werde ich einfach keine Zeit haben, ihn dingfest zu machen, weil sonst die Post schon geschlossen hat oder der Bus ohne mich abfährt.
Ich steckte das Stückchen Kreide in die Jackentasche, klemmte die Zeichenmappe unter den Arm und eilte zur Bushaltestelle. Wirklich erreichte ich den Bus in letzter Sekunde. Der Tropfen, den ich von der Nase wischte, war grellrot. Ich presste das Taschentuch, presste den Finger an den Nasenflügel. Außer reinweißem Licht sah ich nichts, keine Farben. Ich starrte gradaus.
Im Gespräch mit dem Galeristen war ich nicht ganz bei der Sache, und obwohl ich rechtzeitig angelangt war und meine Arbeitsproben mit Bedacht zusammengestellt hatte, wirkte ich nicht so überzeugend wie sonst. Er wies meine Pastelle zurück.
Auf dem Rückweg - das Taschentuch, verkrumpelt und purpurn krustig getrocknet, zum Kreidestück in die Tasche geschoben - erwarb ich eine kleine Schiefertafel. Die nagelte ich außen an die Wohnungstür, damit der unbekannte Kreidemensch begriff, wo er Halt zu machen hatte. Ich plante, ein Vorhängeschloss anzumontieren, und begann schon mal Löcher zu bohren. Im Keller, das wusste ich, lag neben der alten Wäscheleine das große Gartentür-Schloss. Erst als ich mir ausmalte, wie ein maliziöser Tunichtgut mich von außen
einschließt, sodass ich die Wohnung nicht ohne fremde Hilfe verlassen kann, ließ ich von meinem Vorhaben ab und ärgerte mich über die Löcher.
Kurz darauf verschwanden Papiere. Sie waren einfach weg. Es handelte sich um sehr persönliche Aufzeichnungen, die niemanden außer mich etwas angingen.
Die Vorstellung, ein anderer Mensch stecke seine unbefugte Nase in meine Notizen, wühlte in meinen Eingeweiden. Wort für Wort zogen mir die aufgezeichneten Sätze durch den Kopf wie Leuchtschrift auf einem dunklen Band, loderten vorm inneren Auge, als müssten jeden Moment die Wände entflammen.
Einige der verschwundenen Papiere fand ich später wieder, zwischensortiert an völlig anderer Stelle. Die mir wichtigsten blieben unauffindbar.
Dieser Abgrund von Erschrecken, wenn man die schlimmsten Befürchtungen bestätigt sieht, als weite sich die Welt über alle Naturgesetze hinaus - nichts gilt mehr, Dämonen bevölkern die Oberwelt, invadieren ins diesseitige Leben, wenden Gewissheiten in vages Vermuten. Schwarz zeigt sich als Weiß, und Weiß gibt es nicht. Kein Oben, kein Unten, jede Ordnung aus den Angeln gehoben, nichts mehr orthogonal. Nur erdacht die Vertikale und die schmaler werdende Linie, auf der ich balancierte, links und rechts Schlünde.
In den Nächten verrammelte ich die Tür. Jemand, der sich ohne mein Wissen Zugang verschafft, ist auch zu anderen Rechtsbrüchen fähig. Das Mäppchen mit den wichtigsten Papieren trug ich tagsüber wie nachts an den Körper geschnallt, unters Kopfkissen legte ich aufgeklappt das große Taschenmesser. Ich schlief schlecht.
Außerhalb meiner vier Wände überkam mich oft die scheinhafte Gewissheit, jetzt, genau jetzt blättere ein Unbekannter meine Briefpost durch, befingere den über die Stuhllehne geworfenen Rock. Dann trieb mich ein Drang früher nach Haus als geplant, doch traf ich nie jemanden an. War ich es gewesen, die im Bad das Licht hatte brennen lassen?
Im Rock ein öldunkler Fleck, nicht mehr wegzubringen, ich warf das gute Stück fort.
Das erste Mal ließ ich das Wohnungsschloss im Beisein eines Kunden auswechseln; ich weiß nicht mehr, ob der Termin mit dem Werbebüroleiter vorher schon feststand und sich bloß überschnitt oder ob ich ihn extra so legte und insgeheim Beistand von ihm erhoffte. Er nahm die kurze Unterbrechung schweigend hin und äußerte kein Befremden darüber, dass ich am ganzen Leib zitterte; doch folgte dem Auftrag der Firma kein zweiter.
Und wieder vom Donner gerührt: Beim Nachhausekommen hing die Jacke mit dem Futter nach außen am Haken, innen ein merkwürdiges Etikett eingenäht und ein hässlicher weißer Knopf. Das Lampenöl war vom Balkon verschwunden, der Gasherd angezündet, auf dem Küchentisch standen drei Gläser.
Niemand da. Außer mir hatte niemand den Schlüssel.
Als die Polizei kam, standen die Plastikflaschen mit dem Lampenöl wieder auf dem Balkon; ich hatte rasch noch Brot und Bananen holen müssen - mit leerem Magen lässt sich schwer kämpfen.
Beiseite gedrängt und vergessen, weil Wichtigeres zu tun. Ich lebte mein Leben wie zuvor. Doch seit es so war, wie es nicht sein durfte, ging ich ungern aus der Wohnung. Nie vergaß ich, alle Fenster zu schließen, den Herd, die Waschmaschine auszuschalten, den Schreibtisch abzuschließen. Persönliche Aufzeichnungen fertigte ich keine mehr an.
Jahrelang verdächtigte ich meinen verschollenen Freund und nahm es als erfreuliches Lebenszeichen, wenn Zigaretten und Lebensmittel verschwanden. Aber nachdem ich das Wohnungsschloss zum vierten Mal hatte ändern lassen, konnte er es nicht mehr gewesen sein. Zumal die Einbrüche, bei denen nichts von größerem materiellem Wert verschwand, begonnen hatten, lange bevor ich ihn kannte.
Jemand, der ein und aus ging, ohne mein Wissen, ohne meine Erlaubnis - mehrere wohl; aber wer? Wieder eine Notiz vom Schreibtisch verschwunden. Unter der Spüle, eingekrustet, ekelhaft Schwarzbraunes - woher? Lesezeichen im Aktenordner - ich hatte keines hineingelegt.
Eines Nachts stach mich was in die linke Hand - belanglose Körpermissempfindung, ein Nerv wohl, der sich spontan entlud. Das Gelenk schwoll erst Tage später an, nicht sehr, aber es schmerzt. Unter der linken Achsel veränderte sich die Schweißdrüse, produzierte unentwegt Übelriechendes. Ich kümmerte mich nicht sonderlich darum; eine Alterserscheinung wie das knackende Knie. Zipperlein, weiter nichts.
Nichts nahm Gestalt an, nicht einmal in meinem Kopf. In die Leinwände schnitt ich seit einiger Zeit Löcher hinein, sparte aus, was ich darstellen wollte, setzte Brüche, Bewegliches, das vorm Zugriff zurückwich. Figürliches gelang mir nicht mehr. Kräfte schoben sich übereinander, geballt, durchbrachen die Rahmen. Ich zerschnitt und hielt künstlich zusammen, brauchte Metallstreben, um verborgen hinterm Tableau das Gefüge zu halten, das sich immer mehr weitete und ins Dreidimensionale wuchs. Probleme der Statik
beschäftigten mich. Wie den Schwerpunkt ausbalancieren?
Vorn bei der Wohnungstür stellte ich meine Schulausgabe des Grundgesetzes auf die Konsole, aufgeschlagen beim Artikel 13, Unverletzlichkeit der Wohnung. Dann Schilder, Pappen, in die ich mit all der Kraft meiner ohnmächtigen Wut "Raus!" ritzte - nicht schrieb, sondern ritzte; der Kugelschreiber zerbrach.
Manchmal, wenn ich einem befreundeten Menschen ein Detail erzählte, um vorzufühlen, ob der andere empfänglich wäre für das, was mir widerfuhr, trennte sich derjenige befremdet von mir. Das machte mich nicht redseliger.
Ich malte mir Gegenwehr aus, um den Eindringlingen nachhaltig klar zu machen, wer hier die Miete bezahlt: ausgerenkte Unterkiefer, blutige Zahnstummel, und mit meinem rechten Gebirgswanderstiefel voll in die Eier. Feige entzogen die Gegner sich mir. Ich reagierte mich in der Küche beim Abwaschen ab und stellte mir zerschmetterte Gliedmaßen vor.
Verbündete fand ich keine. Nur einmal erzählte mir jemand Vergleichbares, eine allein stehende Frau wie ich, die wie ich kein bürgerlich normiertes Leben lebt. Sie zog weg aus der Gegend.
Wollte man mich vertreiben?
Wer war das, der mir seine Macht über mich unmissverständlich vor Augen führen wollte? Wem konnte ich trauen, wem nicht? Jemand wollte mir beweisen, dass ich wehrlos ausgeliefert sei. Das war die Botschaft, die in alledem steckte: Du hast keinen privaten, nur dir gehörigen Raum, keine Intimsphäre. Ich kolonisiere dich zur Gänze, du bist erobertes Gebiet, bist mir untertan.
Der Schrecken braucht sich ab, er verschleißt mit den Jahren. Der einzige Weg war, selber verschlossen und immer verschlossener zu werden. Ich habe gelernt, für mich zu behalten; und mehr noch: Stets bin ich darauf gefasst, mein Eigentum, die Wohnung, das Leben zu verlieren, als läge mein Zuhause mitten in einem Kriegsgebiet. Wie Mutter, die in den letzten Kriegsjahren während der Mittagspause den langen Fußweg lief, um einen kurzen Blick auf das Wohnhaus zu werfen - steht es noch? -, und wieder zur Arbeit zurück,
wie sie betrete ich meine Wohnung Tag für Tag mit einem gewissen Erstaunen: Der Schlüssel schließt noch, das Vertiko steht da wie immer, auf den ersten Blick scheint nichts verändert.
Wochenlang, monatelang bleibt alles ruhig - oder bemerke ich nur nichts? Ich will nichts mehr bemerken. Das kurze dunkle Haar auf dem Herd übersehe ich wie das Fehlen der Lohnsteuerkarte, des Gedichtbandes einer verstorbenen Freundin, einer Malereibedarfs-Quittung. Wegerklären den ungebetenen, Verstecken spielenden Gast. Es gibt ihn nicht, hat ihn niemals gegeben.
Beim Großputz entdecke ich im Bettkasten ein mumifiziertes Reptil und ein Kissen, das mir nicht gehört - oder doch? Was ist das für ein Kissen, in blutroten Stoff eingenäht? Was steckt darin - weitere Reptilien? Ein Skorpion?
Das Schloss schließt anders; ein Widerstand hat sich hineingeschoben, den es gestern nicht gab. Stets drehe ich den Schlüssel nur einmal herum, wenn ich daheim bin; heute Morgen muss ich den Schlüssel zweimal drehen, um die Wohnungstür zu öffnen.
In einem Schraubglas trage ich das Reptil zusammen mit dem Kissen zum Container. Und sage niemandem ein Wort - weil ich mir vorstellen kann, was einer sich denkt, dem man derlei berichtet.
Ich gehe ungern aus der Wohnung, bleibe aber auch ungern hier. Selten ruft jemand an, und wenn, dann im falschen Moment. Außer mir ist hier niemand. Niemand außer mir hat die Schlüssel.
Eingereicht am 03. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.