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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Ein Kommen und Gehen
© Finn-Ole Heinrich
Opa kommt von weit weg. Er ist ein Weihnachtsopa. Er kommt kurz vor Weihnachten und kurz danach fährt er wieder weg. Opa schenkt mir Schokolade und spritzt sich morgens etwas in den Bauch. Wenn wir abends Karten spielen, will Opa nicht verlieren. Opa ist ein lauter Mann und rechnet, wie viel er essen darf.
Mama ist auch manchmal eine laute Frau. Aber wenn Opa kommt, dann ist sie eine leise Frau. Das ist wie bei mir: wenn Mama laut ist, bin ich leise. Und wenn Mama nicht da ist, bin ich laut.
Wir sind zum ersten Mal bei Opa. Er hat eine kleine Wohnung, die komisch riecht. Ich glaube, Opa wollte noch gar nicht weg. In seinem Kühlschrank stehen zwei frische Liter Milch. Auf dem Herd steht eine Pfanne mit altem Fett. Opa hat alles zwei Mal benutzt, das Bratfett, Taschentücher, Socken. Im Hauseingang stapeln sich neue Zeitungen, die Opa noch alle lesen wollte. Im Wohnzimmer liegt die Fernbedienung für den Fernseher auf dem Bauch. Der Rücken ist offen und Batterien liegen daneben. Alte und neue. Man geht
nicht, während man die Batterien auswechselt. Es sieht aus, als wäre Opa das Batterieauswechseln zu langweilig geworden und er hätte Fernbedienung beiseite gelegt und hätte etwas Neues angefangen.
Eine kleine Schale mit Opas Chips, die er noch aufessen wollte auf dem Tisch. Man trinkt die Milch aus und isst die Chips auf, bevor man geht.
Ab und zu klingelt es an der Tür. Es kommen Leute, die Mama die Hand schütteln und ihr nur manchmal in die Augen sehen. Es tut ihnen Leid.
Vielleicht, dass sie nicht bleiben können, dass sie uns nicht helfen können. Es gibt immer so viel zu tun. Sie reden wie nur Opa redet.
Sie kauen die Buchstaben etwas länger und spucken sie weicher aus.
Sie kaufen beim Metzger Bollen und keine Hühnchenschenkel und wahrscheinlich mögen sie auch keine Ittakkas.
Als es wieder klingelt, renne ich zur Tür und mache sie auf. Dort steht ein alter Mann mit einer Frau, die er hinter sich hält, an der Hand. Ich gucke ihn an. Er weiß nicht, wie er gucken soll, dann streichelt er mir die Haare und sagt wie Opa: Ist denn die Mama auch da. Ich gucke ihn böse an und sage: Red nicht wie Opa, der ist doch schon tot. Dann renne ich weg von der Tür und Mama weint ein bisschen. Ich esse Opas Chips. Die schmecken nicht mehr.
Später ziehen wir uns um. Wir ziehen uns alle schwarz an. Nur für Opa. Opa mochte schwarz, alle seine Sachen waren schwarz: sein Auto, seine Hosen und Jacken, sein Hut. Sogar die Schokolade, die er mir geschenkt hat, war schwärzer als normale und hat mir nicht geschmeckt.
Nur seine Hemden waren weiß.
Dann fahren wir zum Friedhof. Da werden die Menschen begraben.
Dort stehen wir ein bisschen herum. Keiner will mit mir reden, dann redet ein Pastor ganz laut und wir sind alle ganz leise. Er redet auch noch ein bisschen wie Opa. Vielleicht reden hier alle wie Opa, damit sie ihn nicht vergessen.
Die meisten, die hier stehen weinen und sind traurig. Meine Tante versteckt ihre Augen hinter einer Sonnenbrille. Darunter laufen Tränen hervor, die schwarze Spuren auf ihrer Wange zurücklassen. Das würde Opa gefallen.
Es ist schade, dass Opa tot ist, denn jetzt ist er weg und kommt nie wieder. Ich bin froh, dass ich nicht richtig traurig bin, denn ich will nicht für immer traurig sein. Ich habe Angst, dass Mama nie wieder aufhört mit Weinen. Denn ihr Gefühl kann nie mehr weggehen, erst wenn Opa wieder kommt. Und der wird ja gerade eingebuddelt.
Dann können wir nie mehr zusammen auf dem Sofa liegen, Pinocchio hören und laut lachen und keine Zwergenhöhlen mehr im Garten bauen und uns freuen, dass wir ihnen so viel Gutes getan haben und hoffen, dass ein Riese kommt und uns auch ein neues Haus baut.
Die ersten gehen zu Opa und lassen eine Blume auf seinen Sarg fallen.
Das ist so laut, dass ich denke, vielleicht wacht Opa ja gleich noch mal kurz auf und lacht sein lautes Lachen. Er wacht nicht auf. Meine Tante hat wohl auch gedacht, sie weckt ihn noch mal auf, denn sie bleibt vor dem Grab stehen und wartet. Und weint ganz fürchterlich.
Dann kommt mein Cousin und fasst sie an den Schultern und zieht sie weg. Sie hat ganz schwache Beine heute.
Ich weiß schon: bald sind wir dran. Mama nimmt schon meine Hand und ich stelle mir vor, wie wir gleich dort stehen und Opa mit Erde bewerfen. Opa kann schnell sauer werden. Dann schreit er, dass die Ohren dröhnen. Ich will ihn nicht mit Erde bewerfen. Er ist doch tot.
Und ich will ihn nicht stören.
Dann stehen wir vorne bei Opa. Ich nehme eine Blume und lege mich auf den Bauch und strecke den Arm runter in Opas Grube, damit die Blume nicht so doll aufschlägt, wenn ich sie fallen lasse. Mama zieht mich wieder hoch. Sie weint. Und ich mache mit. Nicht weil ich traurig bin. Es kommt einfach so aus mir raus. Das ist wie über Witze lachen, die Erwachsene sich erzählen. Dann lacht man ja auch mit, wenn sie fertig sind. Weil alle lachen. Das heute ist nur eben kein Witz, sondern Opas Beerdigung.
Morgen fahren wir wieder in unsere Stadt und heute Nacht wollen wir noch bei Opa schlafen. Sein Bett ist frisch bezogen. Opa wollte noch nicht gehen. Oder er wollte wiederkommen. Wenn ich mal gehe, räume ich mein Zimmer vorher nicht noch extra auf. Bevor wir in Urlaub fahren sagt Mama immer: Räum dein Zimmer auf oder willst du in so ein Zimmer zurückkommen. Vielleicht wollte Opa auch nur in Urlaub fahren.
Oder er hat was falsch verstanden. Vielleicht hat man es ihm nicht laut genug erklärt. Neben Opas Kopf ist mal eine Bombe explodiert.
Ich gehe noch einmal zu Mama. Sie duscht in Opas Dusche. Ich setze mich aufs Bett und warte. Als sie fertig ist, setzt sie sich zu mir und nimmt mich in den Arm. Ich frage: Musst du jetzt immer traurig sein, weil dein Gefühl nicht weggeht, weil Opa nie mehr wieder kommen kann? Da drückt sie mich ganz fest und als sie mich wieder los lässt sehe ich, dass Mama ein bisschen lächelt.
Eingereicht am 03. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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