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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein Platz zum Schlafen

© Martina Mross


Die meisten Menschen hatten sich schon zur Ruhe begeben, denn die Nacht war wie geschaffen zum Schlafen. Der Vollmond und die Sterne drangen bestechend klar durch die Dunkelheit der Herbstkälte. Auf der Straße zwischen zwei Stadtbezirken fuhr ein alter Fiat ganz allein entlang. Zur einen Seite spiegelte sich ein großer See, zur anderen erstreckte sich der Wald der Stadt. In dem Wagen saßen eine Frau und ein Kind.
"Ich bringe dich jetzt zu deinem Vater", gab die Frau monoton von sich.
Das Kind antwortete nicht, sondern schaute mit ernsten Augen auf den See.
Zu welchem Vater fragte es sich. Da waren viele Männer, zu denen es Vater gesagt hatte. Aber der Vater würde es wohl nicht sein. Den Richtigen hatte es noch nie gesehen. Wollte nichts von dem Kind wissen, hatte die Mutter immer wieder gesagt.
"Ich habe es satt für dich zu sorgen. Sollen sich doch Andere um dich kümmern." Mit einer Hand fummelte sie hektisch an der Gangschaltung.
Das Kind war unruhig, versuchte sich aber nicht zu bewegen und nicht hinzuhören. Die Frau hatte schon viele Dinge gesagt, die nicht wahr waren.
Es hätte gerne gewusst wohin es ging, aber wenn es etwas fragen würde, wäre die Frau noch erregter.
Stattdessen beschleunigte sich das Tempo und der Wagen nahm Kurs auf den Wald, so dass das Kind den See nicht mehr sehen konnte. Der Wald ist auch sehr schön, dachte das Kind.
"Ich will endlich meine Ruhe haben. Du wirst jetzt ein für allemal aus meinem Leben verschwinden." Es trug noch den kurzbeinigen Schlafanzug, und nun klebten die kleinen Beine auf den Plastiksitzen, denn es hatte keine Zeit gehabt etwas anzuziehen.
Als es im Bett lag, hatte das Telefon geklingelt und die Frau mit liebevoller Stimme geredet.
Danach war die Tür aufgegangen und die Frau hatte die Bettdecke hoch gerissen.
"Ich bekomme Besuch! Da kann ich dich nicht gebrauchen. Du musst weg. Steh auf!"
Das Kind versuchte sich aufzurichten. Es war müde und das Bett war so schön warm.
"Mach schon. Ich habe nicht den ganzen Abend Zeit."
"Ich bin so müde!"
Das war ein Fehler.
"Jetzt reicht`s aber!" Ruckartig wurde das Kind zur Seite gezogen. "Ich muss den ganzen Tag schuften und du kannst dich ausruhen. Du gehst ja noch nicht einmal zur Schule. Und jetzt wagst du es mir zu sagen, dass du müde bist!"
Es durfte nicht reden, wenn die Frau wütend war. Und sie war oft wütend und das Kind wusste nicht warum. Nur, dass es so war.
Die Frau hatte das Kind noch immer fest im Griff und schleppte es durch den Flur. Sie war vollständig bekleidet und hatte schon einen Mantel an bevor sie in das Zimmer kam, in dem das Kind schlief.
"Du bleibst hier sitzen und rührst dich nicht!" Sie drückte das Kind auf die kalten Fliesen und ging zurück in den Raum, der tagsüber als Esszimmer diente. Der Klappsessel, auf dem es geschlafen hatte, wurde zusammen geschoben.
Schnell nahm es seine Schuhe und zog sie an.
"Was machst du da?" Der Deckel des Bettkastens schlug zu und die Frau kam durch den Flur gelaufen. Ihr Mantel öffnete sich und ein kurzes schwarzes Kleid war zu sehen.
"Los geht´s! Und sei ruhig wenn wir durch den Hausflur gehen!"
Das Kind bemühte sich nicht zu wimmern. Es wollte nicht, dass die Frau es wieder schlug.
Sie fuhren immer noch durch den Wald und das Kind wagte kaum die Frau anzusehen. Die Straße ging bergauf und manchmal sah das Kind die Spitze des Kirchturms. Es überlegte wieder, wohin sie fahren würden. Vielleicht gab es wirklich einen Vater und es könnte endlich schlafen. In einem richtigen Bett.
"So, gleich sind wir da!" Die Frau schaute auf ihre Armbanduhr und gab ein erleichterndes Stöhnen von sich.
Der Wagen fuhr jetzt langsamer und das Kind wunderte sich. Hier war kein Haus. Sie waren immer noch im Wald. Plötzlich verließen sie die betonierte Straße und holperten über einen kleinen Forstweg, der auf einen Ausflugsparkplatz führte. Dort stoppten sie.
"Raus hier! Du musst ab hier allein zu deinen Vater weiter gehen."
Die Frau drückte ihren süßlich riechenden Oberkörper gegen das Kind und öffnete mit einer Hand die Autotür. Mit der anderen Hand schubste sie das Kind hinaus und die kleinen Beine lösten sich vom klebrigen Sitz. Es versuchte nicht zu fallen, aber es konnte in der Dunkelheit nicht richtig sehen. Nur das Scheinwerferlicht strahlte in das Unterholz.
"Aber ich habe doch keinen Vater!", weinte das Kind verzweifelt. Die Frau musste doch wissen, dass es keinen Vater hatte.
"Jeder hat einen Vater!"
Die Wagentür schlug zu und kurze Zeit später war das Kind allein.
Es weinte nicht mehr, stand auf und setzte sich auf eine Holzbank, zog die Knie hoch und versuchte sich mit den dünnen Armen vor der Kälte zu schützen.
Wenn es auf die Straße laufen würde, könnte es den Weg zurück finden. Aber die Autofahrt hatte lange gedauert, und es wusste nicht mehr genau wo es lang laufen musste. Vielleicht würde auch ein Auto kommen, anhalten und es mitnehmen. Dann müsste das Kind erzählen, was passiert ist, und das wollte es nicht.
Immer wenn es etwas erzählte, hatte es nie Recht bekommen. Am Ende war alles schlimmer, als es war.
Diesmal würde sie bestimmt behaupten, das Kind sei von zu Hause weggelaufen, sie hätte sich schon Sorgen gemacht. Und mit dem Kind sprach niemand. Über was auch. Später würde sie es dann bestrafen. Davor hatte das Kind große Angst.
Die Augen hatten sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt und es konnte nun besser sehen. Die Bäume bewegten sich im kalten Wind und er drang durch den dünnen Schlafanzug.
Plötzlich hörte das Kind Motorengeräusche. Mehrere Lichter näherten sich dem Parkplatz. Schnell sprang das Kind auf und versteckte sich hinter den Bäumen.
Eine Gruppe Jugendlicher kam mit knatternden Mopeds heran geprescht und drehte nun einige Kreise auf dem Parkplatz. Dann stoppten die Maschinen.
"Eh, Alter, rück mal den Stoff raus!", grölte eine aggressive Stimme und bald hatte jeder eine Dose Bier in der Hand. Sie tranken und schepperten anschließend die Dosen auf den Boden. Einer rülpste laut und fing an zu kichern.
"Man, hab ich `nen Kohldampf. Wie wär`s mit `ner Kaninchenjagd?" Er zückte ein Taschenmesser und fuchtelte damit in der Luft herum. Die Anderen fingen auch an zu kichern.
Das Kind hörte sein eigenes Herz schlagen. Es musste sich verstecken und schlich weiter in den Wald hinein. Hier gab es sicherlich Tiere, aber die hatten kein Messer. Die Stimmen waren noch zu hören und das Kind rannte weiter bis nur noch das Rauschen des Waldes zu hören war. Dann blieb es stehen. Die Angst und das Laufen hatten den kleinen Körper erhitzt, doch der Schweiß wurde nun klamm, und die Kälte war schlimmer als vorher.
"Mama!", jammerte es. Zuhause war es warm und es wollte nur schlafen.
"Lieber Gott, mach bitte, dass ich nach Hause finde!", schluchzte es und rieb sich die Augen. Langsam trottete es weiter und der Weg verengte sich, dass die Äste der jungen Bäume gegen die nackten Beine schnellten. Das Kind versuchte sie mit den Armen abzufangen. Doch es waren zu viele, und es war zu klein.
"Lieber Gott!", rief es noch einmal und kämpfte sich weiter vorwärts. Auf einmal kam es zu einer kleinen Lichtung und konnte weit entfernt die Spitze des Kirchturms sehen. Wenn es zur Kirche finden würde, wusste es den Weg nach Hause.
So lief es weiter und versuchte den Turm nicht aus den Augen zu verlieren.
Das war sehr schwer und die hohen Bäume versperrten den Weg. Doch das Kind versuchte immer geradeaus zu gehen. Der Wald erschien endlos lang, und es glaubte, es nicht zu schaffen, bevor es hell würde. Dann würde es jemand entdecken. Das Kind im Schlafanzug. Was sollte es dann sagen?
Die Müdigkeit kam wieder und fing leise an zu singen. Die Stimme verschwand im Wald und es merkte, wie allein es war. Die aufgeschlagenen Beine fingen an zu jucken und es fing an daran zu kratzen.
Das Singen wurde nun zu einem Wimmern. Doch da war der Kirchturm wieder und es lief weiter. Der Boden wurde uneben und das Laub versteckte die knöchernen Wurzeln der Bäume. Nachdem es ein paar Mal gefallen war, tastete es sich langsam vorwärts. Es konnte nicht mehr denken. Das einzige Ziel war, das Ende des Waldes zu erreichen. Dann setzte es sich hin und schlief ein.
Nach einiger Zeit wurde es durch das Zittern des eigenen Körpers geweckt.
Erst wusste es nicht wo es war, aber dann kam die Erinnerung und es stand auf und ging schlotternd weiter. Wie lange konnte es noch gehen? Hunger und Durst kamen zur Angst dazu.
Viel, viel später nahm der Wald ein Ende und es kam an einem Weg mit einer Schranke. Plötzlich waren da Straßengeräusche. Es war die Straße mit dem See. Glücklich rannte es los und streckte die Arme nach vorne.
"Oh, mein See!"
Einige Autos fuhren schon durch die Dämmerung. Eine Frau schaute heraus und schüttelte den Kopf.
Das Kind war froh, dass sie nicht angehalten hatte. Es musste sich beeilen.
Jedes Mal, wenn ein Wagen kam, versuchte es sich zu verbergen. Doch wo sollte man sich auf der Straße verstecken und gleichzeitig nach Hause kommen.
Bestimmt wurde es gesehen, aber zum Glück hatten die Leute es eilig. Sie mussten zur Arbeit. Das wusste das Kind und so erreichte es die Straße in der es wohnte, ohne das jemand es angesprochen hatte.
In der Wohnung brannte Licht. Leise schlich es in den Hausflur und lauschte an der Eingangstür.
Ein vertrauter Geruch drang durch den Türspalt und die Frau lachte künstlich.
Fast wäre es wieder eingeschlafen, doch als sich Schritte der Tür näherten, flüchtete es mit letzter Kraft die Treppe hinauf.
"Das war doch klar, dass es nur für eine Nacht war." Ein Mann öffnete die Tür.
"Und mach bloß keinen Aufstand!"
Die Frau folgte im Morgenmantel und das Licht ging an.
"Was ist das denn?", fragte der Mann und starrte auf das Kind.
Es stand auf der oberen Stufe und bibberte. Verlegen kratzte es sich am Knie.
"Das glaub´ ich nicht! Ist das vielleicht dein Gör?"
"Und wenn schon!", sagte die Frau "Komm runter, bevor dich die Nachbarn sehen!"
Der Mann machte eine abfällige Bewegung mit der Hand und lief das Treppenhaus hinunter.
Das Kind hatte Angst und schlich langsam die Treppe herunter.
Als es unten vor der Mutter stand, schlug diese mit der flachen Hand auf ihren Hinterkopf.
"Du hast mal wieder alles vermasselt. Mach das du ins Bett kommst!"
Mit letzter Kraft lief es ins Esszimmer, holte das Bettzeug aus dem Kasten und klappte den Schlafsessel auf.
Gerne hätte es die Beine gewaschen, aber die Mutter war im Badezimmer und machte sich für die Arbeit fertig.
Es war auch besser, wenn es so tat, als wäre es nicht da, knipste das Licht aus und deckte sich zu.
Nun kam die Mutter aus dem Badezimmer und der süßliche Duft ihres Parfüms drang durch die halboffene Tür und vermischte sich mit dem kalten Rauch, der noch in der Luft lag.
Sie kam ins Zimmer.
"Ich gehe jetzt. Und friss nicht wieder den ganzen Kühlschrank leer!" Nachdem die Eingangstür zugeschlagen war, öffnete das Kind das Fenster.
Draußen war es hell. Es war dankbar. Endlich würde es schlafen können.



Eingereicht am 03. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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