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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Rotes Fleisch, lautlos

© Sonja Reichel


Sie saß in einem blassen Fleck Sonne und nippte an ihrem Kaffee. Ihr Körper und ihre Knochen waren noch schlafverhangen, seit Wochen hatte sie diesen dumpfen Zustand, machte trotz Erschöpfung weiter. Wie ein Hamster im Rad, der läuft, ohne vorwärts zu kommen. Die Arbeitswelt hatte sie zur Geisel genommen und an Freilassung war nicht zu denken. Sie wusste nicht, wo sie ein Lösegeld hätte auftreiben sollen, seit sich der Müßiggang nicht mehr für sie interessierte. Lange genug war er eine Beziehung mit ihr eingegangen und hatte sie jetzt alleine gelassen. Sie vermisste ihn ­ mit ihm daliegen und denken. Gedankenpullis stricken. Gedanken, die verquer waren, nicht genormt, da nicht durch viele Werktage ruhig gestellt. Mal eine Masche verlieren und woanders wieder aufnehmen. Oder auch nicht. Jetzt fror die Arbeitswelt ihre Gedanken ein. Individualismus wollte niemand, auch wenn es ständig behauptet wurde. Graue unglückliche Gestalten huschten im Büro an ihr vorbei und hatten vergessen, dass es auch anders ging. Sie spürte, dass sie vor die Hunde gehen würde, wenn ihr keine Flucht gelang. Ein Fluchtplan, sie brauchte einen Fluchtplan. Doch bis dahin musste sie sich ruhig verhalten.
Der weiße Lieferwagen war wieder da. In seinem Bauch andere Bäuche. Tote, aufgeschlitzte Bäuche von Tieren. Die Metzger wurden beliefert, wie jeden Morgen. Während sie ihre Zunge in die schokoladengefüllte Tiefe des Croissants bohrte, schleppte neben ihr jemand totes Fleisch durch den Sommer. Im Sommer sollte es nichts Totes geben, jetzt, wo endlich Licht wie helle Punkte im Himmel. Himmelssommersprossen. Der hagere Typ beugte sich unter den offenen Bäuchen, die rote Spuren auf seinem weißen Arbeitsanzug hinterließen. Eine Mischung aus Blut und Schweiß und Tod. Wie grausam das Leben sein konnte. Es offenbarte sich im Kleinen. Was war das für ein Dasein, das daraus bestand, seinen Körper unter toten Tierkadavern zu ducken, mit dem Metzger ein paar nichts sagende Worte zu wechseln, den weißen Lieferwagen mit dem Kühlschrank aus Tod zu starten, allein sein, vielleicht aufgefangen von einer Lieblingskassette und einem tiefen Zug an einer Zigarette in der Hoffnung, das Rauchen werde das Dasein verkürzen?
Rauchen kann tödlich sein. Das Leben war tödlich. Ob ein Tierkadaverzulieferer so etwas wie Lieblingsmusik hatte? Konnte jemand angesichts des Schweigens des täglichen Todes noch Melodien spüren?
Und doch ­ während sie sein Gesicht beobachtete, stellte sie fest, dass er nicht unglücklicher wirkte als ihre Kollegen im Büro. Vielleicht hatte er ihnen diese wenigen Schritte durch die Sonne voraus. So wie sie ihren Kollegen die wache Erinnerung daran voraus hatte, dass eine Existenz auch dann möglich war, wenn man nicht nur aus Terminen bestand und einfach da saß und atmete, eine Wolke ansah oder eine schwitzenden Hund, um abends Farbe zu kaufen, in einem zarten Hellgrün, die Wand damit zu streichen und glücklich zu sein. Warum lernte man an der Uni hoch komplizierte Dinge, wenn man danach nicht mehr denken durfte, nur niedere Arbeiten in einem Unternehmen verrichten musste? Warum wurde überall nach sozialer Kompetenz verlangt, wenn nur der Computer diese Fähigkeiten mitbekam, da er zum achtstündigen Gegenüber wurde? Er und das Internet, das Tor zur Welt für Menschen, die zu ängstlich geworden waren, selbst in das Leben hinauszugehen. Vermeintliche Kommunikation mit einem flimmernden Bildschirm, über Mails, über digitale Datenverarbeitung. Kein Wunder, dass so viele Menschen Selbstgespräche führend ihre Stimme am Laufen hielten. Eines Tages würden sich die Stimmbänder zurückbilden und die Menschen verstummen, denn Stimme wäre nicht mehr verlangt. Die Stimme als Atavismus. Gegen eine bürointerne Hierarchie sollte man erst recht nicht die Stimme erheben. Doch daran gewöhnte sie sich nicht. Und hatte es auch nicht vor. Es flößte ihr keinen Respekt ein, wenn jemand einen Titel hatte, aber keinen Charakter. Sie konnte Menschen nicht ernst nehmen, die ein dickes, glitzerndes Auto brauchten, mit dem sie selbstzufrieden durch die Straßen schmatzen konnten. Die ihren Körper lange nicht mehr gespürt hatten und sich vor ihrer bleichen schlaffen Haut ekelten. Deswegen saßen sie in Autos wie Unken und hinterließen Schmierspuren auf dem Asphalt. Später quetschten sie ihre selbstzufriedenen Hintern in gepolsterte Stühle und belächelten sie, die Neue, von der sie gar nicht so genau wussten, woher sie gekommen war und was sie konnte. Am Anfang hatte sie ihr Können noch gezeigt, doch es war nicht verlangt, es überforderte, wenn sie in kürzester Zeit ihre Texte in die Tasten gehackt hatte, den Energiezahn galt es zu ziehen, ein bisschen narkotisiert war sie noch, doch sie hatte sich angepasst. Sah beschäftigt aus, ohne etwas zu tun, schrieb ihre Texte in der zehnfachen Zeit und dachte sich ihren Teil, wenn sie angewiesen wurde, Kaffee zu kochen. Von der Hochschulabsolventin zur Kaffeekocherin. Sozialer Abstieg der Moderne.
Von ihrem Arbeitsplatz aus betrachtete sie ihre Kollegen. Bis auf ein paar Ausnahmen versteckten sie sich in gedeckten Anzügen und schlecht sitzenden Klamotten. Kein Wunder, dass in diesem Sommer der Himmel meistens bewölkt war, es half ihm auch niemand auf die Sprünge.
Mittlerweile hatte der Tierkadavermensch Feierabend. In seiner kleinen Wohnung stand er unter der Dusche, in deren Ritzen sich der Schimmel ausgebreitet hatte. Die Adern drückten sich gegen seine blassen Arme. Wie violette Würmer. Die Waschmaschine schleuderte unterdessen getrocknetes Tierblut in die Kanalisation. An der Wohnungstür hatte er mit einem Post-It Zettel seinen Namen geklebt: Antoine Glaubitz. Er hatte kein Schild angebracht, weil er sich weigerte, diesen Zustand als chronisch zu akzeptieren. Er verlieh seiner Umgebung den Anstrich des Provisorischen, weil er hoffte, so leichter zu entkommen. Aus dieser Zwischenstation. Doch man musste aufpassen. Wie oft schien ein bestimmter Zustand nur eine Übergangslösung, bis was Besseres, bis endlich anfangen zu leben und dann blieb man hängen, fünf Jahre Haft oder länger im Kompromiss und bei der Entlassung fiel die Resozialisierung schwer, weil man nicht mehr wusste, was Glück bedeutete.
Er schnupperte an dem herben Duft seines Duschgels, der sich über den Verwesungsgeruch in seiner Nase legte. Zwei Monate schleppte er jetzt schon tote Tiere, am Anfang hatte er gewürgt und eine Tüte mit Erbrochenem am Abend entsorgen müssen, aber der menschliche Organismus ist zäh. Irgendwann hatte er begonnen, seinen Job als Grenzerfahrung zu begreifen, aber es setzte ihm zu, mehr, als er sich eingestand ­ um das zu vergessen, betäubte er sich abends mit Fernsehen. Er saß mit seinem hageren Körper in einem abgewetzten Schlafanzug auf dem Sofa und bekam Blähungen vom Alltagsmüll, der zu Bildern geworden war und sich zu den Bildern in seinem Kopf legte.
Manchmal wünschte er sich eine Bilderentsorgungsanlage. Eine schnelle, diskrete.
Rena raste mit ihrem Fahrrad durch die Stadt. Der abendliche Nachhauseweg war zu einem ihrer erbärmlichen Höhepunkte geworden. Sie trat in die Pedale, als wäre jemand hinter ihr her. Der Himmel war in Abendlicht getaucht und die Stimmen sirrten wie unsichtbare Insekten durch die laue Luft. In Straßencafés saß die andere Hälfte der Menschheit, die Studenten, Arbeitssuchenden und Freischaffenden saßen da, als gäbe es keine Vormittage und kurzen Nächte. Vor ein paar Monaten war sie eine von ihnen gewesen. Café als einziger Tagesinhalt, bis ihr Bauch und ihr Hirn ganz matschig geworden waren vor lauter Koffein und Freizeit, sie drohte auszurutschen in ihrem Zeitvakuum, weswegen sie sich den Käfig Werktag selbst verordnet hatte, sich darauf gefreut hatte, etwas Nützliches tun, doch ob im Café oder bei der Arbeit, etwas Sinnvolles kam bei derartiger Einseitigkeit nicht heraus.
Wie dieses Leben mit Sinn stopfen? Wie das Mittelding aus Freizeit und Arbeit finden? Ihr schien, als gäbe es nur das eine oder das andere, zwei gegensätzliche Pole, sich gegenseitig ausschließend. Einen Halbtagsjob, den bräuchte sie, aber von Berufsanfängern verlangte man unbedingten Einsatz.
Dabei hatte sie den Eindruck, mehr leisten zu können, wenn ihre Seele auch mal baumeln durfte, um danach ausgeruht dem Computer zu dienen. Texte für ihn zu produzieren, ihm zu widmen, in die Datenautobahn Internet zu werfen, ohne diesen Druck, es müsse besonders sein, da nicht mehr lebensbestimmend, da nur ein paar Stunden am Tag.
Sie zog die Tür hinter sich ins Schloss, seufzte, als sie die Schuhe abstreifte und barfuß über den Holzboden lief. Es war früher Abend, aber sie hatte keine Kraft für eine Verabredung. Auf dem AB baten zwei Freunde um Rückruf, aber da sie den ganzen Tag geschwiegen hatte, wusste sie auch jetzt nicht, was reden. Manchmal war es anders. Da sprudelte sie abends wegen des schweigenden Tages. Doch heute hallte der Tag wie ein leeres, erschöpftes Echo in ihr. Dennoch gelang es ihr in einem Funken Wut, die Musik anzumachen und aufzudrehen, weit. Mitten in ihrem Zimmer stand sie und tanzte. Sie hatte es nie gelernt, das Tanzen, aber das machte nichts, denn die Bewegungen fügten sich ineinander, es ging um Erschöpfung und Vergessen und Spüren, und es war gut.
Den nächsten Morgen begann sie wieder mit Blick auf den Tierkadavermenschen.
Über den Rand der Tasse beobachtete sie sein schmales dunkles Gesicht, die schwarzen Haare. Seine Mimik verriet nichts. Wie abgeschaltet. Stoisch bückte er sich unter dem toten Tier, schulterte es, setzte es ab, zog die Tür des Lieferwagens zu und fuhr. Weiß und rot und lautlos. "Manchmal hinterlassen wir Spuren", dachte sie. "Das sind die guten Zeiten. Wenn wir merken, dass andere bemerken. Und dann verschwinden wir in Phasen des Unsichtbarseins und bewegen nichts, berühren nichts. Doch manchmal entsteht aus dieser Leere etwas Lebendiges, jemand stolpert in unser Leben und horcht auf, ist empfänglich, da." Sie empfand Mitleid für den Tierkadavermenschen, der nicht roh wirkte, sondern wie eine groteske Fehlbesetzung. Wie sie, wie sie in dieser Onlineredaktion, die sie auf wenige Worte reduzierte, informieren mit wiederkehrenden Adjektiven, alles hatte "spannend" und "unvergesslich" zu sein, doch genau diese Wiederholung entlarvte, dass es nicht sein konnte, gelogen war, Wortwerbung, die Welt war voll davon.
Ihre Kollegen waren schon so lange in diesem Beruf, dass sie es nicht mehr bemerkten, sich damit identifizierten, vielleicht machte es ihnen Spaß, dieses Imperium der kurzen Sätze, aber sie korrigierte sich sogleich, als sie ins Gesicht der Abteilungsleiterin blickte, das leer und farblos nicht mehr war als das Ende eines Halses. Sie könnte dieses Gesicht mit Farbe füllen, es anstreichen für sich, aber sie wusste, dass es bei Menschen zwecklos war, die ihre Träume an der Wurzel ausgerissen hatten. Da war nichts Buntes mehr und nur Unverständnis für unkonventionelle Leute.
Unkonventionell fing hier schon damit an, ein T-Shirt mit auffälligem Muster in Rot und Orange zu tragen. Eine Farbigkeit, die versteinerte Blicke provozierte. Die Arbeitswelt als Gleichschaltzentrale. Dennoch gelang Rena heute ein Lächeln ob der Situation, in die sie sich hineinmanövriert hatte.
Vielleicht sollte sie sich als Spionin sehen, als Spionin, die den Werktag ausspionierte, indem sie sich ihm vermeintlich verbunden hatte.
Aber was war mit dem Tierkadavermenschen? So rot, so weiß, so still? Am nächsten Morgen, als er in der Metzgerei gegenüber dem alten Marktplatz sein Schwein abgeliefert hatte, fand er eine Kassette auf dem Fahrersitz. Auf der Hülle stand nur ein kurzer Satz: "Ich glaube, du brauchst dringend Musik." Er drehte sich um und sah Menschen über Croissants und Brötchen in einem Café sitzen, aber sie wirkten unbeteiligt und zu sehr mit sich beschäftigt, als dass die Kassette von ihnen hätte sein können. Ein junges Mädchen blätterte in einer Zeitung, braune fransige Haare umrahmten ihr feines Gesicht, sie war gefangen von dem, was sie las, warum auch sollte jemand wie sie jemandem wie ihm eine Kassette schenken? Es schien, als bescherten ihm die Tierausdünstungen allmählich Halluzinationen. Er legte den riesigen Schaltknüppel des Lieferwagens in den ersten Gang und fuhr an. Nachdem er sich in den fließenden Verkehr eingeordnet hatte und der Benzingeruch durch das heruntergekurbelte Fenster gelang, schob er die Kassette in den Rekorder und drückte auf "Play". Schleppende, melancholische Klänge füllten seine Fahrerkabine und vermischten sich mit dem Abgas, die raue, samtige Stimme des Sängers ging ihm durch Mark und Bein. Antoine fühlte sich an vergessene Welten erinnert, er trommelte den Takt auf dem Lenkrad, beim fünften Lied, was spanische Rhythmen fernab von Traurigkeit spielte, merkte er, dass er leise mitsummte. Und während er die restlichen toten Tiere bei den anderen Metzgern ablieferte, fragte er sich unablässig, wer ihm diese Kassette hingelegt hatte. Sie musste von einer Frau sein. Die Art, wie die Lieder gewählt waren, hatte etwas Weibliches. Fand er. Soweit er das noch zu beurteilen im Stande war.
Auch Rena legte eine Kassette ein, aber nicht, um sie zu hören, sondern um neue Stücke aufzunehmen. Die Verwunderung in Antoines Gesicht war ihr nicht entgangen, als dieser ihr Geschenk auf dem Fahrersitz gefunden hatte und sie hatte beschlossen, ihn mit kleinen Klecksen Farbe zu versorgen. Jeden Tag ein weiterer Klecks. Sie wollte beeinflussen, im positiven Sinne, und damit letzten Endes sich selbst retten, auch wenn ihr das nicht bewusst war.
"Das gibt es doch nicht!", entfuhr es Antoine. Auch an den folgenden Tagen lag wieder eine Kassette in seinem Auto, auf dem braunen Sitz, jedes Mal mit einem einzigen Wort: "Mehr." Aufmerksam guckte er sich die Gesichter im Café an, aber niemand ließ sich etwas anmerken. Das Mädchen saß auch meistens da, aber sie wirkte noch unbeteiligter als die anderen. Während Antoine in den ersten Wochen rätselte, von wem die Kassetten waren, begriff er irgendwann, dass es nicht darum ging, dies herauszufinden. Es ging um eine Botschaft, um mehr nicht. Doch als diese Botschaft mit dem Hören der Lieder nach und nach zu ihm durchsickerte, erkannte er, dass es viel und bedeutend war. Die Lieder versprühten Leben wie aus musikalischen Poren. Trauer, Freude, Glück, sämtliche Facetten waren darin, außer einer ­ Eintönigkeit. Doch das Schleppen der Tiere war eintönig. Es war mehr als das, es war erniedrigend.
Während er an den Tieren schleppte, die Musik im Ohr, wurde ihm bewusst, dass er noch empfinden konnte, begreifen konnte, sich noch etwas in ihm regte, und diese Kassetten wiesen ihm den Weg.
Rena wartete gespannt auf die Ankunft des Lieferwagens. Sie liebte es, Antoine (dessen Namen sie nicht kannte) zu beobachten, ohne erkannt zu werden. Sie hatte sich selbst zum Geheimnis gemacht und wollte es auch bleiben. Gewissermaßen benutzte sie den Tierkadavermenschen für ihre Zwecke, denn sie wollte sehen, wie sie mit subtil gewählten Mitteln ihre eigenen Emotionen in diese Welt transportieren konnte. Ihrem Werktag einen Sinn geben konnte. Sie erforschte Antoine wie ein Objekt. Ein Objekt, das ihr dennoch über alle Maßen sympathisch und vertraut geworden war. Mit ihm passierte etwas, die Teilnahmslosigkeit war aus seinem Körper gewichen und das gab ihr Kraft. Sie fühlte sich mächtig, wie jemand, der die Fäden in der Hand hielt, indem sie ihrem Leben eine weitere Ebene jenseits der Arbeit und ihren Freunden hinzugefügt hatte. Eine skurrile mystische Ebene, die sich beruhigend um sie stülpte. Denn sie gehörte nur ihr, ihr und diesem Tierkadavermenschen.
Die anderen Cafébesucher erlebten an diesem Morgen eine Szene, die wie ein Entgleiten von Fäden wirken musste. Für Rena war sie eine logische Notwendigkeit, die ihr in ihrer Heftigkeit Kraft geben würde, weitere Ebenen zu erproben. Vielleicht würde sie auch auf andere Autositze Kassetten legen, doch während sie das dachte, wurde ihr bewusst, dass es diese Geschichte nur einmal geben konnte, weil sie spontan entstanden war beim Anblick von Antoine, der dieses Verhalten aus ihr hervorgelockt hatte. Wie ein Köder war er jeden Morgen durch die Sonne gelaufen und ihre Phantasie hatte sich daran fest gebissen.
Zunächst deutete nichts auf eine Eskalation hin. Doch Rena spürte, dass an diesem Morgen ein Abschied bevorstand. Danach würde sie aufhören müssen, anderer Leute Leben zu verändern und ihrem eigenen Leben ins Gesicht sehen.
Antoine erschien, schulterte den leblosen Tierkadaver und lief seine gewohnten Schritte zum Metzger. Er wirkte gereizt, aber gefasst. Doch plötzlich, als er das zweite Schwein aufladen wollte, verlor er das Gleichgewicht und ließ los, um nicht selbst zu Boden zu gehen. Und aus der Gereiztheit wurde Wut. Er schaute auf den ausgerutschten Tod auf dem Asphalt und begann zu schreien: "Ich habe keine Lust mehr, es reicht, ein für alle Mal!" Und er tauchte tief ein in den Kühlschrank in seinem Auto und hievte ein totes Tier nach dem anderen heraus, raus in die Sonne, raus ans Licht, er türmte die roten Fleischmassen auf der Straße und schrie: "Ich mache das nicht mehr mit, besorgt Euch Euren Dreck alleine!"
Ein entsetztes Gewisper erhob sich über den Cafétischen wie ein verhaltener menschlicher Orkan, ob man so was schon mal erlebt habe, unerhört, aber Antoine brachte sie zum Schweigen, der hagere, gebückte Tierkadavermensch wuchs auf einmal über sich selbst hinaus und brüllte: "Wer von Euch möchte diese Arbeit machen, wer?", da verstummten sie, nach und nach, das Mädchen aber saß da und lachte, und als er ins Auto stieg, was nicht länger eine Stätte des Todes war, sah er sie im Rückspiegel noch immer lachen und rief ein "Danke!" in ihre Richtung. Ob sie es hörte, wusste er nicht, aber im Moment ihres Lachens wusste er, dass sie begriffen hatte, weil er begriffen hatte.
Rena sprach an jenem Nachmittag noch genau zwei Worte. Ernst blickte sie ins Gesicht ihrer Vorgesetzten und sagte: "Ich kündige." Ohne auf eine Antwort zu warten, zog sie die Glastür am Knauf hinter sich zu. Stufe für Stufe nahm sie das Treppenhaus, dann lief sie langsam in die Sonne hinaus.



Eingereicht am 03. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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