Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Eine Geschichte aus dem Hosensack (oder ein Schlüsselerlebnis)

© Jolanda Fäh-Weilenmann


Er drehte sich an seinem Metallring hängend immer wieder im Kreis herum, von links nach rechts und umgekehrt, wohl schon zum hundertsten Mal. Ihm war fürchterlich fad. Sein Dasein war ihm verleidet. Es ist zum Durchdrehen, dachte er, tagein, tagaus stecke ich in dieser dunkelgrauen Flanellherrenhosentasche. Jeden Tag dasselbe, maulte er, des Morgens werde ich in den Hosensack geschoben, des Abends für einen Moment herausgenommen, hinein ins Schlüsselloch, eine Umdrehung im Uhrzeigersinn und dann komme ich für die Nacht an den Haken. Jahr um Jahr war so dahingegangen, wie er sich eingestand ohne höheres Ziel und tieferen Sinn.
Eine Zeitlang hatte sich der Wohnungstürschlüssel sein Dasein versüsst, indem er sich Geschichten ausdachte. Er malte sich aus, wie es sein würde, wenn er einer vornehmen Dame gehörte. Er würde in einer Handtasche herumgetragen werden, philosophische Gespräche mit einem pinkfarbenen Lippenstift führen, mit dem goldenen Spiegeldöschen flirten, eine Packung Papiertaschentücher necken und sich bei Bedarf nach etwas Privatsphäre in sein kalbsledernes Etui zurückziehen. Oder er stellte sich vor, sein Besitzer wäre Entdecker. Statt ihn in einem finsteren Hosensack verschwinden zu lassen, würde ihn der Entdecker am Bund seiner Safarihose baumeln lassen. Hei, wie würde er da gegen den Metallring klimpern. Die Giraffen würden die Ohren spitzen, Büffelherden würden in Unruhe geraten und durch die Steppe donnern, Löwen würden Angst bekommen und das alles wegen ihm, dem Wohnungstürschlüssel. So und ähnlich hatte er sich die Tage totgeschlagen. Doch mit der Zeit kamen ihm diese Was-wäre-wenn-Geschichten schal und leer vor und die Ödnis seiner Tage wurde ihm nur noch deutlicher bewusst. So war es abwärts mit ihm gegangen: seine Lebensgeister waren ihm abhanden gekommen, er fühlte sich seit Wochen elend und rund um seinen Bart war er ganz grau und spitz geworden.
Und dann geschah es. Es sei dahingestellt, ob es nun an seinem beklagenswert spitzen Zustand lag oder ob die Hose einfach alt und durchgewetzt war - Tatsache ist, dass der Hosensack eines Tages ein Loch hatte, was vom Träger dieses Kleidungsstücks, der nebenbei gesagt als Kassier bei der lokalen Bank arbeitete, nicht bemerkt wurde, ja überhaupt scheint uns, dass dieser Herr wenig sensibel war, sonst hätte er den armen Schlüssel wohl kaum über Jahre so rücksichtslos behandeln können. Er ist mithin kein Einzelfall, denn es ist wohl eine bedauerliche Unsitte unserer Zeit, dass Schüsselbesitzer, seien sie männlichen oder weiblichen Geschlechts, Angestellte oder Selbständigerwerbende, wohlhabend oder von geringem sozialen Status, an das Wohlbefinden ihrer Schlüssel kaum einen Gedanken verschwenden. Wehe aber, wenn so ein Schlüssel abhanden kommt. Was ist das dann für ein Gerenne und Geschrei, der heilige Antonius wird angerufen und bestochen, mit ihm alle anderen Heiligen, Kerzen werden geopfert, Stossgebete zu allen Himmel geschickt, ja sogar der Teufel kommt ins Spiel, das ganze Haus wird auf den Kopf gestellt und die nähere und weitere Bekanntschaft und Verwandtschaft belästigt oder gar verdächtigt. Und genau so machte es unser Bankangestellter, als ihm klar wurde, dass er seinen Schlüssel verloren hatte, doch lassen wir ihn suchen, beten und fluchen und wenden uns wieder dem Schlüssel zu.
Dieser lag in einem Rinnstein, denn dorthin war er gefallen an jenem sonnigen Frühlingsmorgen, während der Beamte auf dem Weg zur Arbeit frohgelaunt dahinging und dazu ein Liedlein pfiff. Denn eigentlich war es durchaus ein erfreulicher Anlass, welcher den Schlüssel ins Fallen brachte, jedenfalls für den Sozialbeamten. Wie er nämlich so ging, schenkte ihm das Fräulein Isabelle aus dem Schuhgeschäft ein Lächeln, so dass dem Bankangestellten nach einem kleinen Hüpfer zumute war, er einen solchen auch riskierte - und genau in diesem Moment fiel der Wohnungstürschlüssel durch das Loch im Hosensack und rutschte in den schon erwähnten Rinnstein. Hier lag er also zitternd, die Augen weit aufgerissen. Er empfand seine neue Situation alles andere als angenehm. Ihn überwältigte eine Höllenangst, denn er lag am Rande einer der meist befahrenen Chausseen der Stadt, ohne Unterlass donnerten Autos, Motorräder und Lastwagen an seinem Kopf vorbei.
Ein städtischer Strassenkehrer rettete den Schlüssel aus seiner misslichen Lage. Gewiss nichts als ein glücklicher Zufall - der Strassenkehrer hätte an diesem Tag ebenso gut einen anderen Rinnstein fegen können, es gab genug davon in dieser Stadt, doch auch die Stadt arbeitet heutzutage nach einem ausgeklügelten System und gemäss diesem System war heute auf dem Strassenkehrer-Dienstplan der Chaussee-Rinnstein an der Reihe. So gelangte der Schlüssel zusammen mit leeren Bierdosen, fauligem Laub, Kaugummipapierchen und was derlei noch mehr auf den Strassen herumliegt auf eine Schubkarre. Durch die halbe Stadt wurde er geschoben und dennoch sah unser Schlüssel nichts von ihren Sehenswürdigkeiten, weil er, wie es so Art von Metallgegenständen ist, durch sein eigenes Gewicht immer tiefer rutschte, bis er schliesslich ganz unten landete, unter sich nichts als die Holzplanken des Karrens, über sich der ganze Rinnsteindreck, neben sich eine Münze, die von sich behauptete ein Euro aus Frankreich zu sein und ganz pikiert dreinschaute. Der Schlüssel versuchte, mit dem Euro ein Gespräch zu führen, vergeblich, der Euro dachte nicht daran, Konversation zu führen. Erst als ihn der Schlüssel in seinem besten Schulfranzösisch bat, ihm doch etwas über Paris zu erzählen, taute der Euro auf und begann zu erzählen, des Langen und Breiten berichtete er von Paris und seinen Alleen, seinen Pferderennbahnen, seiner Kultur. Bedauerlicherweise verstehen sowohl wir als auch der Schlüssel zu wenig Französisch, um diesen Vortrag in seiner Gelehrsamkeit und all seinen Details würdigen zu können, so dass wir darauf verzichten wollen, überhaupt eine Übersetzung zu versuchen. Wir werden davon auch deshalb absehen, weil nämlich das Erlebnis unseres Schlüssels weitergeht und zwar folgendermassen:
Der Strassenkehrer ist ein armer und notgedrungen sparsamer Mensch und hofft jeden Tag, einen Schatz zusammenzukehren, beispielsweise ein Bündel Hunderternoten, das ein Bankräuber aus Versehen fallengelassen hätte. Wegen dieser seiner Hoffnung auf einen Schatz untersucht er den Inhalt seines Karrens jeweils gründlich, bevor er ihn das Bachbord hinunterschüttet, wo der Dreck bei genügend hohem Wasserstand vom Stadtbach fortgetragen wird, hinab zum grossen Fluss und dann hinaus aufs Meer. Heute hat der Strassenkehrer Glück: Zwar ist kein Bankräuber so dumm gewesen, seine Beute in den Rinnstein zu werfen, doch findet er immerhin den Euro, französisch zwar, aber hinten und vorne Euro, und den steckt er lächelnd in seine Geldkatze, wo sich keine weitere Gesellschaft befindet. Nicht dass das den französischen Euro gestört hätte. Er ist immer noch am Erzählen, hat die Geschichte von Paris jetzt ausgedehnt auf die Banlieus und deren Probleme, streift kurz durch die Gärten von Versailles und langt in den Provinzstädten an, Bordeaux, Lille, Grenoble. Der Strassenkehrer kehrt sich keinen Deut um den Exkurs seines Euros, er lässt ihn schwatzen, schliesslich ist er wegen seines Fundes freudig und nachsichtig gestimmt, er hat immer schon gewusst, es lohnt sich, den Kehricht genauer zu untersuchen, die Leute werfen heutzutage alles weg, schmeissen mit dem Geld um sich, aber er trägt Sorge zu den Dingen und deshalb steckt er den Schlüssel in die Brusttasche seines blauen Übergewands. Der Schlüssel weiss nicht recht, soll er mit dieser Wendung seines Schicksals zufrieden sein. Immerhin, so sagt er sich, kommt er von einem Hosensack in eine Brusttasche, er ist demnach auf dem Weg nach oben. Andererseits findet er, hätte er Besseres verdient, als in der Brusttasche eines städtischen Strassenkehrers zu landen. Aber, das muss er sich dann doch eingestehen, er kommt in der Stadt herum und er kann den Ausflug vollauf geniessen, hat er doch durch ein kleines Brandloch in der Brusttasche eine wunderbaren Ausblick auf die vorbeihastenden Menschen, gelegentlich auch auf den Strassenteer und die Schubkarre des Strassenkehrers, seinen riesigen Besen und die dazugehörige Schaufel und schliesslich kann er auch noch einen Blick auf den geschichtlich betrachtet wertvollen Stadtbach werfen. Richtig, es handelt sich eben gerade um jenen Stadtbach, der sich im Mai 1276 in einen reissenden Fluss verwandelte und dergestalt die Bewohner der Stadt vor einem räuberischen Überfall rettete - diese Tatsache ist verbrieft, doch weiss unser Schlüssel von solchen haarsträubenden Hintergründen nichts - immerhin spürt er beim Anblick des Wässerchens etwas von dessen historischer Bedeutung, ein leichtes Schaudern packt ihn, womit hinlänglich bewiesen sein dürfte, welch hoch entwickeltes Gefühlsleben Wohnungstürschlüssel haben können.
Gegen Abend fährt der Strassenkehrer seinen Karren in ein Depot am Stadtrand. Danach wendet er sich schnurstracks einer Kneipe zu, wo er den französischen Euro gegen einen Becher Apfelwein eintauscht. Der Schlüssel vernimmt noch, wie der Euro ein entsetztes Degoutant von sich gibt. Adieu mon cher, ruft ihm der Schlüssel hinterher, doch ist nicht sicher, ob die Münze den Ruf vernommen hatte.
Nun, nach einem tüchtigen und wohl verdienten Schluck Apfelwein erinnert sich der Strassenkehrer des Schlüssels und fischt ihn aus der Brusttasche. Er spielt ein wenig mit ihm, sinniert wohl, wer ihn verloren haben könnte und wie der Betreffende heute in seine Wohnung kommt, so gänzlich schlüssellos. Schliesslich zuckt er die Achseln, trinkt seinen Becher leer, steht auf und macht sich auf den Weg nach Hause. Den Schlüssel hat er auf dem Tresen liegengelassen. Hier neben dem leeren Becher findet ihn der Kellner. Das da hat einer liegenlassen, ruft er zu Marie, der Bardame, hinüber und wirft ihr den Schlüssel zu. Marie fängt mit der Linken auf, öffnet mit der Rechten eine Schublade und entnimmt ihr eine alte Zigarrenkiste. Hier hinein wirft sie den Schlüssel und die Kiste wandert unverzüglich wieder in die Lade, doch lässt Marie die Lade unachtsam einige Zentimeter weit offen stehen - sie wird sich zehn Minuten später daran einen blauen Fleck am Oberschenkel holen, was zwar nichts mit unserem Schlüsselerlebnis zu tun hat, aber für Marie äusserst unangenehm und schmerzhaft ist, und wenn sie neben einem Schmerzensschrei noch einen heftigen Fluch ausstösst, so sollten wir nachsichtig sein, denn auch ihre Strümpfe sind hin -, gerade hell genug ist es in der Kiste, dass sich unser Schlüssel ein wenig umschauen kann. Die Zigarrenkiste ist voller alter Schlüssel: Schlüssel mit Bärten, Schlüssel mit Rostflecken, Kofferschlüsselchen, Fahrradschlüssel. Sogar einen Tresorschlüssel ist dabei. Und alle starren sie ihn an, die einen feindselig, die meisten nur neugierig. Ein Raunen geht durch die Zigarrenschachtel. Seht nur, ein Neuer, ein Neuer. Jemand sagte: Nichts als ein gewöhnlicher Wohnungsschlüssel. Ein mächtiger Bartschlüssel drängt sich durch die Menge. Willkommen bei uns, sagte er mit tiefer Stimme. Du bist neu hier, also erkläre ich dir die Regel. Für heute darfst du dich in jenen Winkel dort zurückziehen und ausruhen. Morgen früh jedoch bist du dran. Dran? Dem Wohnungstürschlüssel will mulmig werden. Der Bartschlüssel fährt fort. Ja, wir leben hier gänzlich abgeschieden. Wir warten hier in dieser Kiste auf jemanden, der uns abholt. Doch nichts geschieht. Viele von uns sind schon seit Jahren hier. Ab und zu kommt ein Neuer. Dann muss er uns von der Welt draussen erzählen. Du bist jetzt der Neue - du wirst uns berichten, was du erlebt hast. Du hast doch etwas erlebt? Der Bartschlüssel mustert den Neuling. Etwas in seiner Stimme und den drohenden Blicken seiner neuen Mitbewohner lässt den Wohnungsschlüssel eilfertig nicken.
Sicher, sagt er, ich habe einem grossen Entdecker gehört und ausserdem einer sehr vornehmen Dame.
Mit einem Fluch wird die Schublade zugeschmettert und es wird dunkel in der Kiste…



Eingereicht am 02. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Naturgedichte «««
»»» HOME PAGE «««