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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Flüchtig wie ein Traum
© Carola Schmidt
Grelles Licht strahlt von einer weißen Decke auf die Menschen im Raum herab. Der Geruch von Desinfektionsmitteln liegt im Zimmer und erfüllt die saubere Luft. Kleine Geräte rattern ganz leise vor sich hin.
Einer der eben noch schlafenden Männer öffnet plötzlich die Augen und blinzelt. Gleißende Lichtstrahlen fallen in sein Auge und er hält schon bald seine Hand vor sein Gesicht. "Wo bin ich", flüstert er und hustet leicht. Er nimmt die Hand von seinem Gesicht fort und versucht sich langsam in dem Raum umzusehen. Doch sobald er versucht, seinen Kopf zu drehen, stöhnt er vor Schmerzen und Tränen treten in seine geröteten Augen. Er atmet schwer.
Langsam hebt er das Laken, das seinen Körper bedeckt, an und betrachtet es ungläubig. Es ist weiß und wirkt ein wenig verknittert. "Wo bin ich", fragt er, diesmal verzweifelter. Er rollt seine Augen, so dass er den jungen Mann ansehen kann, der an einem der Betten neben ihm sitzt und einem älteren Mann die Hand hält. Der Junge sieht ihn unschlüssig an, blickt sich nervös um, doch niemand sonst scheint in der Nähe zu sein.
"Wo bin ich", fragt der liegende Mann noch einmal. Nun blickt der Junge ihn an.
"Im Krankenhaus", flüstert er ganz leise, und rückt etwas näher an den alten Mann heran, dem er immer noch die Hand hält.
"Aber wieso ..." Der Mann versucht sich aufzurichten, doch er schafft es nicht einmal seinen Kopf anzuheben. Die Decke rutscht und seine Arme werden entblößt. Der Junge erkennt Schürfwunden und blaue Flecken auf der blassen Haut.
"Ein Unfall?", fragt der Junge noch leiser.
"Ein Unfall?", wiederholt der Mann. "Wieso ein Unfall ..."
"Sie sind verletzt, an den Armen ...", antwortet der Junge.
"Verletzt ...." Der Mann starrt an die Decke. "Ich kann mich nicht erinnern .... an gar nichts mehr ..."
"Wie der Unfall geschehen ist ...?", fragt der Junge und nähert sich dem Mann vorsichtig.
Der Mann presst die Lippen aufeinander und schaut den Jungen erneut an. "An gar nichts ... an absolut gar nichts ..."
Der Junge scheint verwirrt zu sein. "An gar nichts? Und ihre Vergangenheit?"
"Doch ...", sagt der Mann auf einmal und reißt seine Augen auf.
"Also doch?"
Dem Mann stehen Tränen in den Augen. "Ich kann mich an eine Person erinnern ... ein Gesicht ..."
"An wen?"
"Ich weiß nicht ... nur ein Gesicht ... eine wunderschöne Frau ..."
Der Junge schluckt. "Ihre Freundin?"
Der Mann runzelt die Stirn. "Ich weiß nicht ... sie scheint so fern zu sein, als ob ich sie nie ... nie auch nur berühren könnte ..."
"Was?" Der Junge lässt die Hand des alten Mannes in dem anderen Bett los und setzt sich auf die Bettkante des Fremden.
Der Mann sieht den Jungen mit müden Augen an. "Sie scheint so nah und doch so fern ... und sie ist schön ... sie ist die Einzige ... das Einzige, an das ich mich erinnern kann."
Der Junge verengt die Augen. "Wie sieht sie denn aus?"
Der Mann schweigt für eine Weile. Ungeduldig ergreift der Junge das Bettlaken und presst es zwischen seiner Hand zusammen. "Ja ...", sagt der Mann plötzlich und schweigt erneut.
"Sie hat ein ebenes Gesicht, vollkommen eben, ohne eine Falte, ohne Unreinheiten. Ihre Augen sind strahlend blau, so wie ihr Haar ..."
"Sie meinen, sie hat blaues Haar?" Der Junge blinzelt ungläubig.
Der Mann versucht zu Nicken. "Ja, ein kaltes Blau ... sie trägt eine strenge Frisur und sie lächelt nicht ..."
Der Junge rückt etwas von dem Mann fort. "Blaues Haar? Meinen Sie, gefärbtes Haar?"
Der Mann schüttelt leicht den Kopf, begleitet von einem schmerzhaften Stöhnen. "Nein, es sieht natürlich aus. Sie ist wie ein ... ein Engel ..."
Der Junge steht ruckartig von der Bettkante auf und sieht unschlüssig auf den Mann herab. "Ich ... ich glaube, ich muss nun gehen ... es ist schon spät."
Der Mann blickt ihn von der Seite an, ohne den Kopf zu drehen. "Kannst du ... Kannst du sie für mich finden?"
Der Junge faltet nervös seine Hände. "Wenn ich sie sehe ... dann kann ich es ihr ja sagen ... dass sie hier im Krankenhaus sind. OK?"
Der Mann lächelt leicht. "Ja, vielen Dank. Ich glaube, dass sie die Antwort hat."
"Die Antwort?"
"Auf so viele Fragen ... Sie wird wissen, wer ich bin. Ganz sicher. Denn sie ist das Einzige, an was ich mich erinnere."
Der Junge nickt heftig, um den Mann zu unterbrechen. "Ja, ist gut ... Dann, tschüs!"
Der Junge hebt die Hand und verabschiedet sich. Er geht noch einmal zu dem alten Mann, an dessen Bett er soeben gestanden hat, und streicht ihm über das Haar. Dann verlässt er den Raum.
Auf dem Flur bleibt er kurz stehen und atmet tief ein. Er sieht die weißgekleideten Schwestern mit ernstem Blick an und geht schließlich schnell über den Gang. Zittrig drückt er am Ende des Ganges einen der Knöpfe am Aufzug, der in das Erdgeschoß führt, und begibt sich kurze Zeit später hinein. Als der Aufzug unten angekommen ist, läuft der Junge durch den Flur, ohne auf die anderen Menschen zu achten.
Außerhalb des Gebäudes verlangsamt sich sein Schritt. Beruhigt geht er über den großen Autoparkplatz neben dem Krankenhaus und setzt seinen Weg in Richtung des Bahnhofs fort, auf dem regelmäßig die Züge zu dem Stadtteil fahren, in dem er wohnt. Eine Treppe führt zu seinem Bahnsteig. Der Junge nimmt den beißenden Geruch von Urin wahr, während er die Treppe hinaufsteigt. Angewidert beschleunigt er seinen Schritt. Die Treppe ist schmutzig und der Junge bemüht sich, dem Abfall, der sich hier angesammelt hat, auszuweichen.
Erleichtert betritt der Junge den Bahnsteig. Hier ist die Luft schon frischer. Sein erster Blick fällt auf die Anzeigetafel. Dort steht: Außer Betrieb!
Der Junge runzelt die Stirn und blickt sich um. Plötzlich ertönt eine Stimme aus einem der Lautsprecher: Sehr geehrte Fahrgäste, aufgrund eines Unfalls werden auf Gleis 6 heute keine Züge mehr einfahren. Begeben Sie sich bitte zu den folgenden Gleisen: Der Zug nach ...
Der Junge tritt an den Rand des Bahnsteigs und blickt auf die Gleise herunter. Dort sieht er eine kleine Absperrung mit rot-weiß-gestreiften Bändern. Er kaut auf seiner Unterlippe. Dann blickt er auf und zuckt plötzlich zusammen. Sein Blick fällt auf ein Plakat auf der gegenüberliegenden Seite des Bahnhofs. Es ist ein Werbeplakat. Im Vordergrund ist ein moderner Computer zu sehen. Im Hintergrund steht eine Figur: Miss Cyber, wie es dort heißt. Sie hat ebenmäßige Züge, eine strenge Frisur, und Augen, so strahlend
blau wie ihre Haare.
Eingereicht am 02. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.