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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Grenzerfahrung
© Mario Siegesmund
Herr Schulz war sich nicht sicher, was ihn letztendlich dazu bewogen hatte den Mann anzusprechen. Es waren mehrere Faktoren, die hier zusammenspielten.
Erst einmal war es laut Wetteramt der wohl letzte Sommertag und alles, was sich durch die Fußgängerzone bewegte, war luftig angezogen. Auch Herr Schulz hatte sein Jackett ausziehen müssen, um sich der Hitze nicht kampflos zu ergeben und jetzt trug er es auf dem Unterarm spazieren. Außerdem hatte er noch Zeit, da seine Frau erst gegen Nachmittag in der Galerie fertig sein würde. Und er war bereits dreimal an den großen Schaufenstern der Geschäfte vorbeigeschlendert, obwohl er schon bei ersten Mal wusste, dass
er heute doch nichts kaufte. Das alles hatte wohl zu gleichen Teilen beigetragen, dass Herr Schulz den Mann vor dem Supermarkt ansprach. Ob er Hunger habe, hatte er ihn gefragt und dann für einen langen Moment in sein verwirrtes, haariges Gesicht geblickt, aus dem keine Antwort kam. Der Mann war es sicher nicht gewohnt einfach so angesprochen zu werden. Normalerweise gingen die Leute mit starrem Blick an ihm vorbei und dann und wann warf einer von ihnen ein paar Geldstücke in seine Pappschale möglichst ohne ihn
dabei anzusehen.
Schließlich fragte Herr Schulz ihn noch einmal und jetzt verstand der Mann, denn er nickte, wobei er sich mit dem Handrücken über den Mund wischte. Aber als Herr Schulz ihm sagte, er wolle ihn zum Essen einladen, schien der Ausdruck auf seinem Gesicht noch verwirrter und haariger zu sein als vorher.
"Verstehen Sie mich nicht falsch", erklärte Herr Schulz "ich gebe Obdachlosen grundsätzlich kein Geld. Aber ich würde Ihnen gerne für heute helfen, indem ich Sie zum Essen einlade. Was sagen Sie dazu?" Diese Erklärung schien der Mann gebraucht zu haben, denn der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht verschwand.
"In Ordnung", sagte er und griff seinen großen Rucksack, den er hinter sich auf das Pflaster gelegt hatte.
"Ich schlage vor wir gehen in das Lokal am Ende dieser Straße", sagte Herr Schulz. "Die haben dort eine gutbürgerliche Küche. Sie haben doch bestimmt nichts gegen Erbsensuppe, oder?"
"Erbsensuppe hört sich gut an", erwiderte der Obdachlose und schwang den schweren Rucksack über seine Schulter.
Auf ihrem kurzen Weg stellte Herr Schulz fest, dass der Mann nicht torkelte und seine Kleidung zwar zerknittert und lang getragen aussah, aber nicht verdreckt. Er war zu warm angezogen für die Jahreszeit, aber der Grund war wohl der, dass in seinen Rucksack kein Kleidungsstück mehr hineinpasste.
Im Lokal gab es dann den kurzen Augenblick zwischen der Bedienung und dem Obdachlosen, in dem beide nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten.
Sollte sie ihm die Tür weisen? Sollte er sich einen möglichen Rauswurf sparen und lieber von alleine gehen? Herr Schulz las genau diese Fragen in den Blicken der beiden.
"Wir hätten gern einen Teller von ihrer vorzüglichen Erbsensuppe", sagte er und nickte dabei dem Obdachlosen zu.
Der tat es ihm gleich und nickte der Bedienung zu. Und die nickte schließlich ihrem Notizblock zu, den sie sich vor die Nase hielt, um die Bestellung aufzunehmen. Ob es denn etwas zu trinken dazukäme, wollte sie noch wissen und Herrn Schulz war dabei ihr abschätzender Blick in Richtung des Obdachlosen sehr wohl aufgefallen.
"Ich nehme ein Mineralwasser", sagte dieser ohne den Ansatz eines Zögerns.
"Das bekomme ich auch", sagte Herr Schulz und jetzt war es an ihm, einen abschätzenden Blick in Richtung der Bedienung zu werfen, die sich sehr schnell auf den Weg in die Küche machte.
"Ach entschuldigen Sie, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Schulz, Anton Schulz. Ich finde man sollte wissen, mit wem man zusammen zu Mittag isst, oder nicht? Und wie ist ihr Name?"
"Also eigentlich Braschner, Hans Braschner", antwortete der Obdachlose und er sprach seinen Namen so aus wie ein Fremdwort, das er lange nicht mehr benutzt hatte. "Aber auf der Straße nennen mich alle Groschen."
"Wirklich? Gab das keine Probleme mit der Euro-Umstellung?", fragte Herr Schulz verwundert und sah zum ersten Mal seit ihrer Begegnung den Anflug eines Lächelns auf dem Gesicht des Obdachlosen.
"Sie haben es versucht, aber den Namen habe ich jetzt schon fünfzehn Jahre und ich reagiere auf was anderes schon gar nicht mehr. Erst recht nicht auf Cent oder so'n Quatsch."
Die Erbsensuppe kam und schmeckte beiden richtig gut. Und auch wenn Herr Schulz noch zahlreiche Fragen hatte, wollte er den hungrigen Mann nicht vom Essen abhalten. Und lange musste er auch nicht warten, denn Groschen hatte seine Suppe in atemberaubender Geschwindigkeit verputzt und schob den leeren Teller von sich, als Herr Schulz noch mit Löffelpusten beschäftigt war.
"Erzählen Sie doch mal ein bisschen von sich", forderte er den Obdachlosen auf und pustete dann wieder auf seine Suppe.
"Ach, das ist die gleiche Geschichte wie immer. Nichts Aufregendes."
Herr Schulz hätte wissen müssen, dass dieses Thema unangenehm war und beließ es dabei. Stattdessen wollte er wissen, ob er am nächsten Samstag wieder in der Stadt anzutreffen sei.
"Ich bin jeden Samstag in der Stadt - gibt den meisten Umsatz", antwortete Groschen und nahm den letzten Schluck aus seinem Wasserglas.
"Was halten Sie davon, wenn wir das hier in der nächsten Woche wiederholen?"
Fast wäre Groschen wieder in seinen verwirrten Gesichtsausdruck verfallen, aber er bremste sich noch im letzten Moment, denn er hatte ja an diesem Tag dazugelernt.
"Ja, klar", sagte er, "Wieso nicht."
Sicherlich hatte er nicht unbedingt damit gerechnet, dass Herr Schulz in der nächsten Woche tatsächlich wieder vor dem Supermarkt erschien, aber fast genau zur gleichen Uhrzeit stand er vor ihm und hielt einen riesigen Schirm in seiner Hand, der beide auf ihrem Weg zum Lokal vor dem Regen schützte, der schon en ganzen Tag vor sich hinprasselte.
Beide aßen wieder die Tagessuppe. Diesmal waren es Bohnen. Dabei unterbot Groschen seinen Geschwindigkeitsrekord aus der Vorwoche. Allerdings ließ seine Gesprächigkeit nach wie vor zu wünschen übrig. Er antworte auf Fragen nur sehr knapp und allgemein und Herr Schulz fragte sich, ob man jegliches Vertrauen verlor wenn man erst mal so lange auf der Straße gelebt hatte wie er. Er fand, dass er mit gutem Beispiel vorangehen musste und erzählte einfach von sich, seiner Arbeit, seiner Familie, seinen Enkelkindern.
Und Groschen saß da und hörte einfach zu. Sie verabschiedeten sich erst, als es aufgehört hatte zu regnen. Allerdings nicht ohne sich für die kommende Woche wieder zu verabreden.
Und so wurde ihr Essen zu einem samstäglichen Ritual. Herr Schulz übernahm dabei immer die Rechnung und meistens das Reden. Wenn seine Frau mal wieder einen verrückten Maler unter ihre Fittiche nahm und ihm damit die ganze Woche in den Ohren lag, war es Groschen, dem er es erzählte. Sich bei diesem Thema einem Freund oder gar einem Familienmitglied anzuvertrauen, wäre ganz und gar selbstzerrstörerisch gewesen. Und Groschen wusste, dass man von ihm alles andere als gute Ratschläge für das Führen einer Ehe in der
gehobenen Mittelklasse verlangte. Er selbst hatte seiner Auffassung nach nicht so ein aufregendes Leben mit Familienfesten, Ausstellungen, Ferienhäusern und Eheberatungen.
Nur einmal schien er einen redseligen Tag erwischt zu haben.
"Leben Sie eigentlich schon ihr ganzes Leben hier im Ruhrgebiet?", hatte Herr Schulz ihn gefragt und eine gewohnt einsilbige Antwort erwartet.
"Nein, geboren wurde ich in Hamburg. Aber da bin ich vor 10 Jahren weg. Als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde."
"Was war denn passiert", fragte Herr Schulz und war froh in endlich mal aus der Reserve gelockt zu haben.
"Die haben mich damals übel zugerichtet. Schädelbruch und so weiter. So ist das im Winter wenn du plötzlich im falschen Viertel auftauchst und Sachen hast, die deine Kollegen auch gerne hätten."
"Sie meinen Sie sind von Obdachlosen überfallen worden?"
"Penner sind auch nur Menschen sage ich immer und das gilt für gute Eigenschaften genauso wie für schlechte. Aber wenn ich damals nicht so gesoffen hätte wäre das alles nicht passiert.
"Trinken Sie deshalb keinen Alkohol, wenn wir hier essen?"
"Als ich damals nach drei Monaten aus dem Krankenhaus entlassen wurde, waren zwei Sachen für mich klar. Raus aus Hamburg und weg von der Flasche. Und das mit der Flasche habe ich jetzt seit über zehn Jahren so beibehalten."
"Und das mit Hamburg? Haben Sie denn vielleicht noch Familie dort?"
"Soweit ich weiß lebt meine Schwester noch da. Sie konnte mir damals nicht helfen. Wie sollte sie es heute. Schon alleine wegen ihrem Mann. Dabei war der einzige Unterschied zwischen ihm und mir, dass er Arbeit und eine Wohnung hatte. Gesoffen hat er mindestens genauso wie ich. Aber er hat meiner Schwester den Umgang mit mir verboten. Aber das ist auch nicht mehr wichtig. Mir tut es nur um die Stadt Leid. War immer schön da. Sicher ist der Sommer überall schön, aber in der Sonne an der Alster lang is´ doch
am schönsten. Na ja, auf jeden Fall bin ich eben hier gestrandet und schlage mich so durch."
In dieser Nacht lag Herr Schulz noch lange wach und dachte über das nach, was ihm Groschen von sich erzählt hatte. Was wäre wohl passiert, wenn es ihn mal so getroffen hätte? Hätte er sich auch so durchschlagen können? Er fand natürlich keine Antworten aber war froh, zum ersten Mal in seinem Leben diese Fragen überhaupt zu stellen. Auf einmal kam ihm sein Leben mit all den Kleinigkeiten, die ihn bis jetzt den Tag hätten vermiesen können, so gewöhnlich vor. Trotz der verrückten Maler und der Eheberatung.
In der nächsten Woche sah Herr Schulz Groschen zum letzten Mal. Wie gewohnt trafen sich beide am Supermarkt und gingen dann in ihr Lokal, wo die Bedienung mittlerweile beide herzlich grüßte. Als Herr Schulz nach dem Essen von der Toilette zurückkehrte, war der Stuhl, auf dem Groschen gesessen hatte leer. Niemand hatte gesehen, wie er das Lokal verließ. Auch die Bedienung nicht. Als Herr Schulz die Rechnung zahlen wollte, bemerkte er, dass in seinem Portmonee alle Geldscheine fehlten. Er hatte es während des Essens
in seinem Jackett gelassen, das über seinem Stuhl hing. Sein Kleingeld reichte gerade um alles zu bezahlen. Danach ging er wieder zum Supermarkt, aber Groschen war nicht zu sehen. Herr Schulz suchte ihn in der ganzen Innenstadt aber ohne Erfolg. Erst war er wütend. Darüber, dass er sein Portmonee in seinem Jackett gelassen hatte, darüber, dass er diesem Mann vertraut hatte, darüber, dass er ihn überhaupt angesprochen hatte.
Nachdem er aber eine ganze Weile die Fußgängerzone abgesucht hatte wurde ihm klar, dass er Groschen nicht finden würde. Nicht heute, nicht morgen, nicht in einer Woche. Ihre gemeinsame Zeit war vorbei. Jeder musste wieder seinen Weg gehen. Und Herr Schulz wusste, dass Groschen es mit seinem Geld mindestens bis Bremen schaffen würde.
Eingereicht am 01. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.