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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Drei Geschenke

© Ilse Radenberg


Erstes Geschenk
Man bekommt viele Geschenke. Meistens erhält man sie, ohne damit gerechnet zu haben.
Ich bin sehr gerne zur Schule gegangen. Als Lehrerin. Immer war es eine herrlich auf Gegenseitigkeit beruhende Kameradschaft. Ich liebte alle meine Schüler, jeden einzelnen. Und dann kam Achim. Er schien alles andere als ein Geschenk zu sein. Er war zu spät eingeschult und sitzen geblieben, den Klassenkameraden an Größe und Körperkraft überlegen. In der Pause pflegte er meine übrigen Schüler zu verdreschen. "Achim", sagte ich zu ihm, "das ist unfair. Du bist viel stärker als die anderen, das sind keine Gegner für dich". Er sah das ein, "aber die ärgern mich immer".
"Hört mal", fragte ich die anderen, "warum beschimpft ihr den Achim?"
"Der ist doof, der kann nicht lesen":
"Könnt ihr denn alles?"
"Hm, hm."
Ich in der nächsten Lesestunde leise flüsternd zu Achim: "Du übst jetzt den letzten Absatz. Ende der Stunde rufe ich dich auf." Als Achim dann an die Reihe kam, war alles vor Vorfreude leise. Aber die Vorfreude war umsonst: Er las ohne zu stocken, fuhr nur aufgeregt mit dem Finger unter den Zeilen her. Erstaunt und etwas enttäuscht sahen sich die Mitschüler an. Die Prozedur wiederholte sich nun in allen Lesestunden. Keiner verdrosch mehr, keiner lachte aus.
Dann erkrankte die Turnlehrerin, ich musste den Sport übernehmen. Der Achim war ja ein Ass! Ich ließ ihn dort vorturnen, und alle sahen bewundernd zu.
Einige Zeit später auf dem Schulhof fühlte ich eine warme Kinderhand in der meinen. Achim sah nun die Welt mit anderen Augen: "Du, Lehrerin", erzählte schüchtern Achim, "ich habe heute Nacht von dir geträumt. Du warst ein Schwan und wir waren alle deine Kinder. Mir war so furchtbar kalt. Da hast du mich unter deine Flügel genommen, und ich hab nie mehr gefroren."
Vor Rührung habe ich beinahe geweint. Wenn das nicht ein echtes Geschenk war!

Zweites Geschenk
Ein zweites Geschenk ereignete sich Jahre später. Wir wohnen in einer einsamen Gegend direkt am Wald. Unter uns, im Souterrain, hatten wir einen sehr sympathischen jüngeren Mieter. Selbst unser Hund hatte ihn gern. Wenn mein Mann verreist war, sprang unser Hund jeden Abend die Treppen hinunter, um sich bei ihm auszuweinen, "Mäuschen", tröstete er dann unseren sehr selbstbewussten Irish Terrier, "Mäuschen, dein Herr kommt ja bald wieder". Worauf das "Mäuschen" dann ein Riesengeheul ausstieß und mit einem Keks im Maul entschwand. Ansonsten besuchte Jerry seinen zweibeinigen Freund täglich ohne Geweine.
Doch dann musste unser Mieter Hals über Kopf ins Krankenhaus. Jerry lief unentwegt zu dessen Etagentür, um anschließend in den Garten durch die Glastüre zu sehen. Er untersuchte die Türen über Wochen. Plötzlich fanden wir Jerry merkwürdig still. Er lief nicht mehr nach unten. -- Unser Hund wusste, dass sein Freund gestorben war.
Jerry war ein rüstiger alter Herr, aber der Tierarzt hatte ihn falsch behandelt. Einige Wochen nach unseres Mieters Tod starb auch er.
In unserem Haus war es unendlich still. Niemals mehr das freundliche Lachen unseres Mieters und seine leichten Schritte, niemals mehr das vertraute tapp-tapp unseres geliebten beinahe vierzehnjährigen Hundes, der ein Teil unseres Lebens geworden war. Ich fühlte mich unendlich traurig, und alles war nur noch dunkel und grau.

Drittes Geschenk
Gerade zu dieser Zeit gab es ein neues Geschenk. Ein ganz großes Geschenk. Wir haben eine Tochter, doch sie wohnte schon seit Jahren weit weg: Erst die Zeit des Studiums, dann die Arbeit in Amerika, schließlich zehn Jahre Berlin. Wir sahen uns nur selten.
Plötzlich ein Anruf: Sie würde sich jetzt endgültig in Düsseldorf niederlassen. Sie kam und wohnte eineinhalb Jahre in unserem Haus, bis sie ganz in der Nähe ihres Arbeitsplatzes eine Wohnung fand. Sie wohnte im Souterrain, und hat das wieder mit Leben erfüllt.
Ein Jahr nach dem Tod von Jerry gab es das dritte Geschenk: Maggan, eine Irish Terrier-Hündin, suchte ein Zuhause. Wir gaben es ihr. Es bellt wieder bei uns, es wedelt hier wieder, es springen vier glückliche Beine herum.
Man bekommt viele Geschenke. Oft erhält man sie, wenn sie dringend gebraucht werden.
Aber es ist auch ein Geschenk, andere glücklich zu machen. Ist es nicht ein Geschenk, einen alten Mann freundlich zu grüßen, mit ihm zu reden und seine Augen aufleuchten zu sehen? Ist es nicht ein Geschenk, einem Menschen zu helfen und zusehen, wie gut es ihm tut? Ein Geschenk, einem Kind eine Freude zu machen?
Wir müssen den Sinn des Geschenkes und des Schenkens nur erkennen. Sie vermögen das graue Weltbild zu ändern und es wieder gut und schön zu zeigen.



Eingereicht am 01. Februar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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