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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Fuhrmanns Spätblüte
© Ulrich Zimmermann
Es begann damit, dass eine Zehntklässlerin bei Jürgen Fuhrmanns Gemeinschaftskundemonolog über die derzeitige Parteienlandschaft in der Bundesrepublik plötzlich in haltloses Gelächter ausbrach.
Fuhrmann kannte das. Er machte eine kleine Pause und warf Viktoria einen bedeutungsschwangeren Blick zu, der immer wieder seine Wirkung tat: die Schülerin nahm sich zusammen. Dann setzte er seine Rede fort, verwies auf die Ergebnisse der Märzwahlen und prognostizierte, was bei den Januarwahlen herauskommen würde. Er war sich seiner Sache ganz sicher. Dazwischen riet er Viktoria, die in Erwartung eines neuen Anfalls schon heftig nach Luft schnappte, "mal für ne Weile rauszugehn". Er flocht das ganz lässig
ein, ganz cool, er konnte das. Aber Viktoria dachte gar nicht daran hinauszugehen, jetzt wies sie sogar mit dem Finger auf ihn, und andere ließen sich von ihrem Gelächter anstecken!
Was tun? Das artete in Massenhysterie aus! Immer mehr Zeigefinger sah er auf sich gerichtet.
Fuhrmann wurde heiß und kalt. Verstohlen spähte er an sich herunter. Hatte er etwa die Hose auf? Das passierte gelegentlich: kein weltbewegendes Unglück, mit einem flotten Spruch zu erledigen. Aber der Reißverschluss seiner Edeljeans war zu.
Lachten die ihn aus? Ganz massiv? Total? Um Himmelswillen nein! Konnte er von seinen Schülern nicht verlangen, dass sie ihn ernst nahmen? Schließlich trat er nicht im Anzug auf, mit verrutschter Krawatte und blitzendem Goldzahn wie Kollege Dorsch, der Konrektor. Er war keine komische Figur! Lachte er etwa Schülerinnen aus mit ihren Punk- und New-Wave-Frisuren, den oft abenteuerlichen Kriegsbemalungen? Und mitreißen lassen durfte er sich schon gar nicht von diesem heillosen Gelächter! Wenigstens wollte er in Erfahrung
bringen, worüber alle lachten.
"Schluss!", sagte daher Jürgen Fuhrmann und rief es schließlich in die Klasse hinein, worauf das Gelächter endlich abbröckelte: Am Ende wurde nur noch Viktoria geschüttelt. Alle anderen nahmen sich wieder zusammen, und Steffi sagte - zu leise, Fuhrmann musste nachfragen - "ach, Sie haben da was im Bart."
Fuhrmann zupfte, Steffi rief "weiter links!", und plötzlich hielt er ein Barthaar zwischen den Fingern, an dessen Ende eine zarte, rote, sternförmige Blüte saß. Wie kam die da bloß hin? Hätte in der Pause auch einer was sagen können! Aber so waren sie, die lieben Kolleginnen und Kollegen: Ließen einen ins offene Messer rennen.
"Na schön", sagte Fuhrmann und warf das blühende Barthaar in den Papierkorb, "das ist ja wirklich was Lustiges, aber jetzt wollen wir uns mal etwas genauer mit den Grünen beschäftigen."
"Ooch, schade", rief Steffi, "das sah so süß aus!"
Abermals wurde Fuhrmann ein bisschen heiß und ein bisschen kalt. Er pflegte in seinem vierundvierzigsten Lebensjahr noch immer die Illusion, dass ihn mindestens alle Mädchen in seinen Klassen heimlich liebten, und darum gab er sich wieder cool. Das stand ihm, meinte er, besonders gut in solchen Lagen.
"Ist wohl mehr eine Geschmacksfrage", sagte er, "von mir aus könnt ihr es werweißwie finden, ich würde jetzt gern über die Grünen sprechen. Oder hat mich schon mal jemand unter Lachkrämpfen zusammenbrechen sehen, wenn einer von euch unübersehbar Lippenstift an der Backe hatte?"
Das saß! Alle schauten zu Michael, der wie eine Tomate erglühte, und lachten.
Doch als Fuhrmann endlich fortfuhr, "wie ich schon sagte, scheinen schwarz-grünes Bündnisse nicht mehr völlig ausgeschlossen zu sein", da gongte es. "Überlegt euch zu Hause, was das für die anderen Parteien bedeutet", dekretierte er noch, bevor er eilig das Zimmer verließ.
II
Als Jürgen Fuhrmann am nächsten Morgen vor dem Spiegel stand, packte ihn das schiere Entsetzen: Nicht eine, nein, zwei Blüten saßen in seinem Bart!
Er rannte in die Küche, wo seine Frau schon beim Frühstück saß und nebenbei noch ihren Unterricht vorbereitete, und rief: "Mensch, guck bloß mal, was ich habe!"
Maria Fuhrmann las einen Satz zu Ende, nahm einen Schluck aus ihrem Kaffeebol, blickte erst geistesabwesend zu ihm hoch und brach dann in helles Gelächter aus.
"Ach, sieht das süß aus", rief sie, "so solltest du immer gehen!"
Fuhrmann starrte sie entgeistert an: "Du hast vielleicht Nerven! Die wachsen in meinem Bart. Gestern eine, heute zwei, und das findest du süß? Maria, sag mir, was soll ich bloß machen? Die lachen mich reihenweise aus."
"Und du, lachst du nie jemanden aus?" fragte Maria.
"Hör auf mit dem Quatsch", rief Fuhrmann, "so kann ich nicht in die Schule! Da nimmt mich doch keiner mehr ernst."
"Oder man schließt auf deine blühende Phantasie. Komm mal näher. Hach, das sind wirklich Sternchen!"
"Mensch, lass das! Was mach ich denn?"
"Am besten Bart ab!" sagte Maria Fuhrmann kaltblütig und riss ihm mit kühler Chirurgenhand die beiden Sternblümchen aus. "So, jetzt kannst du wieder vor deine Verehrerinnen treten!"
Sie stand auf und warf sich die Jacke über. "Sollten mal reden, richtig, meine ich. Hab schon lang das Gefühl, dass du mir was verschweigst. Na tschüß denn, bis Mittag!"
III
In der Schule wurde nun aus dem übergelassenen Jürgen Fuhrmann ein Nervenbündel. Pause für Pause rannte er aufs Klo, es fiel sogar den Kollegen auf. Die einen vermuteten eine chronische Darmstörung, die anderen einen akuten Rückfall in die Nikotinsucht.
Hastig fahndete er vor einem Taschenspiegel in seinem Bart nach den fast unsichtbaren Knospen, die sich jederzeit mitten in einer Unterrichtsstunde öffnen konnten, und schnitt sie mit einer Nagelschere ab. Und sein unermüdlicher Decouvrireifer wurde belohnt: Nicht ein einziges rotes Sternchen wurde mehr sichtbar, weder Kollegen noch Schülern. Freilich war er ständig auf dem Sprung, fummelte enervierend an seinem Bart herum und war kein angenehmer Gesprächspartner.
Glücklicherweise ging das Schuljahr seinem Ende zu. In den großen Ferien würde Fuhrmann sein Problem schon in den Griff kriegen. Und wenn der Bart fiel! Das war ohnehin keine Gesinnungsfrage mehr wie zur gloriosen Achtundsechzigerzeit. Inzwischen trugen Hinz und Kunz Bärte.
Leider vergaß sich Jürgen Fuhrmann während der Schlusskonferenz. Oder wähnte er sich schon in Sicherheit? Beim "gemütlichen Beisammensein" jedenfalls, das sich wie immer in die Länge zog, stand plötzlich sein Bart in voller Blüte, ein Sternchen neben dem anderen.
"Heilige Annette Schavan", rief die Kollegin Prill, "bei Fuhrmann bricht der zweite Frühling aus!"
Und Obermeier, der Rektor, flüsterte seinem Tischnachbarn zu: "Ich kann mir nicht helfen, der Kollege Fuhrmann kommt mir in letzter Zeit sehr komisch vor. Ist denn bei denen was unterwegs, oder baut er endlich? Meinetwegen soll er sich auftakeln, wie er will, aber dasda, nein, das geht doch wohl etwas zu weit. Was meinen Sie dazu, Herr Dorsch?"
Und der Konrektor zischelte zurück: "Ich hätte den Kollegen Fuhrmann längst in seine Schranken gewiesen, aber Sie fanden ihn ja immer so originell!"
IV
In den Ferien änderte sich leider auch nichts. Da sie auf den Lofoten ganz natürlich leben wollten, vergaß Jürgen Fuhrmann erstmal sein Problem. Eigentlich schmückte ihn der rotbesternte Bart sehr, besonders um Mitternacht, wenn die Sonne dicht über dem Horizont glühte.
Stundenlang saß er mit der Angel am Meer, während Maria meist in der Hütte blieb und in Unterrichtsentwürfen versank. "Scheißegal, wie man aussieht. Was kümmern sich überhaupt die Kollegen. Oder tun sie es gar nicht? Projizier ich meine eigenen Spießeransichten auf sie?"
Zuweilen fühlte er sich so frei, dass er sich vorstellen konnte, nach den Ferien mit nacktem Gesicht aufzutreten. "Na und? Dann sehen sie endlich mal, was sich unter dem Bart versteckt: Ein Lehrer wie du und ich. - Quatsch! Ich las mich auf diese Hysterie überhaupt nicht ein! Soll doch jeder sehen, dass der Fuhrmann noch nicht verkalkt sondern zu neuem Elan erblüht! Liebe Kollegen, gebt euch mal ein bisschen mehr Mühe mit euren Bärten. Bei euch rührt sich gar nichts! Null!"
Doch am Ende, schon bei der Landung in Skutvik hatte Fuhrmann ein flaues Gefühl, wenn er an den Schulbeginn dachte. Schön und gut, die Scheißtypen, die ihm hinterherstarrten, ließen ihn kalt. Man konnte sich über alles hinwegsetzen. Bloß, nützte das was? Und wem? Er gehörte mit seinen maßvoll linken Ansichten doch ohnehin zur immer kleiner werdenden Fraktion pädagogischer Hochseilartisten. Immer darauf gefasst, von Neonazis unter Schülern und Kollegen verpetzt zu werden. Und dann sich eine so offensichtliche
Blöße geben?
V
Es war entschieden: Fuhrmann erschien am ersten Schultag bartlos.
Manche Kollegen fanden das übertrieben. Andere sogar beschissen. "Willst wohl Rektor werden!", giftete Gaby Prill.
Das wollte er mitnichten. Und außerdem, was gewann er? Kaum war der Bart ab, trieb sein schütteres Haupthaar Blüten. Zwar konnte er die Knospen - etwas kleinere als vorher im Bart - ganz gut auskämmen, ohne allzu viele wertvolle Haare zu opfern, aber über seinen "Kämmtick" machten sich auch bald alle lustig.
VI
Fatal, dass auch sonst verschiedenes passierte, was ihn aus dem Gleichgewicht warf: Eine hoffnungslose Referendarin tat es ihm an. Und sie entbrannte ebenfalls.
"Dufte" fand sie ihn für sein Alter, und auf sein blühendes Brust- und Schamhaar flog sie.
"O Jürgen, wenn du erst einen Bart hättest!"
"O Julia, wenn du wüsstest!"
VII
"Herrgott, Kollege Fuhrmann", sagte Obermeier in beschwörendem Ton, "sechzehn Jahre war nichts. Ihr Bart anfangs, na ja, daran hat man sich schließlich auch bei anderen gewöhnt mit der Zeit. Und ihre extraordinäre Kleidung, auch gut, immerhin kamen sie nicht daher wie aus dem Busch. Aber nun dasda, ich bitte Sie! Oder halten Sie für normal, wenn aus Ihrem Bart, und jetzt, nachdem Sie den vernünftigerweise abgetan haben, auf Ihrem Haupt von heute auf morgen ein rotes Meer entsteht? Man könnte unter
Aufbietung allen Humors, zu dem man fähig ist, das Ganze noch von seiner scherzhaften Seite betrachten, wenn diese Dingens nicht ausgerechnet sternförmig wären. Das geht zu weit. Ich, und, glauben Sie mir, nicht ich allein, betrachte das als Ausdruck Ihrer wahren Gesinnung, die Sie uns jahrelang geschickt verbargen. Das ist für mich jetzt sonnenklar."
Fuhrmann kratzte sich verlegen am Kopf, hielt plötzlich ein blühendes Haar zwischen den Fingern, ließ es zu Boden fallen, bedeckte es mit dem rechten Fuß, was ihm ein bisschen Schmerz verursachte, und seufzte: "Ich kann doch aber gar nichts für dasda, Herr Obermeier. Gut, ich habe anno 68 bis 72 studiert, und manchmal ist man unberechtigterweise stolz darauf, sich damals auch ein bisschen geregt zu haben, aber ich versichere Ihnen, ich gehörte nicht einmal zu den Mitläufern linker Splittergrüppchen an unserer
ohnehin braven Pädagogischen Hochschule. Ich gebe gern zu, dass der Verfassungsschutz in jenen Tagen die Hochschulen noch nicht so gut im Griff hatte wie heute, und deshalb ist mein Disengagement nicht hundertprozentig nachweisbar, aber ich versichere Ihnen noch einmal, dass ich die Studentenbewegung als Ganzes in äußerster Zurückhaltung miterlebt habe. Ich war bei Gott keiner von jenen, die rote Sprechblasen ausstießen. Deshalb verstehe ich es selbst nicht. Gewiss, die Halbherzigkeit der Schulreformen verursachte
mir manchmal Bauchschmerzen, und auch an Ihrem Verzögerungsstil hatte ich einiges auszusetzen. Das habe ich Ihnen nie verschwiegen. Aber muss man denn heute schon hundertfünfzigprozentig konservativ sein als Lehrer? Ein Ideechen Schwung haben Sie mir doch immer zugestanden. Denken Sie an meine Klassen: Wie oft hörte ich aus Ihrem Munde 'Fuhrmann, nehmen Sie diese schwierige Klasse, ich weiß, Sie werden mit ihr fertig`. Nein, ich habe mir nichts vorzuwerfen."
"Dann rate ich Ihnen, schleunigst zu einem Arzt zu gehen, Kollege Fuhrmann", sagte Obermeier, "am besten zu einem Psychiater. Und wenn der Ihnen nicht helfen kann, dann bleibt nur noch eins: runter mit dem Haarrest! Lieber radikahl als verdächtig! Dann wird man ja sehen, ob das Ganze nur ein Spätfrühlingsausbruch war, oder ob mehr dahinter steckt. Haben Sie sich denn schon gründlich selbst erforscht? Sind Sie sich über Ihre Gesinnung im Klaren? Jedenfalls ich kann einen solchen Exzess im Interesse
des gemäßigten Schulklimas nicht dulden. Vorerst habe ich noch davon abgesehen, das Skandalon an höherer Stelle bekannt zu machen. Aber wenn sich nichts ändert und Sie selbst nicht entschlossen zu Ihrer ganz persönlichen Wende beitragen, kann auch ich Sie nicht länger decken. Schon jetzt erblicken anfällige Schüler in Ihrem Wildwuchs ein Signal! Gehen Sie in sich, tun Sie was!"
Jürgen Fuhrmann schüttelte den Kopf und lächelte ratlos: "Es ist zu spät, Herr Obermeier, die Seuche hat schon auf andere Körperzonen übergegriffen, ich brauche wohl nicht zu sagen, auf welche."
"Oho!" rief der Rektor und setzte sich in Positur. "Wenn das so ist, hilft auch kein Kahlschlag mehr. Kollege Fuhrmann, ich werde veranlassen, dass Ihre Verfassungstreue Punkt für Punkt überprüft wird!"
Eingereicht am 31. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.