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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Die in der ersten Reihe
© Gabriele Lins
Siebenuhrzwanzig. Der Bus fährt vor. Er ist noch leer. Die Wartenden - einige noch ganz verschlafen, andere schon hellwach - werden von ihm aufgesogen. Die Türen gleiten zu.
Die beiden Freundinnen sitzen in der letzten Reihe. Sie albern herum.
"Du", flüstert Raphaela, "da vorn sitzt Nelli aus unserer früheren Klasse."
"Wo?"
"Na, in der allerersten Reihe! - Sie saß ja immer in der ersten Reihe, war uns immer voraus, hochmütig bis zum Gehtnichtmehr, Liebling aller Lehrer."
"Ach ja, jetzt sehe ich sie", bestätigt Lena, "sie ist noch hübscher geworden."
Die andere prustet verächtlich. "Die und hübsch! Guck doch mal, wie sie ihr Butterbrot hält, den kleinen Finger abgespreizt, ungemein vornehm. Das hat Nelli schon immer so gehalten, na, das Butterbrot, komisch eben. Und den roten Mantel trägt sie auch immer noch. Der ist ihr mittlerweile zu klein? Ja schon, aber jetzt hat sie wieder einen roten. Wie fantasielos! Und das Haar streicht sie sich auch immer noch so affektiert aus der Stirn. Was glaubt sie wohl, wer sie ist? Eine kleine Tippse bei Mantel - Krüger,
sonst nichts."
"Mehr sind wir doch auch nicht - oder?"
"Schon - aber ..."
"Wir sind gleich da." Lena steht auf.
Abfällig fixiert Raphaela die frühere Mitschülerin, die still in der ersten Reihe sitzt und in einem Buch liest. "Und wie sie immer guckte, wenn sie erschrocken war. Und wie sie lacht, schau doch nur ..."
Achtzehn Uhr dreißig. Der Bus fährt vor. Ähnliche Szene wie am Morgen: Die Leute strömen durch die Türen und sinken aufatmend in ihren Sitz. Geschafft, Feierabend! Einige schließen müde die Augen, manche lesen Zeitung und wieder andere starren blicklos durch die halbblinden Fenster.
Wie am Morgen setzen sich die Freundinnen in die letzte Reihe, wo sie alles überblicken können.
"Du - da ist sie ja wieder!"
"Wer?"
"Bist du schwer von Begriff!"
"Ach so, Nelli. - Lass sie doch!"
Raphaela schweigt. Sie ist beleidigt. Nelli sitzt diesmal in der Mitte und liest in einer Zeitschrift. Als der Bus hält, steigt sie aus ohne sich umzudrehen.
Lena sagt leise: "Außer Nelli kenne ich noch ein anderes Mädchen aus unserer früheren Schule. Es sitzt auch hier im Bus."
Raphaela schaut sich um.
"Wen meinst du? Ich sehe keinen."
Lena sieht sie ernst an. "Sie hält ihr Brot auch immer so komisch, der kleine Finger ist abgespreizt, ungemein vornehm."
Raphaela will gerade in ihre übrig gebliebene Schnitte beißen, hält aber inne und starrt auf ihre Hand. Ihr kleiner Finger - oh!
Lena redet weiter: "Und ihre rote Jacke mit dem schwarzen Kragen - so was von geschmacklos!" Sie zieht die Mundwinkel nach unten, schaut die Freundin immer noch aufmerksam an.
Raphaela bleibt der Mund offen stehen, sie blickt an sich herunter. Ja, sie trägt auch eine rote Jacke, seit gestern; schwarzer Samtkragen, sehr schick! Kein Vergleich mit Nellys Jacke! Jedenfalls hat sie das bis jetzt gedacht. Verlegen streicht sie sich eine Locke aus der Stirn.
Lena nickt. "Und wie affektiert sie sich die Haare aus dem Gesicht streicht. Und wie sie guckt, wenn sie erschrocken ist. Und wie sie lacht ..."
Raphaelas rundes Gesicht ist rosa angelaufen. "Du meinst mich, nicht wahr."
Lena zuckt nur mit den Schultern.
Der Bus hält. Die Freundinnen steigen nacheinander aus. Hier trennen sich ihre Wege. Raphaelas Gesichtsfarbe erscheint jetzt tomatenrot. "Du hast Recht", sagt sie, "ich bin ungerecht und dumm."
Da nimmt Lena sie in den Arm. "Das sind wir alle mal. Vergiss es."
Eingereicht am 31. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.