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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Bis nach Berlin

© Ingeborg Jaiser


Erst hatte ich drei Tage lang geheult, dann meinen Rucksack gepackt und ein großes, wackliges "B" gemalt, auf die Rückseite eines Zeichenblocks, den Billa nie wieder benutzen würde. Ich verließ das Haus im Morgengrauen und nicht mal die Katze bemerkte mein Verschwinden.
Obwohl ich lange nicht mehr getrampt war, war mir der Weg zur Autobahnauffahrt ganz vertraut. Zu dieser frühen Stunde stand ich als Einzige etwas verloren mit meinem Pappschild an der Biegung, doch ich spürte das lange Warten gar nicht, hielt es aus, stand es durch, als etwas Geringfügiges nach einem großen Schmerz, der eh alles andere betäubte.
Als ein Kombi einige Meter vor mir hielt, stieg ich sofort ein, ohne den Fahrer zu mustern oder etwas zu fragen. Mir war, als würde mich ein Freund abholen.
Erst am Autobahnkreuz wagte ich den Blick nach links: graue Mittelmäßigkeit, Brille, schütteres Haar, bestimmt ein Handlungsreisender in Sachen Brühwürfel oder Zahnpasta.
"Sie wollen nach Berlin?", konstatierte er routiniert, wie ein Taxifahrer, ohne Neugier oder besonderes Interesse.
Ich nickte und streckte die Beine aus.
"Zigarette?", fragte er kurz und nestelte eine Packung aus seiner Brusttasche.
Ich sagte nichts, wusste jedoch, dass dies das Ende unserer Konversation war.
Mein Kopf sank zur Seite, zur sonnenerwärmten Scheibe. Zum ersten Mal an diesem Tag ließ ich die Bilder zu. Bilder von Billa: im Bett mit ihren Schmusetieren; lachend und kreischend auf der Schaukel hinterm Haus; später im Krankenhaus, als von ihren Korkenzieherlocken nur noch ein dünner Flaum geblieben war, wie bei einem jungen Vögelchen.
Oft hatte ich verzweifelt nachgedacht, wie ich die Dämonen beschwichtigen könnte, welches Opfer angemessen wäre, um die Rettung von Billa zu erkaufen.
Sie war meine Lieblingsschwester. Doch irgendeine unergründliche Kraft hatte es gerade darauf abgesehen, auf den Menschen, der mir am nächsten stand.
Der Fahrer hielt sich souverän bei 120, überholte, scherte aus und wieder ein, mit traumwandlerischer Sicherheit. Ich war ihm dankbar dafür, dass er schwieg und auch das Radio nicht einschaltete. Er schien lange Fahrten gewohnt zu sein.
Ich selbst wusste nicht genau, was ich in Berlin wollte. Es war nur weit genug weg - und manchmal, in den letzten schlaflosen Nächten, hatte ich mir eingebildet, die räumliche Entfernung könnte mir auch Abstand zu meinem Schmerz bieten.
Als Billa erkannte hatte, dass der Kampf aussichtslos wurde, bat sie um die Videokamera. Wir sollten alles filmen: das Krankenhauspersonal, ihr Zimmer, die Besuche von Freunden und Klassenkameraden. Ich hatte nie begriffen, was sie sich oder uns damit sagen wollte. Ich jedenfalls würde mir diese Filme nie anschauen, ich trug meine eigenen Bilder in mir, und das waren die echten.
Die Sonne stieg höher. Brannte von schräg oben auf mich herunter. Schläfrigkeit stieg auf. Ich war zu schwach, um meinen Kopf von der Scheibe zu nehmen. Mal schloss ich die Augen. Mal beobachtete ich die vorüberziehenden Autos:
Voll bepackte Familienkutschen, Wohnmobile, praktische Zweitwagen mit Kindersitzen auf der Rückbank. Einmal winkten mir Kinder zu, für die paar Sekunden, die der Überholvorgang dauerte und wir auf gleicher Höhe waren. Ein anderes Mal kläffte ein überdrehter Pekinese herüber.
Offenbar hatte der Fahrer nicht vor, eine Pause zu machen. Hin und wieder biss er in ein Salamibaguette und nahm einen kurzen Schluck aus der Coladose. Ich war froh, dass er mir nichts mehr anbot. Manchmal döste ich für einige Zeit ein, aber das spürte ich nur daran, dass die Sonne auf meiner Seite verschwunden war und die Scheibe kühler wurde.
Vielleicht wären wir an einem Stück bis nach Berlin durchgefahren, nur vom Tanken unterbrochen, das irgendwann nötig sein würde. Doch einmal, als ich zwischen Dösen und Träumen wach wurde, war das Bild ganz nah. Ich traute meinen Augen nicht. Neben uns glitt ein alter, weißer Mercedes dahin, so wie Vater ihn früher mal fuhr. Vom Rücksitz aus winkte mir ein kleines Mädchen langsam zu, ein Mädchen mit Korkenzieherlocken und braunen Kastanienaugen, so wie Billa. Ruckartig fuhr ich hoch, richtete mich auf - doch gerade in diesem Moment beschleunigte der Fahrer und wir sausten vorüber, noch ehe ich etwas begriff.
"Halt", rief ich, so laut wohl, dass der Mann neben mir erstaunt herüberschaute.
"Ich will aussteigen, bitte halten Sie an der nächsten Ausfahrt. Ich hab zu Hause etwas Wichtiges vergessen, ich muss zurück ... unbedingt ... ich kann nicht weiterfahren ... bitte ..."
Der Fahrer sah mich nochmals fragend an, setzte dann jedoch den Blinker, drosselte herunter und bog in eine Raststelle ein. Mir war, als hätte mich ein plötzlicher Adrenalinschub überwach gemacht. Mein Herz pochte wie verrückt.
Etwas Kreisendes, Pulsierendes hatte mich fast gewaltsam ins Leben zurückgeholt.



Eingereicht am 31. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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