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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Leopard
© Anna Janaszkiewicz
Als er sich später daran erinnerte, wusste er nicht, was ihn an jenem Tag dazu führte, in den Zoo zu gehen. Möglicherweise, weil er hoffte, dort halbwegs allein sein zu können und etwas Ruhe zu finden. Eigentlich mochte er keine Zoos. Diese ganzen Tiere, gefangen und unfähig, normal zu leben - das war deprimierend und ärgerlich. Er hasste es; es ekelte ihn an. Und dann noch diese Kinder, überall Kinder, schreiend, herumlaufend, alles mit ihrem Eis oder Pommes bekleckernd - er konnte Kinder nicht leiden. Am liebsten
würde er einige davon schnappen und denen eine ordentliche Ohrfeige verpassen, damit sie mal lernen, sich zu benehmen. Aber es ging nicht, sofort würden dann hysterische Mamis und Großmütter auftauchen und ihre kleinen Monster wie die Löwinnen verteidigen; oder diese Möchtegern-Papas, die in der Woche ihre Kinder nicht einmal zu Gesicht bekommen haben, da sie ihre Zeit lieber mit Saufen, Kumpels und Geliebten verbrachten - und die dann am Wochenende, ja, da waren sie auf einmal unternehmungslustig und versuchten
ihre Kinder zu erziehen und ihnen beweisen, dass sie doch gute Väter sind. Von wegen. Die meisten davon haben sich überhaupt keine Kinder gewünscht, sie heirateten nur deshalb, weil ihre Freundin schwanger geworden ist, und dann glaubten sie auch noch die dumme Ausrede, die Pille habe versagt. Erbärmlich, wirklich erbärmlich. Er verachtete diese Männer, die sich von diesen hinterlistigen Frauen haben angeln lassen und die doch viel lieber woanders wären, statt mit zwei kleinen Monstern und einer fett und unattraktiv
gewordenen Frau Familie spielen zu müssen. Feiglinge. Richtige Feiglinge, nicht einmal in der Lage, ein Leben zu führen, das sie wirklich wollten. So gesehen hatten die Tiere, obwohl sie gefangen waren, doch kein so übles Leben. Es reichte, wenn sie diese dummen Menschen beobachteten - es war schon Spaß genug. Wenn er so ein Tier wäre, dann würde er nur da sitzen, die Idioten außerhalb des Käfigs angucken und einfach nur den ganzen Tag lang lachen.
Doch heute war der Zoo leer. Vielleicht lag es an der seltsamen Uhrzeit, um neun Uhr morgens an einem ganz normalen Arbeitstag sind die meisten Kindern nämlich in der Schule, die Erwachsenen arbeiten und die Rentner essen vermutlich schon zu Mittag. Und vielleicht lag es am Wetter, das nicht unbedingt in jene Kategorie gehörte, welche die Wetterfrösche zum Grinsen bringt, wenn sie der Welt auf der anderen Seite der Mattscheibe mit Stolz verkünden: "…und wieder mal 32°C im Schatten, tolles Sommerwetter".
Denn es war Herbst, die Luft war kühl, aber angenehm, und - er war allein im Zoo. Zumindest waren keine anderen Menschen zu sehen. Es war gut, denn das hat er so gehofft, als er sich vor einer halben Stunde auf den Weg machte. Es war der letzte Tag seines Urlaubs und er wollte ihn ruhig und gelassen verbringen. In der Großstadt findet man wenig Ruhe. Natürlich hätte er irgendwohin weit weg fahren können, Geld genug hatte er ja, aber eben keine Lust, denn im Laufe seines Lebens hat er schon wirklich nahezu
alles gesehen, was es auf der Welt so zu sehen gab. Auch wilde Tiere auf Safaris. Er hatte keine Lust mehr zu reisen. Er hatte keine Lust auf gar nichts. Er wollte allein sein, aber nicht in seiner sterilen Villa, in der um dieser Uhrzeit sowieso die Putzfrau ihr Unwesen trieb und wie von allen guten Geistern verlassen mit dem Staubsauger einen unerträglichen Lärm machte. Im Zoo war es ruhig, und der Gesang der Vögel beruhigte die Nerven. Er war tatsächlich ganz allein und ging langsam an den verschiedenen
Käfigen und Gehegen entlang. Manchmal hielt er nur kurz an, manchmal blieb er länger stehen und an manchen der Käfige hat er sich auch die Informationen durchgelesen. Es war alles tatsächlich recht angenehm, wenn keine schreienden Kinderhorden seinen Weg kreuzten. Wenn es nach ihm ginge, könnte man alle Neugeborenen auf irgendeinen fernen Planeten schießen, wo sie bis zu ihrer Volljährigkeit bleiben müssten und erst als ausgewachsene Menschen wieder auf die Erde dürften. Und das erst nach dem Bestehen eines Wesenstests.
Guter Gedanke, zu schade, dass es kein Amt gab, wo man so etwas beantragen könnte. Er ging langsam, schaute sich um und kaufte sich letztlich ein Eis an einem Zookiosk. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal ein Eis am Stiel gegessen hat. Er überlegt kurz stellte fest, dass es wohl wirklich sehr lange her gewesen sein muss. Und dann ging er weiter. Elefanten. Robben. Eulen und Käuze. Und das hier? Aha, ein Opossum. Und hier geht es zu den Raubkatzen, mal sehen. Er schleckte an seinem Eis, folgte
dem Pfeil und kam zu dem ersten Käfig. Und dort blieb er auch stehen. Er stand da, gaffend, und bevor er sich dessen klar wurde, was mit ihm so passiert und warum er sich so blöde verhält - ließ er sich auf eine Bank fallen, die gegenüber des Käfigs stand. Er saß einfach nur da und glotzte vor sich hin. Sein Eis fiel ihm aus der Hand und markierte einige rosa-schokoladige klebrige Spuren auf seinem eleganten beigen Wollmantel, doch das bemerkte er nicht und selbst wenn er es getan hätte, wäre es ihm egal.
Im Käfig war ein Leopard. Das Tier ging auf und ab. Sein wunderschönes Fell glänzte in der sanften Herbstsonne, die sich gerade schüchtern blicken ließ, als sich das Tier geschmeidig und anmutig in seinem kleinen Käfig bewegte. Der Leopard bemerkte den Menschen und setzte sich hin, direkt vor dem Gitter, und richtete seine stolzen, honigfarbenen Augen auf ihn. Diese Augen waren traurig. Der Mann saß auf der Bank bewegungslos und spürte ein seltsames Etwas, ihm wurde bewusst, dass er gerade eine Art Verwandtschaft
mit dem Tier entdeckt, eine seelische Verbundenheit, obwohl er doch wusste, dass Tiere keine Seelen hatten; ja, er war sich nicht einmal sicher, ob Menschen welche besaßen. Er schaute in die Augen des Tieres. Und der Leopard schaute zurück. Ob sich der Leopard dabei etwas dachte, das wusste er nicht und würde es auch nie erfahren. Aber ihm selbst, ihm ging dabei jede Menge durch den Kopf. Ein Leopard. Ein wunderbares Tier, geschaffen um zu leben, um zu laufen, um zu herrschen, um zu jagen und um frei zu sein.
Dieses Tier war hier, gefangen für den Rest seines Lebens. Seiner Natur enteignet, seines Willens und Würde beraubt, und trotzdem so ruhig. Und er wusste, dass sobald das Tier die Chance bekäme, anders zu leben, dann würde es einfach anders leben; ohne Angst, ohne Zögern würde es sich ins neue Leben stürzen und die Vergangenheit hinter sich lassen. War das nicht der Sinn, den jedes Lebewesen verfolgen sollte? Schade um das Tier. Plötzlich spürte er Tränen in den Augen. "Verfluchter Wind", dachte er
sich und wischte sich die Tränen verstohlen weg. Diese ganzen Menschen, die hier jeden Tag stumpf und gaffend vorbei gehen, haben die etwa ähnliche Gedanken? Denkt jemand überhaupt an dieses Tier, tut es irgendeinem Menschen Leid? So richtig Leid, wie ihm gerade jetzt? Mit Sicherheit nicht. Diese Menschen, diese dummen Menschen, auf der Straße, in der Straßenbahn, in den Fußballstadien oder in den Kneipen, rauchend, lachend, brüllend und schwätzend und auch diese dämlichen Kinder oder Teenies, die nur ihre verblödenden
Computerspiele und schrille Musik in den Köpfen hatten, oder diese aufgedonnerten Frauen, die nur an sich selbst, ihre Schminkköfferchen und Klamotten dachten - die konnte man doch vergessen. Gab es überhaupt jemanden, der so etwas empfand wie er gerade? Er senkte den Kopf, denn seine Augen brannten immer noch. Er fühlte sich so allein wie noch nie. Und dann kam ein Gefühl in ihm hoch, ein Tatendrang oder eher eine Wut? Er verspürte ein starkes Bedürfnis, etwas für das Tier zu tun, ihm zu helfen, ja, sogar den
Käfig aufbrechen und das Tier befreien. Er malte sich das Ganze aus, wie er nachts in den Zoo schleicht, vielleicht über den Zaun, oder keine Ahnung wie, aber auf jeden Fall würde er sich schwarz kleiden, damit man ihn nicht sieht, wie in einem alten Gangsterfilm. Er würde eine dicke Heckenschere mitnehmen, diese, mit der er im Garten die besonders hartnäckigen Äste bändigte. Und dann würde er vorsichtig und lautlos zu dem Käfig des Tieres gehen, und die Gitter durchschneiden, und dann wäre der Leopard frei,
für immer frei, und könnte gehen wohin er will, er könnte wieder laufen und jagen und alles machen, was er im Käfig nicht konnte. Und er selbst würde dem Leoparden hinterher schauen, wie er wegläuft, wie er in der Dunkelheit verschwindet. Der Leopard wäre glücklich. Er selbst wäre glücklich.
Blödsinn, sagte er sich. So ein Blödsinn, Tagträumerei, nichts weiter. So etwas würde er natürlich nie tun, das ist doch strafbar, abgesehen davon hat er doch Höhenangst und kann über keinen, selbst über den niedrigsten Zaun klettern. Und außerdem, wer kann denn schon sagen, ob so ein Leopard etwas wie Glück überhaupt empfinden kann? Er schaute auf und sah, dass der Leopard ihn immer noch beobachtete. Und er wusste dass der heutige Zoobesuch eine Art Schicksal war, dass es so kommen musste, als wäre alles irgendwo
da oben geplant worden. Dabei hat er bisher nie an "da oben" geglaubt ...! Er wusste, dass er von nun an immer an den Leoparden denken wird, und auch an all das, was ihm durch den Kopf ging, während er vor dem Käfig saß. Möglicherweise war er tatsächlich allein damit, aber davor hatte er keine Angst mehr. Denn er könnte doch öfter in den Zoo kommen, den Leoparden besuchen, und wenn er eines Tages dann jemanden vor dem Käfig sitzen sehen würde, der, so wie er selbst gerade, in Gedanken versunken, sich
das Tier anschauen würde, dann wäre er nicht mehr allein. Und außerdem wusste er jetzt, was wirklich zu tun war. Er schaute sich den Käfig des Tieres genauestens an. Zu klein, viel zu klein, zu eng für das stolze Geschöpf. Drumherum ein großes grünes Gelände, alter Baumbestand, lauter Obstbäume, muss wohl ein alter Obstgarten gewesen sein, wie geschaffen zum Klettern. Er schaute sich das Tier noch einmal an und dann drehte er sich einfach um und ging mit einem schnellen Schritt Richtung Ausgang. Dort hielt er
kurz an und nahm sich eine Broschüre über die Tier-Patenschaften mit.
Ab diesem Tag änderte sich sein Leben. Er war wie ausgewechselt und alle, die ihn kannten, wunderten sich nur, was aus ihm geworden ist. Der apathische, langsame und Menschen meidende Mann war plötzlich voller Leben. Er knüpfte neue Kontakte, hat einen berühmten Zoologen und einen bekannten Architekten angerufen und mit denen lange Gespräche geführt. Und seine Schwester war erstaunt, als er ihr angeboten hat, ihre Kinder mit in den Zoo zu nehmen, wo sie ihn bis jetzt kaum dazu bringen konnte, auf die Kinder
1 Stunde lang aufzupassen, als sie zum Arzt musste. Er war jetzt sehr oft im Zoo, er kaufte sich sogar eine Jahreskarte. Die Kinder störten ihn nicht mehr, er hatte sie sogar gerne dabei, denn er merkte, dass die kleinen Monster doch ganz intelligent wirken und durchaus interessante Fragen stellen können, wenn man sie nur mit einem Thema beschäftigt. Er erzählte ihnen über das Leben des Leoparden, und sie konnten nicht genug davon kriegen. Manchmal schickte er sie aber auf den Zoospielplatz oder in den Streichelzoo
und befasste sich selbst mit dem Planen, schaute sich das Gelände an, und überlegte etwas fleißig. Manchmal saß er einfach auf der Bank vor dem Leopardenkäfig und las Bücher über Raubkatzen. Er lernte die Lebensweise dieser Tiere, er informierte sich über ihre Gewohnheiten und erkundete ihre Instinkte. Er konnte nicht genug davon kriegen, genau wie seine zwei Neffen. Dieser Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln. Immer wieder suchte er den Architekten auf und erfreute sich an seinem Projekt. Ein neues Gehege sollte
es sein, ein großes, großzügiges, ein dem natürlichen Lebensraum des Leoparden ähnelndes Gehege, mit Kletterbäumen, verstecken und einer Stahlleine, die hoch über dem Gehege befestigt werden sollte. Daran würde man die "Beute" des Leoparden anbringen und sie ferngesteuert durch das Gehege ziehen, damit der Leopard jagen und somit seinen natürlichen Instinkten nachgehen kann. Und ein Leopard-Weibchen sollte her, unbedingt, denn ein Tier hat doch ein Anrecht auf ein Liebesleben. Am liebsten würde er den
Leoparden mit lebendigen Kaninchen füttern lassen, aber er wusste, dass die meisten dagegen protestieren würden. Eine Simulation würde aber auch ausreichen - da war er sich sicher.
Tage vergingen und das Gehege wurde immer schönes und schöner. Zumindest auf dem Papier. Das Finanzielle hat er ebenfalls bereits erledigt, es war an sich kein Problem, da er immer schon unanständig viel verdient hat. Das Gehege, das Weibchen, die Ausstattung des Geheges, gute ärztliche Versorgung der beiden Tiere, gutes Futter, erstklassige und liebevolle Pfleger. Für all das würde das Geld problemlos reichen auch wenn der Leopard noch 20 Jahre leben sollte. Er stellte sich mehrmals vor, wie das denn sein wird,
wenn er in dem Zoo anrufen wird um eine Patenschaft zu erwerben. Er wird sich einen Termin beim Zoodirektor geben lassen und mit ihm über ein größeres Gehege reden, und darüber, dass das praktisch schon geplant und bezahlt ist, man müsse es nur bauen lassen. Der gute Mann wird bestimmt nichts dagegen haben, er ist doch bestimmt ein kluger und gebildeter Mensch, der begreift, dass Leoparden nicht in enge Käfige gehören. Er wird bestimmt die Baupläne behalten und sie sich anschauen wollen und dann wird gebaut,
und eines Tages wird der Leopard in sein neues Zuhause ziehen. Darauf hat er sich jetzt schon gefreut. Dieser letzte Schritt, die finanzielle Planung, nahm einige Tage in Anspruch, sodass er nicht in den Zoo gehen konnte. Aber mittlerweile war er sich fast sicher, dass der Leopard sich jedes Mal freute, wenn er da war. Einmal, das hätte er schwören können, hat ihm der Leopard zugezwinkert …! Er vermisste seinen Leoparden-Freund ebenfalls, aber die Geldangelegenheiten mussten nun mal auch erledigt werden. Gute
Planung ist nämlich der halbe Erfolg.
Doch dann kam endlich der große Tag. Er nahm mit einer feierlichen Miene die Patenschaftsbroschüre in die Hand, blätterte darin, suchte die Telefonnummer aus und griff zum Hörer. Seine Hände zitterten, so dass er sich drei Mal verwählt hat, aber beim vierten Mal hörte er eine junge, nette Frauenstimme, die einen ellenlangen Satz nuschelte, in dem er irgendwo mittendrin das Wort "Zoo" verstanden hat. Er lächelte, obwohl er wusste, dass die Frau ihn nicht sehen kann. Er begrüßte sie höflich und nannte
seinen Namen. "Ich möchte eine Tierpatenschaft übernehmen, und zwar für den Leoparden", sagte er. "Der Leopard ist tot, Darmverschluss. Wollen Sie vielleicht ein anderes Tier?", fragte die fröhliche Frauenstimme. Sein Lächeln blieb ihm im Gesicht wie eine vergessene Maske. "Hallo?", fragte die junge Frauenstimme. Er stellte fest, dass diese Stimme weder fröhlich noch nett klang. Er fand die Stimme grässlich. "Hallo? Möchten Sie ein anderes Tier? Wir haben noch freie Patenschaften
für …Hallo? Hallo …!" Aber er hörte sie nicht mehr. Er legte den Hörer auf den Tisch neben das Telefon und starrte die Wand an. In seinen Ohren klang immer noch pausenlos der eine einzige Satz:
derLeopardisttotderLeopardisttot derLeopardisttotderLeopardisttot derLeopadristtot …
Er stand auf, so langsam als würde ihm jede Bewegung wehtun, ging steif ins Wohnzimmer und setzte sich auf die Couch. Und dann fing er an zu weinen. Er weinte laut und verzweifelt wie ein Kind. Er weinte wie noch nie in seinem Leben.
Eingereicht am 31. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.