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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Nur ein Tag!

© Benjamin Klingemann


Morgens stand er auf. Abends legte er sich schlafen. Die meiste Zeit dazwischen war er am Arbeiten. Jeden Tag. Jede Woche. Jeden Monat und jedes Jahr. Das war sein Leben. Am Wochenende legte er sich jeden Sonnabend früh ins Bett. Denn meistens war er geschafft von der ganzen Haushaltsarbeit. Das Bad musste sauber gemacht werden, die Küche. Die Treppe und der Flur. Noch einmal den Abwasch, und den Kühlschrank schrubben. Schlafzimmer und Wohnzimmer würde er dann am Sonntag reinigen. Er musste also gut schlafen. Er liebte es steril. Denn er hatte Angst davor krank zu werden und jung zu sterben. Manchmal fragte er sich, ob er vielleicht ein Hypochonder sei. Lächelnd schüttelte er den Kopf. "Ach was. Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss!"
Eines Morgens, gegen 5.30 Uhr in der Früh, als er wie gewohnt zu seiner Haltestelle ging, um in die Straßenbahnlinie 11 einzusteigen, passierte etwas Ungewöhnliches. Er blieb einfach stehen. Er wusste nicht genau warum, aber er blieb einfach nur stehen. Mitten auf dem Bürgersteig in der Parkstraße. Wenige Menschen um ihn, welche ebenfalls den morgendlichen Arbeitsweg zurücklegten. Ein wundervoller Juli-Morgen. Sein karierter Pullunder schien einen sanften Hauch Unkonventionalität auszustrahlen. Dem war aber nicht so. Er kannte die Regeln, und er hielt sich daran. Streit dröhnte aus einem Fenster. War es ein Ehepaar? Oder nur ein Pärchen? "Nein! Nein! Liza! Es reicht! Deine verdammte Sucht bringt dich noch um und reißt uns gemeinsam in den Abgrund!", hörte er die männliche Stimme inbrünstig brüllen. "Ach ja? Wer fickt denn immer mit den anderen Weibern? Den ganzen jungen Dingern! Ist doch bestimmt auch ein teurer Spaß, oder? Hier ein Kettchen, da ein Ring ... Du bist so ein Schwein!" Die weibliche Stimme war sehr viel giftiger als die männliche. Sie war schrill und keifend. Sie schmerzte ihn in seinem Ohr. "Hör auf! Hör endlich auf! Du weißt, dass diese Scheiße nicht stimmt! Jonny Walker hat Sie dir erzählt und vielleicht hörst du endlich mal auf diesem verdammten Arschloch zu ver Aber ich kann so nicht weiter machen...." Des Mannes Stimme klang verletzt. Traurig und wehmütig. Er hörte das deutlich raus und fühlte sich gleich ein wenig schwerer. Es waren zwar nicht seine Sorgen und nicht seine Nöte, aber irgendwie belasteten ihn die Gefühle, die er scheinbar wie ein Schwamm aufgesogen hatte. Tja ... noch immer stand er einfach so da. Er schaute auf die Uhr. Nur noch 10 Minuten bis seine Straßenbahn fahren würde. Er müsste laufen, wenn er sie noch bekommen wollte. Aber bereits seit 2 Minuten stand er einfach nur da. Er dachte darüber nach zu laufen ... In den letzten zwanzig Jahren ist er immer zur gleichen Zeit im Amt gewesen. Doch das allererste Mal dachte er auch daran, dass er ja Gleitzeit habe. "Vielleicht komme ich heute einfach mal ne Stunde später?", fragte er sich selbst. Er schaute noch mal auf die Uhr, und er ging los. Endlich stand er nicht mehr. Er ging wieder, jedoch nicht zur Straßenbahn, sondern zur Bäckerei Möller. Zwanzig Jahre lang ging er an dieser Bäckerei vorbei, doch heute öffnete er die Tür und stellte sich an die Theke. "Guten Morgen! Was darf es für Sie sein?", fragte ihn die liebliche Stimme einer jungen, attraktiven Dame. "Och, Guten Morgen!", antwortete er verunsichert. "Was haben Sie denn so?" Die junge Dame schaute ihn an. "Wir haben alles, was Sie möchten. Brötchen, Sesam, Mohn, Roggen oder vielleicht ein Croissant? Sind Sie neu hier? Ich habe Sie noch nie hier gesehen?" Sein Gesicht rötete sich ein wenig. "Nein, ich lebe seit zwanzig Jahren hier. Bin nur irgendwie noch nie hier rein gekommen. Ich könnte dies auch nicht begründen ... Hmm ... Ich hätte dann gerne drei Croissants!" "Drei Croissants! Natürlich, gerne!" Sie lächelte ihn an. Er bezahlte, nahm die Croissants und ging Richtung Tür. "Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!", rief ihm die Bäckerin hinterher. Völlig verunsichert und verdutzt, drehte er sich leicht, von Scham gebeutelt und wisperte; "Ja ... Ihnen auch!" Er ging wieder zurück auf die Straße, nahm das erste Croissant, biss hinein und genoss die r lächelte ungläubig. Das erste Mal in zwanzig Jahren, hatte man Ihm einen schönen Tag gewünscht. Eine Mutter kam mit ihrem kleinen Kind vorbei. "Mama ... ich will auch so eins!" Die Mutter zerrte an dem kleinen Jungen, und unser Beamter drehte überrascht den Kopf. "Nicht jetzt Junge. Du bekommst ständig was. Los jetzt! Und hör auf zu quengeln!" Wie aus der Pistole geschossen rief er, "Warten Sie, gute Frau! Er kann eines von mir haben!" Sie blieb kurz stehen, bedankte sich überschwänglich und er gab dem jungen mit einem tief zufriedenen Lachen das Croissant.
Als er etwa eine Stunde später auf der Arbeit ankam, berichtete er allen von seinem großartigen Morgen. Die Kollegen guckten ihn unverständlich an. "Ja, und? Was ist denn daran so besonders?" Trotzdem erzählte er es jedem wieder. Sein Herz war so beflügelt und eine Fröhlichkeit und Unbeschwertheit in sein Gesicht gemeißelt. Er hätte den ganzen Tag nur springen können. Er fragte sich, warum ihm das vorher nie passiert war. Konnte es an ihm liegen? An seinem geregelten Tagesabläufen? Nein ... Einen Tag lang hatte er das Gefühl, das Leben eines anderen zu leben. Er hatte das Gefühl wild zu sein. Wild, stark und einfach nur freudig. Ein Kollege betritt sein Büro. "Und? Morgen kommst du aber wieder pünktlich, oder?" "Ja!", antwortete er.



Eingereicht am 30. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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