Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Eine Katastrophe

© Karl-Heinz Ganser


"Opa, warum ist Papa eine Katastrophe?", fragte mich am Abend meine fünfjährige Enkeltochter Ursula, nachdem ich ihr vor dem Einschlafen, wie immer, eine Gutenachtgeschichte vorgelesen hatte.
Ich sah sie überrascht an. Die Geschichte war ein lustiges Märchen gewesen und hatte mit einer Katastrophe gar nichts zu tun. Wie kam das Kind jetzt auf einen solchen Gedanken?
"Wie kommst du ... wie kommst du denn darauf?", stotterte ich.
"Das hast du gestern zu Mama gesagt!", sagte sie wie aus der Pistole geschossen.
Ich zuckte zusammen. "Hast du etwa gelauscht?"
Ursula drehte sich abrupt herum und zog sich die Decke über den Kopf.
In diesem Augenblick kam, wie jeden Abend, ihre Mutter herein um ihr den Gute-Nacht-Kuss zu geben. Mütter haben ein besonders gutes Gespür dafür, in Sekundenschnelle zu erfassen, wenn etwas anders ist, als sonst.
"Was ist denn hier los?", fragte sie und schaute besorgt zu ihrer Tochter.
"Brigitte ...", begann ich zögernd, "deine Tochter hat gestern unser Gespräch mitbekommen, als ich gesagt habe, dein Mann sei eine ..."
In diesem Moment sprang Ursula aus dem Bett, schrie ganz laut: "Katastrophe hat er gesagt!" und stürzte weinend in die Arme ihrer Mutter.
"Opa hat das nicht so gemeint", flüsterte sie ihrer Tochter beruhigend ins Ohr und drückte sie ganz fest an sich. Dann sah sie mich wütend an und zischte: "Vater, geh jetzt!"
Ich stürzte heraus, als hätte mir Brigitte einen Eimer Eiswasser über den Kopf geschüttet. In meinem Zimmer ließ ich mich mit einem tiefen Seufzer in den Fernsehsessel fallen.
Seit Monaten nörgelte der Mann meiner Tochter über das Essen und machte mir Vorwürfe, dass ich gegenüber meiner Enkelin Ursula zu nachsichtig sei.
An meinem siebzigsten Geburtstag vor vier Wochen, hatte er angeblich einen wichtigen Termin und wollte nicht mit uns feiern.
Dabei hatte alles doch so gut angefangen, als ich zu den jungen Leuten gezogen war.
Ich kochte gern, betreute meine Enkelin und Brigitte konnte ihre Ganztagsstelle antreten.
Jetzt hatte ich wieder eine Aufgabe, die mich ganz ausfüllte.
Ich war so mit meinen Gedanken beschäftigt, dass ich meine Tochter erst wahrnahm, als sie sich räusperte und sagte, ich möchte nach unten ins Wohnzimmer kommen.
Ich sah, dass ihr Mann auf der Couch saß und ziemlich nervös zu sein schien.
Brigitte musste ihm wohl den Kopf richtig gewaschen haben und ich war gespannt, wie er sich verteidigen würde. Oder würde er sich sogar entschuldigen?
Als ich mich gesetzt hatte, murmelte meine Tochter: "Vater! Manfred muss dir ... etwas Schlimmes sagen."
Überrascht schaute ich erst sie, dann ihn an. Brigitte sah ganz blass aus und hatte tiefe, dunkle Ränder unter den Augen. Manfreds Gesicht war wie versteinert und er nippte ständig an einem halb gefüllten Cognacglas.
Plötzlich sprang er auf, stürzte an das offene Fenster und rang nach Luft.
Nach einer Weile drehte er sich ganz langsam um und wankte zum Sofa wie einer, den seine Füße kaum noch tragen. Mit einem lauten Seufzer plumpste er in die Kissen.
"Es ist ... es ist ... alles aus ... es ist eine Katastrophe!", lallte er und presste die Hände vor das Gesicht.
"Was ist eine Katastrophe?", schrie ich ihn entgeistert an, denn mir wurde plötzlich klar, dass sich hier etwas anbahnte, was ganz schrecklich sein musste.
Manfred riss die Hände herunter und sein Gesicht wurde puterrot. Seine Stimme konnte er kaum noch unter Kontrolle halten, als er krächzte: "Ich habe dein Geld ... ja, dein ganzes Geld aus dem Hausverkauf in eine Firma angelegt, die jetzt pleite ist."
Mit einem Satz stand ich vor ihm. "Was sagst du da?", brüllte ich ihn an. "Du hast mein ganzes Geld ..."
Ich konnte auf einmal nicht mehr weiter sprechen, denn mir wurde ganz schwindelig. Ich spürte wahnsinnige Schmerzen in der Herzgegend, dann wurde es mir schwarz vor den Augen.
Als ich wieder zu mir kam, war heller Morgen und ich lag in meinem Bett. Erst allmählich nahm ich meine Tochter wahr, die mich ängstlich ansah.
"Vater!" Brigitte griff nach meiner Hand und drückte sie ganz fest. "Wie fühlst du dich?"
Ich nickte nur.
"Gott sei Dank!". meinte sie dann erleichtert. "Der Doktor hat dir gestern Abend noch eine Spritze gegeben und er sagte, wenn du aufwachen würdest, ginge es dir wieder besser." Brigitte versuchte zu lächeln.
Mich machte dieses gequälte Lächeln plötzlich ganz wütend. Mir wurde jetzt klar, dass ich nicht nur mein Geld, sondern auch das Vertrauen in einen Menschen verloren hatte.
"So etwas wie gestern Abend habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht mitgemacht", schmollte ich und blickte meine Tochter lange an.
"Vater! Ich kann das ja gut verstehen." Brigitte hatte Tränen in den Augen. "Wir werden dir das Geld ersetzen. Manfred verkauft sofort seinen teuren Daimler und wir werden einen Kredit aufnehmen und ..."
"Ach, um das Geld geht es doch gar nicht in erster Linie", unterbrach ich sie schroff. "Viel schlimmer ist jetzt, dass unser Verhältnis zu einander kaputt ist und deshalb weiß ich noch nicht, ob ich hier weiter leben kann."



Eingereicht am 30. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Naturgedichte «««
»»» HOME PAGE «««