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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Gänseblümchen
© Elisa Stein
Als die Sonne unterging, saß der alte Mann bereits auf der Bank. Ela wusste, dass er auf sie wartete. Trotzdem kam sie nicht aus ihrem Versteck heraus. Sie wollte ihn beobachten, den alten Mann, über den sie in den letzten Monaten so viel erfahren hatte.
Er kratzte sich an der Nase. Sie war fleischig und groß und war genau das, was man eine Säufernase nennt. Und sie passte so überhaupt nicht zu dem alten hageren Mann, der immer einen kaputten Sonnenhut trug, wenn er Radieschen zog oder mit den Gänseblümchen vor seinem Haus redete. Er hatte schöne, klare Augen, die so unergründlich dunkel waren, dass man den Blick in ihnen verlieren konnte, wenn man nicht aufpasste, dass es nicht geschah.
Ela seufzte. Ächzend stand sie auf und trat hinter der knorrigen Pinie hervor. Seine Mundwinkel zuckten, er hatte sie bemerkt. Er sah sie niemals an wenn sie kam, aber er zuckte mit den Mundwinkeln. Früher hatte sie gedacht, er sei nervös und unsicher, aber keines war der Fall. Es war ein Zeichen der Freude, wie sie alte Menschen manchmal hervorbringen, wenn sie sich schämen, die kläglichen Reste ihrer Zähne zu zeigen.
"Du bist spät", stellte der alte Mann fest. Es war kein Vorwurf in seiner Stimme zu erkennen, eher eine Art Belustigung darüber, dass es jeden Tag so war und sich auch niemals ändern würde.
"Ich habe dich beobachtet."
Der alte Mann grinste und ließ einen Blick auf seinen zahnlosen, faltigen Mund zu. "Ich weiß", sagte er und warf Ela einen viel sagenden Blick zu. "Die Pinie ist nicht so dick wie sie scheint." Er faltete die Hände und drückte die Daumen gegeneinander. Er tat das oft, wenn er kurz davor war, zu erzählen was ihn am Tage bewegt hatte.
"Siehst du das Gänseblümchen hier?" Er deutete mit seinem knorrigen Ringfinger auf ein einsames Gänseblümchen, das vor der Bank wuchs und das Köpfchen sehnsüchtig in die letzten Strahlen der Sonne reckte. "Es ist vergänglich. Wenn ich drauftrete, ist es kaputt, dann ist es tot. Und wenn es tot ist, ist es weg. Pffft", er stieß einen Wind zwischen den letzten Zähnen hervor und besprühte das Gras mit Spucke. "Wo ist es dann? Wo ist seine Seele?" Er sah Ela fragend an.
"Im Himmel", sagte Ela.
Der alte Mann schluckte. "Es gibt ihn nicht, deinen Himmel. Dein Himmel ist ein Gedicht, das jungen Leuten wie dir im Kopf herum schwirrt wie eine rosa Wolke und ihnen die Sinne vernebelt. Ihr glaubt an den Himmel, weil ihr Angst habt vor dem Tod, vor dem Wegsein und weil ihr noch so viel Zeit habt, bis es so weit ist." Er hielt inne. "Ich glaube nicht an den Himmel", sagte er. "Ich kann ihn nicht fühlen. Wie kann es sein, dass euch jungen Menschen der Himmel näher ist als uns alten,
wo wir ihm doch schon zum Greifen nahe sein sollten?"
Ela schwieg. Sie wusste nicht, warum, aber der alte Mann hatte sie zum Wanken gebracht. Gibt es den Himmel? Die Hölle? Gott? Gott musste es geben, wer sonst hätte all dies schaffen können? Sie sah auf zu den Bergen, hinter denen man die rote Sonne noch erahnen konnte. "Aber Gott, Gott gibt es." Ihre Stimme zitterte bei diesen Worten, sie war sich selbst nicht mehr sicher, vielleicht war Gott nur eine Figur, eine Erzählung, ein Held wie Herakles, an den die Menschen glauben und sich halten können?
Der Alte seufzte. "Wie oft bin ich in die Kirche gegangen in den Jahren als ich noch jung war? Der Tag begann für mich mit einem Gebet und er endete mit ihm. Aber irgendwann begann ich zu zweifeln, ich fragte mich, was Gott wohl zu mir sagte? Ob er über mich lacht, wenn ich zu seinen Füßen liege und an ihn bete? Ob er es nicht bedauernswert findet, dass ich mich so an die Kirche halte obwohl es nur ein Haus ist, nur ein großes Haus. Es ist nur ein Haus, verstehst du, Ela? Es ist nur ein Haus!"
Ela schloss die Augen. Es ist mehr als ein Haus, dachte sie sich, es ist eine Kirche, ein Haus Gottes, so darf man nicht über ein Haus Gottes reden!
"Du verstehst nicht, was ich meine, Ela. Du denkst, ich verhöhne Gott und setze ihn mit einem alten Spinner gleich. Aber so ist es nicht. Ich denke, dass Gott überall ist. Dass er dir nah ist, auch wenn du nicht an ihn betest und auch dann, wenn du fluchst und dich fragst, wer für den ganzen Mist hier verantwortlich ist." Er lachte. Es war kein Lachen der Freude, es war einem Seufzer gleichzusetzen, als hätte er etwas gesagt, das er schon sehr lang mit sich herumtrug.
Lange Zeit schwiegen sie. Sie sahen, wie die Schatten der Berge immer größer wurden und die Dunkelheit die Städtchen im Tal verschluckten. Sie hörten noch die letzten Marktschreier, die den Touristen Fisch anboten und Ketten und Schuhe. Und sie sahen, wie die ersten Straßenlaternen flackernd aufleuchteten und die Touristen sich ein schönes landestypisches Restaurant suchten um sich mit Nudeln und Stracciatella-Eis vollzustopfen.
"Glaubst du, im Himmel ist noch Platz für mich?", fragte der alte Mann leise.
Ela schwieg. "Manche Leute sagen, wenn ein Mensch im Tod ein Lächeln auf den Lippen hat, hat er den Weg gefunden", sagte sie.
Der alte Mann lehnte sich lächelnd zurück. "Dann muss es wohl so sein." Leise summend zündete er sich eine Pfeife an und zog sanft den Rauch ein.
Eingereicht am 30. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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