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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Kind

© Elisa Stein


Der Schnee, der auf den Bäumen lag, tauchte den Wald in ein nahezu beängstigendes, reines Weiß. Es war einer der Wintertage, die sie so sehr hasste. Ihr Gesicht war kantig, fast mager und von einer so bleichen Farbe, dass es dem Weiß des Schnees fast gleich kam. Sie hatte einen etwas zu groß geratenen Mund mit schön geformten, blassen Lippen. Ihr rotes, gelocktes Haar und die grauen Augen waren ein reizvoller Kontrast dazu. Es waren Augen, die immer lachten und in denen man dennoch die Traurigkeit sehen konnte, die sie im Herzen trug, wenn man sie denn sehen wollte. Heute lachten die Augen nicht, sie waren von jenen Schmerzen gekennzeichnet, die man sich kaum vorstellen und schon gar nicht beschreiben kann. Es waren die Schmerzen eines Menschen, der etwas tut, das schon Sünde ist, wenn man nur daran denkt.
Sie legte die zarten Hände auf die kühlen Wangen des Kindes. Sie waren rosig und frisch und es hatte die gleiche reine, weiße Haut wie sie. Sie strich ihm durchs Haar und hielt zitternd inne. Sie konnte es nicht lieben, sie durfte es nicht lieben.
Eilig ging sie weiter auf der Suche nach einem geeigneten Platz. Ein kalter Wind ging durch die Bäume und ließ eine feine Wolke aus Schnee auf sie hinunter gehen. Das Kind in ihrem Arm nieste und kuschelte sie enger an ihren Körper. Der Ort, den sie für geeignet fand, lag an einer großen Straße, damit es gefunden würde. Sanft lächelnd breitete sie die rot karierte Decke am Straßenrand aus und wickelte das Kind darin ein. Es streckte die kleinen, rosigen Händchen nach ihr aus und begann sehnlich nach ihr zu wimmern.
Zärtlich und beinahe liebevoll legte sie die Ente neben es. Es war eine große Ente, sie war nahezu größer als das Kind, und wunderbar flauschig und zitronengelb. Sie hatte der Ente ein Schild um den Hals gehängt, "Anna, 17.01.05, ich suche Liebe". Das Kind schaute sie mit seinen großen braunen Augen flehend an. ‚Du hast die Augen deines Vaters', dachte sie und Hass stieg in ihr auf. Sie schlug dem Kind heftig auf die zarten Wangen, so dass es sofort erbärmlich anfing zu schreien und zu winseln. Sie bekam es mit der Angst zu tun. Wenn sie jemand hörte? Wenn sie erwischt würde?
Sie warf dem Kind einen letzten Blick zu, einen Blick, der all die Qual in ihr zeigte, den Schmerz darüber, dass sie ihr eigenes Kind im Wald zurückließ. Sie rannte die Straße entlang, sie rannte so schnell wie sie noch nie in ihrem Leben gerannt war und Tränen rannen über ihr Gesicht. Sie wusste nicht, wie lange sie gerannt war und warum sie nicht in den Wald zurückgegangen war. Sie rannte nur.
Sie kam zu jener Kreuzung, an der die große Straße in eine weitere, noch viel größere Straße zweigte. Als sie die Baustelle sah, schrie sie. Sie schrie gellend, sie schrie wie jemand, der glaubt, den Verstand zu verlieren. An dieser Straße würde niemand entlang fahren, niemand würde an der rot karierten Decke vorbei kommen, niemand würde das Kind finden. Ihr Kind! Das letzte, was es sehen würde, würden die verschneiten Wipfel einer Kiefer sein oder eine zitronengelbe Plüschente. Sie war einen Moment lang versucht, weiterzugehen. Aber sie konnte nicht. Sie konnte ihr Kind nicht sterben lassen.
Während sie rannte, blieb riss der Saum ihres Kleid entzwei. Es war ihr egal. Das Kleid war teuer gewesen, sehr teuer. Aber was ist ein Kleid gegen das Leben eines Kindes? ‚Lass es leben, bitte, lass es leben', flehte sie. Sie keuchte und rang nach Atem. Der kalte Wind, der ihr in die Lungen quoll, zog ihre Brust zusammen und ließ sie vor Schmerzen beben.
- Dann sah sie sie. Die Decke war mit kleinen Schneeflocken bedeckt, die sich im Gewebe verfangen hatten. Keuchend sank sie neben ihr Kind. Es hatte die Händchen in das Fell der Ente gegraben und kuschelte das kleine Gesicht in ihren Po um noch ein wenig Wärme zu finden.
Hastig nahm sie ihr Kind auf, presste es an ihren Körper und versuchte es mit aller Liebe zu durchströmen, die eine Mutter ihrem Kind geben kann.
Das kleine Wesen war kalt. Es war kalt und hatte Schnee im kargen, roten Haar. Sie öffnete ihre Bluse und drückte das Kind an ihre warme Brust. Es hatte die Augen geschlossen, seltsam geschlossen. Es schlief nicht, es war, als wäre keine Kraft mehr in ihm um die zarten Lider aufzuschlagen.
Es war, als wäre kein Leben mehr in ihm.



Eingereicht am 30. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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