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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Mauer durchbrochen

© Kerstin Niemöller


"Verdammt, sprich endlich mit mir. Sag mir, was dich belastet." Hannah rückte näher an mich heran und ihr Blick schien mich regelrecht durchbohren zu wollen.
"Was willst du von mir", fauchte ich und zog mich in die hinterste Ecke des Sofas zurück. Ich presste ein Kissen schützend vor meinen Bauch und starrte auf das Muster der Tapete. "Lass mich in Ruhe."
"Ich möchte endlich wissen, was mit dir los ist."
"Was soll schon sein?" Ich starrte auf die Adern, die sich über meinen Handrücken zogen und spürte meinen Widerstand bereits bröckeln. Seit Stunden redete sie auf mich ein und die schützende Mauer, die ich in all den vergangenen Jahren so sorgsam um mich herum aufgebaut hatte, drohte einzustürzen. Ich wehrte mich dagegen. Versuchte verzweifelt an andere Dinge zu denken und ihr nicht mehr zuzuhören. Ich konzentrierte mich darauf, das Monster in mir nicht herauszulassen. Hannah sprach mit mir, doch ich hörte sie nicht mehr. Ich sah wie sich ihre Lippen bewegten, doch ich verstand sie nicht mehr. Ihre Hand streichelte meinen Arm, ich sah es, aber ich spürte es nicht mehr. Nicht das Monster rauslassen, dachte ich immerzu. Noch niemals hatte ich einem Menschen erzählt, was mich seit Jahren quälte. Und nun begann sich dieses grausame Monster zu regen. Ich spürte, dass es raus wollte, endlich raus aus mir und ich verlor die Kontrolle. Plötzlich war nichts mehr wirklich, all meine Beherrschtheit war wie weggeblasen und die Mauer stürzte ein.
"Ich hab mir die Seele aus dem Leib gekotzt", brüllte ich und Hannah zuckte erschrocken zusammen. Ich erkannte meine Stimme nicht mehr. Ich heulte wie ein Wolf. Meine Lippen bebten und ich schleuderte das Kissen mit aller Wucht gegen die Wand. Bodenlose Wut ließ mich aufspringen und ruhelos im Zimmer auf- und abhasten. Alles brach über mich herein, stand vor meinen Augen, als sei es gestern gewesen. Es tat verdammt weh.
"Aus welchem Grund hast du dir die Seele aus dem Leib gekotzt?" Sie fragte ganz sanft und ich wusste, dass ich ihr alles sagen musste. Alles sagen wollte. Ich ließ mich an der Wand herabsinken, nahm wieder das Kissen vor meinen Bauch und starrte auf den Teppich.
Hannah setzte sich neben mich und legte mir ihre warme Hand auf den Arm. Es war ein beruhigendes Gefühl. Ich liebte ihre warmen Hände. Sie spendeten Trost und gaben mir Sicherheit. "Weißt du, dass du mir vertrauen kannst?"
Ich nickte und bemühte mich, die Tränen zurückzuhalten. Nur nicht heulen, keine Memme sein, keine Schwäche zeigen, sagte ich mir, aber es wirkte nicht mehr. Ich war nicht mehr cool, sondern nur noch ein Häufchen Elend, das hilflos auf dem Boden kauerte.
"Du weißt wie wichtig du mir bist. Ich möchte dir gerne helfen."
"Pah, du kannst mir nicht helfen", platzte es aus mir heraus. "Jetzt nicht mehr und damals sowieso nicht."
"Wann damals?"
Ich merkte, dass sie vorsichtig aber beharrlich versuchte, mich in eine Richtung zu drehen aus der es kein Zurück mehr gab. Sie brauchte mich nicht mehr dahin zu drehen. Ich war bereit zu reden.
"Damals im Zeltlager. Als ich ein kleines achtjähriges Mädchen war, das immer nur versucht hat freundlich zu sein, damit die Menschen es mögen." Es fiel mir schwer zu sprechen. Ich starrte auf meinen rechten Fuß und zählte die Tränen, die mir von den Wangen tropften und von meinem Fuß abperlten.
"Er kam jede Nacht zu mir. Von der ersten Nacht bis zur letzen Nacht in diesem verschissenen Zeltlager, in dem ich zwei Wochen kotzte und innerlich starb". Ich konnte sie nicht ansehen, aber ich spürte, wie sich ihre warme schützende Hand auf meinem Arm verkrampfte.
Ich hörte auf zu reden. Vielleicht war sie noch nicht reif für diese Geschichte. Vielleicht gab es einfach niemanden, der damit umgehen konnte.
"Wer war er?" Sie fragte kaum hörbar.
"Unser Betreuer. Ein toller Typ", murmelte ich, "so erwachsen, groß und dunkel. Die Mädchen himmelten ihn an und die Jungs tobten gerne mit ihm." Das Atmen fiel mir schwer und irgendetwas schnürte mir die Kehle zu, so wie jedes Mal wenn ich in all den Jahren tausendfach daran zurückdachte. Ich zitterte, weil ich diese Gedanken kaum ertragen konnte. Was sollte ich nur tun, wie sollte ich damit umgehen, diese Wut brachte mich um. In jeder elenden Sekunde meines Lebens war diese Geschichte in mir.
"Er hat mir weh getan", schluchzte ich. "Jede Nacht. Ich spürte seinen schweren Schritt, wenn er in dem großen Zelt war. Er lachte und schleuderte die Jungs durch die Luft. Doch sein Blick war bereits auf mich gerichtet. Ich lernte schnell, diesen Blick zu deuten. Ich hatte solche Angst."
"Oh Gott", entfuhr es meiner Freundin. "Ich habe das nicht gewusst."
Ich konnte nicht mehr aufhören zu reden. Jetzt war es sowieso zu spät. Wenn man einmal angefangen hat, gibt es kein Zurück mehr.
"In der ersten Nacht war ich fröhlich, ich tobte mit meinen Freunden durch das riesige Zelt und ich tobte mit ihm. Als es dunkel wurde, verschwanden wir alle in unseren Schlafsäcken. Aber es war doch Sommer", schluchzte ich hemmungslos, "und mir war heiß und ich hab den Reißverschluss nicht zugezogen. Wenn ich es doch nur getan hätte, vielleicht hätte es mich gerettet." Mittlerweile war mein rechter Fuß klatschnass und ich wischte die Tränen mit dem Kissen ab.
"Ich hätte den Reißverschluss zuziehen sollen."
"Ich glaube nicht, dass ein zugezogener Reißverschluss solche Menschen aufhält", flüstere Hannah.
"Aber vielleicht würde ich dann nicht denken, dass es meine Schuld war", erwiderte ich.
"Es ist niemals die Schuld eines kleinen Mädchens, wenn so etwas passiert", sagte sie aufgebracht. "Es ist niemals die Schuld eines Kindes. Niemals." Ihre Stimme überschlug sich beinahe und ich spürte ihren Zorn. Hannah zog ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und wischte mir sanft über das Gesicht. Ihrer Berührungen taten mir gut.
"Er legte sich neben mich und fragte, ob ich denn wüsste, was Erwachsene gerne tun, wenn sie sich mögen. Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Er sagte mir, dass ich die Einzige sei, die er für klug genug und für erwachsen genug hielt, um das Erwachsenengeheimnis mit ihm zu teilen und ich fühlte mich geehrt."
Ich bohrte mir meine Fingernägel in die Handballen.
Ich musste körperlich Schmerzen haben um die seelischen Schmerzen zu verdrängen. Jetzt begann ich immer schneller zu reden. Musste alles loswerden, denn lange konnte ich dieses Gespräch nicht mehr durchhalten.
"Dann begann er an mich anzufassen. Ich wusste sofort, dass es nicht richtig war. Es kam mir schmutzig vor und ich hatte Angst vor seinem heißen Atem. Ich wagte nicht, irgendetwas zu tun, lag nur wie erstarrt und wünschte mich weit weg. Aber ich konnte nicht weg. Es gab für mich kein Entrinnen und so blieb ich einfach liegen. Ich dachte an meine Mama und ließ zu, dass er mein Höschen auszog, dass er meine Hand dahin legte, wo ich sie nicht haben wollte. Er begann zu schnaufen und sein Atem ging schnell. Ich tat nichts dagegen, als er über mich kam, doch ich wünschte mir tot zu sein. Ich schämte mich so sehr und hatte Angst, dass meine Freunde etwas bemerkten. Als er endlich von mir abließ, lag ich regungslos in meinem Schlafsack und überall um mich herum war sein übler Geruch. Mir wurde schlecht. Ich bin rausgestürzt, vorbei an ihm und den anderen und habe mir die Seele aus dem Leib gekotzt. Von diesem Abend an kotzte ich jede Nacht, ich aß kaum noch, ich spielte nicht mehr. Und jeden Abend zog ich den Reißverschluss meines Schlafsackes zu, ließ meine Jeans an und einen Pullover, obwohl die Hitze mich fast kochen ließ und es nützte doch nichts. Ich begann die Dunkelheit zu hassen, denn dann spürte ich seine schweren Schritte, dann zog er den Reißverschluss auf, kam zu mir und ließ erst wieder von mir ab, wenn er zufrieden war." Erschöpft schloss ich die Augen. Jetzt war alles raus.
"Meine Güte, dieses Schwein", entfuhr es ihr. "Wie hast du all die Jahre damit leben können? Wie hast du das ertragen ohne jemals mit jemandem darüber zu reden", fragte Hannah fassungslos.
"Es gibt einfach Dinge, die behält man besser für sich, weil es nichts bringt, darüber zu reden. Passiert ist es trotzdem. Man kann nur lernen, damit umzugehen. Mehr geht nicht." Ich hatte mich wieder gefangen, die Mauer hochgezogen. Ich war es losgeworden. Ich stand auf, warf das Kissen auf die Couch und ging in die Küche. "Willst du auch ein Glas Sekt?", rief ich ihr zu und ließ den Verschluss der Flasche an die Decke knallen.



Eingereicht am 29. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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