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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Himmlische Begegnung
© Julia Seidenman
Es war mal wieder mitten in der Nacht und ich konnte nicht schlafen, obwohl ich total müde war. Wie in den letzten sieben Nächten war es nicht möglich, ganz durchzuschlafen. Diesmal war aber irgendetwas anders. Noch bevor ich die Augen öffnete, spürte ich eine Gänsehaut, an meinem ganzen Körper und das, obwohl ich wohlig unter meiner Bettdecke eingewickelt lag. "Was war nun los?", fragte ich mich leise, denn kalt war mir nun wirklich nicht.
Ich hatte auch kein kaltes Gefühl, es war schön, eigenartig und neu was ich spürte. "Aber was war das?"
Langsam öffnete ich die Augen und sah ein strahlend goldenes Wesen vor meinem Bett schweben. Auf einmal hell wach betrachtete ich es fasziniert. Es lächelte mich an und ich hatte ein Gefühl, als würde es zu mir sprechen und sagen: "Hab keine Angst!".
Dann entdeckte ich die Engelsflügel und war wie benommen vor Glück. In meinem Kopf waren nur seine Worte: "Lass dir Zeit", als wäre es völlig mit einverstanden, dass ich es mir so genau betrachtete, dabei lächelte es lieblich auf mich hernieder.
Ob Mann oder Frau konnte ich gar nicht erkennen, es war auch egal. Seine Haare waren weiß und leicht gewellt, sie fielen bis auf die Schultern. Das goldene Gewand sah aus wie feinstes Brokat und hatte eine Kordel um die Taille. Die Gesichtszüge waren lieblich und fein. Ich konnte erkennen, dass daraus nur Gutes kommen konnte. Es war ein berauschendes Gefühl, diesem Engel gegenüber zu liegen, es zu sehen und die feinen Schwingungen, die in der Luft lagen, zu spüren. Am ganzen Körper hatte ich nun noch stärkere
Gänsehaut und ich spürte Liebe und Ruhe um mich herum. Die Anspannung der letzten Woche fiel von mir ab und ich konnte das erste Mal entspannt durchatmen.
Es schaute mich immer noch lächelnd an. Nun nahm ich auch das leichte Schlagen der Flügel wahr und bemerkte, dass sonst keinerlei Geräusch zu hören waren. Eine himmlische entspannte Stille. Dann streckte es seine Hand zu mir aus und in meinem Kopf war der Satz: "Komm zu mir", dazu nickte es mir auffordernd zu. Ich konnte gar nicht anders, als aus dem Bett zu steigen und ihm entgegen zu gehen. Seine Hand zu berühren. In diesem Moment ging noch einmal ein gewaltiger Ruck von Liebe durch mich hindurch,
dass ich überwältigt meine Augen schloss.
Nach einigen Sekunden dieser Empfindungen öffnete ich meine Augen wieder.
Aber wir waren nicht mehr in meinem Schlafzimmer und es war auch keine Nacht mehr. Vor dem Haus meiner Mutter standen wir, bei strahlendem Sonnenschein. Neben mir standen die Rosenbüsche in dem Blumenbeet, was zwischen Haus und Garten angelegt war. Der Rasen war sauber gemäht und ein Sonnenschirm mit Gartenstuhl war zu sehen. Der Lieblingsort meiner Mutter, wenn sie sich entspannen wollte und das Wetter gut war. Es war ihr völlig egal, ob ein kälteres Lüftchen wehte, dann wurde eben eine Jacke angezogen.
Gerade fuhr mein kleiner roter Corsa in die Einfahrt hinein und hielt vor dem gelben Garagentor. Meine Mutter kam strahlend aus dem Haus und begrüßte mich. Sie hatte trotz ihrer 60 Jahre noch eine tolle Figur und sie trug gerne Jeanshosen, was sie jünger machte. Ihre Haare waren schon Jahre gefärbt und sie trug einen peppigen Kurzhaarschnitt. Auch war sie immer am Strahlen. So ging sie glatt zehn Jahre jünger durch. Das Leben war für sie nicht immer leicht gewesen. Sehr früh hatte sie meinen Vater an Krebs verloren
und mich alleine aufgezogen. Auch musste sie damals noch das Haus abbezahlen. Aber nie hat sie mich merken lassen, dass nicht immer genug Geld da war. Ihre Liebe hat mich auf vieles verzichten lassen. Aber oftmals entstanden auch Konflikte, die ich impulsiv lösten wollte und versuchte meinen Kopf durchzusetzen. Diese Wesensart hatte ich von meinem Vater geerbt.
Nun sah ich meinen Hund Mucki, ein kleiner schwarzer Mischling, aus dem Auto springen und ihr freudig entgegen laufen. Auch die beiden liebten sich sehr, was man deutlich daran erkennen konnte, wie Mucki an ihr hochsprang und sie ihn lieb graulte.
Ich stand daneben, alles war so real. Wie in einem Kinofilm nur ich war die Hauptperson. Dazu hatte ich alles schon einmal erlebt, keine Woche war es her. Mir kamen die Tränen hoch, beim Anblick meiner strahlenden lebenslustigen Mutter. Und genau da spürte ich einen herzlichen Händedruck.
Ich schaute erst auf meine Hand und erinnerte mich dann an den Engel an meiner Seite. Die Woge der Gefühle hatte mich für ein Moment alles vergessen lassen. Wo ich war, was los war und was geschehen war. Mein Blick ging zu seinem Gesicht und er lächelte mich gütig an. Sofort ging es mir besser. Sein Blick gab mir Kraft, um gefasster den Weitergang noch einmal zu erleben.
Nun waren wir in der Küche. Alles war so wie immer. Die braunen Küchenmöbel, der kleine Holztisch mit den vier Stühlen und den blauen Kissenauflagen, die geblümte Tischdecke, das gerade gewaschene Geschirr, die Gardinen mit dem Rosenmuster, nichts war verändert.
Ich konnte mir und meiner Mutter zusehen wie wir gemütlich einen Kaffee tranken. Aus dem Service, was sie zur Hochzeit mit meinem Vater geschenkt bekam. Es wurde eigentlich nur zu besonderen Anlässen herausgeholt, aber meine Mutter fand es zu schade, es so selten zu benutzen und wollte das in Zukunft ändern. Wir unterhielten uns und lachten. Auf einmal änderte sich die Stimmung. Meine Mutter kritisierte mal wieder meine Lebenseinstellung. Ein Generationskonflikt, eigentlich keinen Ärger wert, aber es entstand
ein sinnloser Streit.
Wütend sprang ich auf, wollte mich nicht kritisieren lassen, rief nach Mucki und verließ aufgebracht das Haus. Wie gejagt lief ich zum Auto, ließ Mucki hinein und fuhr mit rasantem Tempo davon. Aber ich sah auch, dass meine Mutter mir hinterher blickte und milde den Kopf schüttelte mit einem wehmütigen Lächeln im Gesicht. So als würde sie eben ganz genau ihre impulsive Tochter kennen. Sie war mir also nicht böse, oder sogar sauer auf mich.
Als nächstes sahen wir mich in meiner Wohnung aufgebracht, hin und her laufen, mit dem Kopf schütteln, nervös die Hände zusammen drücken. Es tat mir schon wieder alles Leid und ich mochte doch, im Grunde meines Herzens, keinen Streit mit meiner Mutter. Sie war doch das Liebste was ich hatte, außer Mucki. Abermals griff ich zum Telefonhörer, um meine Mutter anzurufen, mich zu entschuldigen, aber keiner nahm ab. Dann sah ich wie ich mich selber erinnerte, dass sie zum Einkaufen wollte und ich machte mir erleichtert
eine Tasse Kaffee. Noch keinen Schluck hatte ich getrunken, als das Telefon klingelte, ich sprang sofort auf und rannte hin. Aber es war nicht, wie erhofft, meine Mutter sondern ein Polizist und er sagte mir: "Frau Marquard bitte entschuldigen Sie die Störung, aber Ihrer Mutter ist ein Unfall passiert. Ein LKW nahm ihr die Vorfahrt und ihr ganzer Wagen wurde demoliert. Die Feuerwehr konnte sie zwar noch heraus schweißen, aber es sieht nicht sehr gut aus, wie uns der Notarzt mitteilte. Es wäre gut, wenn Sie
so schnell wie möglich ins Elisenkrankenhaus fahren würden, wenn Sie Ihre Mutter noch einmal sehen wollen." Ich brachte nur ein "Danke" heraus und raste los.
Das eigene Entsetzen in seinen Augen zu sehen ist sehr schlimm. Aber der Engel gab mir Halt und Liebe, dass ich mir auch weiter zusehen konnte.
Gehetzt konnte ich dann sehen wie ich im Krankenhaus ankam und meine Mutter suchte. Aber egal wie schnell ich fuhr, es war zu spät. Sie erlag ihren Verletzungen.
Mitten im Flur, auf der Krankenstation, brach ich in Tränen aus. Ein Arzt musste mir eine Beruhigungsspritze geben.
Meine Worte waren immer nur: "Ich konnte mich nicht mehr entschuldigen!"
Immer wieder und immer wieder.
Ich konnte die hilflosen Blicke der Schwestern erkennen, was mir vorher überhaupt nicht aufgefallen war. Sie versuchten mich in den Arm zu nehmen, boten mir einen Kaffee an und holten zum Schluss den Pfarrer, welcher gerade im Krankenhaus auf seinem Rundgang war. Lange sprach er auf mich ein und ich wurde ruhiger. Zwar nicht durch seine Rederei, denn es drang kein Wort zu mir durch, so verzweifelt war ich, nicht noch einmal mit meiner Mutter gesprochen zu haben. Aber irgendwann war ich so weit, mich freundlich
verabschieden zu können und auf den Heimweg zu machen.
In diesem Moment konnte ich den Schmerz von vor sieben Tagen genau spüren.
Am liebsten hätte ich mich selber in den Arm genommen. Aber auch jetzt spürte ich wieder einen Druck an meiner Hand und Liebe floss mir durch den Körper. Irgendwie fühlte ich mich wie ein Kabel, was an einer Steckdose angeschlossen war und mich mit genug Energie versorgte.
Unsere Reise ging weiter. Nun sah ich mich mit meiner Freundin Sabine, welche versuchte mir meine Schuldgefühle zu nehmen. Sie sagte immer wieder: "Du kannst nichts dafür, deine Mutter kannte dich und deine impulsive Art genau und dass du nie lange böse warst.", sie nahm mich dann in den Arm und ich weinte hemmungslos. Bei all dem saß Mucki immer neben mir und hatte einen traurigen Blick in seinem Gesicht. So als könnte er die Situation verstehen, wüsste, dass ein Teil unserer kleinen Familie fehlte.
Als nächstes standen wir in meinem Wohnzimmer und sahen mich wie ich die ganze Beerdigung zusammenstellte und herum telefonierte. Die Abende saß ich auf dem Sofa, in meinem Wohnzimmer und starrte nur vor mich hin.
Zwar war der Fernseher an, aber ich war nicht fähig ein Bild zu erkennen.
Aus dem Fenster ging mein Blick, ohne das trübe Wetter zu sehen. Der Hund lag ständig neben mir, seinen Augen hingen an mir fest. Wie in einem schlechten Film. Die Nächte lag ich wach und verzweifelte an meinen eigenen Gedanken, dass ich nicht noch einmal mit ihr reden konnte. Ich fand einfach keinen Schlaf. Jedes Geräusch lies mich wach werden und es war alles so unheimlich. Am Morgen fühlte ich mich dann wie gerädert und hatte dunkle Augenringe.
Dann standen wir am Grab, es war der Tag der Beerdigung. Nur wenige Menschen waren da. Nur ein paar Nachbarn, die aus Höflichkeit gekommen waren. Keiner wollte mich wohl alleine am Grab stehen lassen. Meine Mutter hatte wenige Freunde, da sie nur für mich lebte und unsere kleine Familie. Ich sah mich weinen und die Rose ins Grab werfen.
Auch beim Kaffeetrinken waren der Engel und ich dabei, was nach einer Beerdigung abgehalten wird und wir konnten erkennen, dass alle froh waren, als sie gehen konnten. Keinem passte die Stimmung. Aber mir passte die Beerdigung auch nicht.
Auf einmal wurde es ganz hell weiß um mich. Neben mir bauschten sich gewaltige Wolken auf und ich kam mir vor wie in Watte eingehüllt. Ich schaute erstaunt um mich und wusste nicht wo wir waren. So einen phantastischen Ort hatte ich noch nie gesehen. Es war ein stilles Vibrieren in der Luft, was mir Gänsehaut machte und glücklich dazu.
Völlig überwältigt schaute ich über mich und sah einen klaren, hellen und einfach einzigartigen blauen Himmel. So wie in einem Flugzeug über den Wolken. Ich war so ergriffen, dass ich mit offenem Mund dastand und nur staunte.
Ein leichter Händedruck ließ mich aufmerksam den Engel betrachten. Er brauchte keine Worte, sondern richtete nur seinen Blick nach vorne. Wie hypnotisiert folgte ich seinen Blick. Als könnte ich gar nicht anders, als diesem Blick zu folgen. Was ich da stehen sah, ließ mein Herz vor Freude höher schlagen. Mir kam nur ein leises Wort von meinen Lippen: "Mama", und mir liefen Tränen die Wangen herunter.
"Weine nicht mein Kind", sagte sie zu mir. Und dabei sah ich ihre gütigen Augen und ihr liebes Lächeln. Da stand sie, so wie vor sieben Tagen, mit ihrer Jeans und dem roten Pullover, in ihrer lässigen Art. Mein Herz pochte und meine Hände wurden feucht. "Es tut mir Leid, das wollte ich nicht", sagte ich ihr entschuldigend.
Dabei lächelte sie und antwortete: "Du warst nicht daran Schuld. Ich weiß doch wie du bist, mach dir keine Vorwürfe. Es war ein Unfall, sollte so sein!", dann winkte sie mir, wie zum Abschied und wurde immer durchsichtiger, bis sie weg war.
Ich aber schaute weiter auf den Fleck, wo sie eben noch stand, als würde sie jetzt noch dort stehen. Benommen schloss ich die Augen und mein Herz krampfte sich vor Sehnsucht zusammen.
Als ich sie wieder öffnete, lag ich in meinem Bett und wusste nicht, ob ich das eben nur geträumt hatte. Ich starrte zum Fenster hinaus und sah einen hellblauen Himmel und eine strahlende Sonne. Von den trüben Tagen der vergangenen Woche war nichts mehr zu spüren. Es war für mich als hätte ich mich aus einem Tief befreit. Ich konnte atmen und mich freuen und ich wusste nicht einmal worüber.
Auf einmal hörte ich ein Geräusch wie das Schlagen von Flügeln, ein kleiner Lufthauch ließ mich unter der Bettdecke Gänsehaut bekommen und das lachende Gesicht meiner Mutter erschien mir in Gedanken. Da wusste ich, dass es wahr war, ganz egal ob geträumt oder erlebt. Sie war an einen Ort wo sie nun glücklich war und mir nicht böse. Von mir war alle Anspannung gewichen und ich fühlte mich der Zukunft gewappnet. Auch war mir nun klar, dass wir nie alleine sind. Ein sehr beruhigendes Gefühl.
Das Leben würde weiter gehen.
Eingereicht am 26. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.