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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Denk an mich

© Andreas Kurz


Sie küsste ihn flüchtig, bevor er den Helm aufsetzte.
"Wann kommst du zurück?" fragte sie.
"Weiß nicht ...mal sehen."
Er setzte den Helm auf, verschloss den Kinnriemen und klappte das Visier nach oben. Das Leder seines Anzugs knarrte bei jeder Bewegung.
"Mach dir keine Sorgen", sagte er.
"Nein."
"Ruf Katharina endlich an, sie freut sich sicher."
Katharina war ihre Schwester.
"Mal sehen."
"Also, ich fahr dann ... Hansi wartet schon unten."
"Ja." Er zögerte, als erwarte er noch irgendetwas von ihr.
Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Er kam ihr vor wie hinter einem Panzer. Sie dachte, sie würde Katharina nicht anrufen. Nicht jetzt, nicht heute. Vielleicht morgen.
"Also ..."
Er drehte sich zur Haustür, öffnete sie, schloss sie hinter sich. Sie hörte ihn die Treppe nach unten gehen. Jetzt undeutliche Stimmen, er sprach sicher mit Hansi. Motoren heulten auf, kurze, helle Gasstöße. Wie Hundebellen. Dann das Singen der hochdrehenden Motoren. Dann nichts mehr, Geräusche des Hauses, von der Straße.
Wenn er nicht wiederkäme, dann wäre diese Erinnerung das Letzte, was sie von ihm wüsste. Knarrendes Leder, ein kurzer Abschied, ein Also. Sie mochte sein Motorrad nicht, das war ein Klumpen schweres Metall, darauf sitzen war wie Balancieren, wie ein Zirkustrick. Hochseilartistik. Wenn du hinunterfällst, bist du tot, so einfach. Du darfst nicht hinunterfallen, das ist die ganze Regel. Das Leben eines Artisten im Zirkus. Nach dem kurzen Aufatmen, wenn die Vorstellung des Abends vorbei ist, kehrt bald die Angst vor dem nächsten Auftritt wieder. Die Herausforderung, ein weiteres Mal zu bestehen, immer neu, nie am Ende. Die Wette mit dem Schicksal, als stünden sich zwei Gegner gegenüber, entschlossen, miteinander zu spielen. Lächelnde Gegner, ohne Eile in den Augen, geduldig wartend auf die Schwäche des anderen.
Steffen liebte das Motorradfahren und natürlich hatte er ihr gefallen, wenn er vorfuhr, lässig ausrollte, das mächtige Motorrad abstellte, den Helm ablegte, das verstrubbelte Haar nach hinten strich, lächelte. Ein Mann, wie sie ihn ersehnt hatte, manchmal, in Träumen, wenn die Gedanken freier waren als sonst, wenn die Gedanken auch ein wenig feucht wurden, warum nicht.
Steffen war sexy, war einer, der keine Angst hatte, dem das Leben mehr bieten musste als geregelte Arbeitszeiten, ein Bierchen auf der Couch und Fußball im Fernsehen.
Sie setzte sich in die Küche und trank den Rest Tee, der sich noch in ihrer Tasse befand. Blätterte in einem Magazin, aber schon nach wenigen Seiten ertrug sie die immer gleich lachenden, albernen Gesichter nicht mehr. Schau, mein neues Hemdchen, schienen sie dem Betrachter zuzurufen. Schau, mein tolles Höschen. Mein affengeiler Badeanzug. Mein Parfum. Ich krieg jeden, wenn ich nach dem Zeug dufte. Sei doch auch so toll wie ich.
Wenn Steffen nicht mehr wiederkäme, was bliebe dann übrig? Was würde sie tun? Sicher läutet das Telefon. Oder würde sich irgendeiner die Mühe machen, hierher zu kommen? Wie in den Filmen im Fernsehen. Sie waren nicht verheiratet, ihre Beziehung beruhte auf der üblichen Übereinkunft, es mal miteinander versuchen zu wollen. Du, ich mag dich, ich finde dich anziehend, ich liebe dich sogar. Also, lass uns zusammen ziehen, vielleicht klappt es ja. Sie war nicht die Einzige gewesen, die Steffen gut fand. Er hatte allen Grund, selbstbewusst zu sein. Da gab es viele hübsche, junge Frauen, die sich nach ihm umdrehten und die die Frau an seiner Seite voller versteckter Eifersucht musterten. Warum die, warum nicht ich?
Sie warf die Zeitschrift hinüber zum Altpapier. Lächelte, denn sie dachte, auch sie könnte sich andere angeln, so war es nicht. Vielleicht fuhren die beiden mit ihren Maschinen auch gar nicht in der Gegend herum, sondern behaupteten das nur, um ein Stück unkontrollierter Freiheit zu genießen.
Taten irgendwo anders so, als wären sie völlig ungebunden und könnten machen, was sie wollen. Baggerten andere Mädchen an, hatten coole Sprüche drauf, lehnten am Tresen in ihren halb heruntergezogenen Lederkombis und betrachteten das Angebot.
Nein, nein. Sie schüttelte den Kopf, als würde das etwas ändern. Nein, nein.
Sie glaubte ja nicht, dass er so war. Aber es wäre natürlich möglich, wirklich erfahren würde sie es nur durch Zufall. Eben durch einen Unfall und die Ermittlungen, die dann sicher folgen. Wo ist er gestürzt? Warum war er überhaupt dort, was war seine Route? War jemand bei ihm auf der Maschine, eine zweite Person? Warum war sie dort, wo hat er sie kennen gelernt?
Vielleicht würde er sterben und eine andere, die er mitgenommen hatte, es schwer verletzt überleben. Würde sie diese Frau dann in der Klinik besuchen?
Eine merkwürdige Situation. Eigentlich gibt es keinen Grund dafür, dass sie es tut. Aber auf der anderen Seite wäre diese Frau auch die Letzte, die Kontakt zu ihm hatte. Ein Geheimnis mit ihm teilte, von dem sie selbst nur durch sie erfahren könnte. Das wäre schon ein Grund, zu ihr zu gehen. Sie stellte sich vor, wie sie die Tür öffnet und sich der Kopf einer Frau ihr zuwendet, einer fremden Frau, mit Verbänden um die Stirn und Infusionsschläuchen im Arm. Du tust mir nicht Leid, dachte sie und zog ein höhnisches Gesicht dabei. Flittchen!
Sie stand auf und zog sich ihr T-Shirt über den Kopf. Dann streifte sie die Jeans ab. Sie würde jetzt zum Joggen gehen. In dieser Wohnung zu warten, wäre nicht gut. All diese furchtbaren Gedanken, wo sollten die hinführen?
Also Laufen. Sie machte es nicht regelmäßig, aber manchmal brauchte sie es.
Sie war nicht unsportlich, hielt sich in Form, achtete auf ihre Figur. Aber ohne Plan, ohne konkretes Ziel, nicht wie Steffen, der nur etwas Neues anfing, wenn er den Ehrgeiz hatte, darin auch richtig gut zu werden. Steffen hatte mit dem Laufen begonnen, um den Berlin Marathon mitlaufen zu können.
Das war sein Ziel, dafür trainierte er. Er stellte Pläne auf, die er an die Küchentür heftete und abarbeitete, als wäre er eine Maschine. So war sie nicht. Ein Plan, na gut, aber schon nach ein paar Tagen hatte sie vergessen, dass dort ein Plan hing, der etwas mit ihr zu tun hatte. Da hing eben ein Zettel, da stand etwas drauf, aber was? Es wurde für sie zur Dekoration und sie kam gegen dieses schwindende Interesse nicht an. War ihre Begeisterung geweckt, musste es schnell gehen, schnell zur Sache, zum Punkt kommen.
Vielleicht litt sie darum auch Angst, alles könnte sich verändern, einfach so, ohne Ankündigung. Ein Anruf nur. Was ist passiert? Ein Unfall? Gott, wie schrecklich ...
Und vorbei. Ein einziger Anruf würde ja genügen und sie müsste sich nach einem anderen Leben umsehen. Koffer packen, Wohnung auflösen, allein wäre die Miete nicht zu schaffen. Und dann?
Im Bad zog sie sich die Sportsachen an, die dünne Laufhose, den Bustier, die Schuhe, die ihr das Gefühl gaben, wie auf Gummi zu gehen, nicht unangenehm, eher lustig. Sie legte die Uhr an, setzte die Kappe auf, die Sonnenbrille, die sie bei diesem Wetter nicht brauchte, mit der sie sich aber gefiel und hinter der sie sich auch ein wenig verstecken konnte.
Das kalte Metall des Wohnungsschlüssels kitzelte, als sie ihn in die winzige Tasche über dem Gesäß steckte. Wohin also? Sie begann, die Straße entlang zu laufen, wartete an der Ampel einer großen Kreuzung, doch als diese den Weg frei gab, entschied sie sich, doch zum alten Stadtpark zu laufen, für den sie die Straße nicht überqueren musste. Das Licht war flau, ein grauer, unbestimmter Himmel. Es könnte noch ein Gewitter kommen, aber sie hatte kein Gefühl für so etwas. Sie mochte Wolken, wenn sie vorüber zogen, aber nur einzelne weiße Bauschen. Es erinnerte sie an ihre Kindheit am Rande einer Kleinstadt, wo sie von ihrem Zimmer über weite Felder sehen konnte. Das war normal gewesen, nichts Besonderes, erst als sie fortging, in die Stadt, studierte, jobbte, in schlechten Apartments hauste, wurde ihr bewusst, wie kostbar so ein Blick sein konnte.
Sie lief durch das graue Tor des alten Parks, das so aussah, als wäre es der Eingang zu einer Märchenwelt. An den Teichen vorbei, den Enten und Gänsen, die auf die Wege schissen und sie die Beine unwillkürlich höher ziehen ließen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es ihm gerade ging, Steffen auf seinem Bock. Als könnte man sich in die Gefühle eines anderen einschalten wie in ein Telefongespräch. Sie hatte gelesen, dass es so etwas gegeben hatte. Frauen, die berichteten, ihren Mann gefühlt zu haben, als dieser in Schwierigkeiten war. In Lebensgefahr. Eine erzählte von einem Jetpiloten, dessen Maschine ins Trudeln geriet, weil die Instrumente ausfielen und sie plötzlich spüren konnte, wie er nach ihr ruft. Wie er ihr sagt, er liebe sie und das solle sie noch wissen. Der sich aber im letzten Moment noch mit dem Schleudersitz retten konnte, zurückkam zu ihr und sie darüber sprechen konnten. Natürlich hätte sich diese Frau auch alles ausdenken können, es einfach behaupten, um sich aufzuspielen. Aber möglich ist das sicher. Wenn man sich wirklich liebt, aus ganzem Herzen, müsste der andere doch zu spüren sein, wenn er in großer Gefahr ist.
"Hi", sagte einer neben ihr.
Sie zuckte zusammen, drehte sich, sah einen Jogger, groß, eher schwerfällig wirkend. Sie brauchte keine Sekunde, um zu erkennen, dass er nicht ihr Typ war. Also nickte sie nur, beschleunigte, hoffte, ihn hinter sich lassen zu können. Sie wollte zurück zu ihren Gedanken, hatte das Gefühl, gerade an einem wichtigen Punkt zu sein.
"Läufst du öfter hier?" fragte der Jogger und beschleunigte jetzt ebenfalls, um mitzuhalten. Sie ignorierte ihn.
"Ich finde es so gut hier, dass ich fast jeden Tag hier bin. Zum Joggen, aber auch mal nur so ... nicht zum Joggen. Um abzuschalten. Ich hab häufig Stress, keinen leichten Job, verstehst du? Hier kann man auftanken ... das finde ich gut. Auftanken ... weißt du." Der Weg gabelte sich und sie lief nach rechts. Sie hoffte, er würde sich links halten, aber er klebte an ihr, als wären sie ein Paar. Fast berührten sich ihre Arme.
"Was machst du denn so?" fragte er.
"Joggen", sagte sie trotzig und bereute es sofort. Denn nun hatte sie ihm geantwortet und das war es doch, was er wollte. Mit ihr quatschen, sie anmachen, am Ende die obligatorische Kaffeefrage. Hätte sie sich bloß nicht dieses knappe Top angezogen. Jetzt fühlte sie sich zu nackt. Es gab Typen, die diese Ausstrahlung hatten. Die ihr Selbstvertrauen zum Verschwinden bringen konnten und vor denen alles peinlich wurde. Vor allem kurze Röcke und tiefe Ausschnitte.
Er lachte über ihre Antwort.
"Ja, ich auch", sagte er. "Und was machst du danach?"
"Nichts."
"Komm, das ist nicht wahr. Irgendwas wirst du machen. Irgendwas macht jeder ..."
Sie hörte, wie er immer mehr außer Atem geriet und sicher keine besondere Kondition hatte. Also beschleunigte sie noch etwas, gerade so, wie sie sich zutraute, es auch noch eine Weile durchhalten zu können.
"Mann, du legst vielleicht ein Tempo vor ...du hast es ganz schön drauf."
"Hab ich."
Er lachte. Plötzlich blieb er stehen, stützte die Hände auf die Knie, schnappte nach Luft.
Penner, dachte sie. Wer so schnell aufgibt, wird es nie zu was bringen.
Keine drei Minuten hatte er sich neben ihr halten können. Sie war ihm überlegen und das war ein richtig gutes Gefühl. Sie lief wieder langsamer und suchte nach dem letzten Gedanken, als hätte sie noch etwas zu erledigen, was in ihr liegen geblieben war. Sie hatte an Steffen gedacht, an ihre Beziehung, an Schicksal und das alles. Jetzt lief sie hier und wollte eigentlich leer werden, nicht denken, im Jetzt ankommen. Sie nahm den Blick hoch vom Weg vor sich, betrachtete die Menschen, meist ältere Frauen mit Hunden, ein paar Mütter mit Kindern an der Hand oder einen Wagen vor sich herschiebend. Baby lüften, dachte sie und lächelte, das stünde ihr auch noch bevor, doch nicht schon morgen, ein anderes Mal, in der Zukunft, weit weg.
Sie war fünfundzwanzig, sie wollte sich noch nicht völlig festlegen. Ein Kind ist sicher etwas sehr schönes, aber es machte ihr auch Angst. Die Verantwortung und das alles. Es schreit, es beißt in die Brust, es kackt in die Windeln. Steffen war einer, der sagte, Kinder sind schon okay. Auch darin war er vollkommen relaxed. Nicht wie andere Männer, die sagen: Kinder?
Na, ich weiß nicht, lieber noch nicht, vielleicht mal, ja, das schon und so weiter. Die rumeiern und nicht wissen, was sie wollen, alles ein wenig und doch auch wieder nicht, die ein Kind zeugen und sich aus dem Staub machen.
Sie hatte einige Bekannte, die ihre Bälger alleine großzogen. Natürlich waren da auch welche darunter, die ihre Männer verlassen hatten und nicht umgekehrt. Würde sie aber schwanger werden, wäre es für Steffen okay und fertig. Er würde es durchziehen, warum sich davor fürchten? Neben ihm wurde sie eigentlich immer auf sich zurück geworfen. Fühlte sich klein und auch ein wenig allein. Sie wünschte sich, er könnte sich besser in sie einfühlen, mal nicht alles nur locker nehmen, mal auf sie eingehen.
Sie umrundete einen kleinen See und spürte einen ersten Regentropfen im Gesicht. Also doch. Sie seufzte. Man musste nur irgendetwas beginnen, schon drehte sich das Wetter. Als ob es einen ärgern wollte. Sie bog ab, hielt sich jetzt unter den Bäumen, die ein dickes grünes Dach über sie spannten und sie noch ein wenig schützen würden. Sie hörte die Tropfen auf den Blättern, ein schönes Geräusch, rauschend, wie ein Bach.
Da sprang sie jemand an, stieß sie zur Seite, weg vom Weg, sie taumelte und war vollkommen überrascht. Sie prallte mit dem Knöchel gegen die Eisenstange einer Wegbegrenzung, der Schmerz schoss ihr wie ein heißer Blitz in den Kopf, sie fiel auf weiche Erde, eine Hand quetschte ihren Oberarm.
"Du verdammte Schlampe, ich werde es dir schon zeigen", sagte der Kerl. Es war der Jogger von vorhin, nur hatte er jetzt eine Jacke an. Seine Augen waren wild, voll kalter Entschlossenheit.
"Nein", presste sie heraus, wollte ihre Beine anziehen und ihn wegdrücken, aber er war schwer wie ein Klotz.
Er riss ihr Top nach oben, sie spürte die kühle Luft auf ihrer schweißnassen Brust.
"Dreckstück", keuchte er. "Wenn du schreist, stech' ich dich ab."
Ein Messer, dachte sie entsetzt, er hat ein Messer. Sie konnte es nicht sehen, also hatte er es in der Tasche, oder es lag hier schon irgendwo, mein Gott. Er zerrte mit beiden Händen an ihrer Hose, zur Hälfte hatte er es schon geschafft, sie herunterzuziehen. Aber er musste sich dazu etwas aufrichten, so dass sie die Beine anziehen konnte und sie zwischen sich und den Kerl schieben. Wie ein Schutzschild. Leider hatte sie durch das Laufen nicht mehr so viel Kraft, sie spürte, wie ihre Muskeln brannten und nach Reserven suchten.
Da endlich gelang es ihr zu schreien. Sie schrie aber nicht Hilfe oder Helft mir oder Hierher, sie schrie: "Lass mich in Ruhe!" Ein Fehler, denn das klang nur wie ein Streit zwischen zweien, die sich kennen. Er presste seine erdverschmierte Hand auf ihren Mund, auf ihre Nase, es tat weh, er hatte Kraft. Keine Kondition, aber Kraft. Sie versuchte, den Mund zu öffnen und ihn zu beißen, aber er schien damit zu rechnen und drückte nur umso kräftiger zu.
Ihre Hose riss, eine Naht platzte, ihr nackter Hintern drückte sich gegen Laub, gegen Blätter, irgendwelches Zeug. Er knetete jetzt ihre Brüste, schnaufte, fummelte an seinem Hosenschlitz herum. Ließ sie plötzlich los, wich zurück, näherte sich noch einmal und schlug sie mit der Faust ins Gesicht. Sie sah bunte Punkte, ein Flimmern, Schemen. Hörte Schritte sich entfernen, eilig. Hörte den Regen wieder rauschen in den Bäumen. Blut lief ihr aus der Nase, dem Mund, nicht viel, sie wischte mit der Hand darüber, es tat weh.
"Mann, schau die Alte an ..."
"Die treiben's hier im Park."
"Geile Möse ... schön rasiert. Ne schmale Linie. Wie n' Ausrufezeichen."
"Das muss so sein, Alter, sag ich dir."
Sie richtete sich auf, sah zwei junge Kerle mit Bierflaschen und Zigaretten in den Händen vor sich stehen, auf sie herunterstarren, grinsen, die Coolen spielen. Sie versuchte ihr Top zu richten, das gelang ihr schnell, nur ihre Hose war an der Seite aufgeplatzt. Sie zog sie hoch und musste sie festhalten, sonst würde sie seitlich auseinander klappen wie ein Buch, ihren Bauch und ihre Scham und ihren Hintern freilegen. Eine Unterhose trägt man ja nicht zum Joggen, schon wegen dem Schwitzen.
Sie versuchte aufzustehen, aber als sie sich erhob, wurde ihr schwindlig und sie musste sich wieder setzen. Ihr Puls raste.
"Willst n' Schluck?" fragte sie einer der beiden. Er war vielleicht vierzehn.
Der andere lachte aufgedreht.
"Mann, dein Alter hatte es aber ganz schön eilig. Dem war's peinlich. Jetzt muss er dir n' neues Höschen kaufen, wenn de mich fragst."
"Hat sich aus dem Staub gemacht, Mutti. Ist schon heim gejoggt und lässt dich hier hocken. Finde ich ja ziemlich scheiße."
"Ja, Mann. Die Alte sieht doch aus, als hätte sie n' verdammter Panzer überrollt."
Sie setzten die Flaschen an und tranken. Lachten dabei, das Bier rann ihnen im Mundwinkel herunter, troff vom Kinn. Sie waren ziemlich dicht.
"Lasst mich in Ruhe", sagte sie, ihr Mund zitterte, alles an ihr begann sich zu verkrampfen.
"He, bleib ma' schön locker", sagte einer, rülpste. Der andere lachte.
"Mann, haut endlich ab!" rief sie.
Einer hob seine Flasche und leerte den Rest Bier über ihrem Kopf aus. Viel war es nicht. Sie schlug danach, als wären die Tropfen lästige Insekten. Die beiden lachten aufgedreht.
"Vorsicht", sagte einer. "Die hat's gerade nicht gehabt, obwohl sie's wollte. Da musste aufpassen, da werden die Alten zickig ..."
"Oh, Mann", sagte der andere. "Oh ... Mann."
Sie konnte sich endlich aufrichten, ihr Knöchel feuerte rhythmische, heiße Stromstöße hoch zu ihrem Kopf. Verbissen hielt sie die beiden Hälften ihrer Hose fest. Irgendwie musste sie hier wegkommen. Nach den ersten Schritten glaubte sie, es nicht zu schaffen. Doch die Aussicht, bei diesem Wetter bald alleine hier zu sein, war wie eine Faust in ihrem Nacken, die sie unbarmherzig weiter trieb.
"Die is' fertig, sag ich dir", hörte sie hinter sich.
Am Eingang sah sie die Notrufsäule. Doch sie wollte nicht reden, da waren andere Menschen mit Schirmen, Alte, irgendwelche Penner. Sie würden herüberglotzen, zuhören, am Ende sich einmischen. Danach war ihr nicht. Sie humpelte hinaus auf die Straße, es regnete nun heftiger, die Autos zogen Gischtfahnen hinter sich her, ihre Scheinwerfer warfen unruhige Reflexe. Sie fror, nur ihr Bein glühte, als hielte sie es in siedend heißes Wasser.
"Na, hingefallen, Frolleinchen?" sagte ein Opa.
Sie wollte Idiot sagen, aber es ging nicht. Ihre Zunge klebte am Gaumen, ihre Lippen fühlten sich taub an, sie sah die Welt wie durch ein Fenster.
Sie musste sich irgendwie anspornen, weiterzugehen, den Schmerz zu ignorieren. Sie setzte sich Ziele, die sie sehen konnte. Noch an diesem Eckhaus vorbei. An diesem Laden. An dem Mercedes da vorne. An der Pizzeria, wo sie sich manchmal was holten. Niemand kam ihr entgegen, kein Bekannter, kein Nachbar, das war gut, sie litt Angst, man könnte sie so sehen.
Schließlich ihr Haus, wie eine rettende Insel, aufsperren, die Hände steif, zitternd, endlich gab die verdammte Tür nach, eine Treppe, nächste Treppe, die Wohnungstür, rein und zuschlagen, hinter sich verriegeln. Sie sackte zusammen, ließ die Hose los, hielt sich die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Der Kerl packte sie, starrte sie an, warf sie zu Boden. Sie öffnete die Augen, sah den leeren Flur und der Kerl war wieder weg. Also durfte sie die Augen nicht schließen. Zwischen ihren Fingern sah sie hindurch. Alle Welt war so eigenartig fern jetzt.
Unter der warmen Dusche fand sie wieder zu ihren Gedanken. Oh Gott, sie musste zur Polizei gehen, zu einem Arzt. Aber wo sollte das hinführen? Sie würde Fragen beantworten müssen, tausend Fragen, was sollte sie sagen? Er hat sie geschlagen, ihre Hose zerrissen, aber mehr auch nicht. Was würden sie mit ihm machen, wenn sie ihn kriegen? Nicht viel wahrscheinlich, solche Typen kommen doch immer glimpflich davon. Ihr Knöchel war längst angeschwollen. Er sah übel aus, violett-rötlich verfärbt.
Sie trocknete sich ab, hockte im flauschig großen Bademantel auf dem Toilettendeckel, rubbelte ihr Haar. Nicht die Augen schließen, das war das Wichtigste. Den Augen Bilder geben, damit sie keine Gelegenheit haben, sich andere zu suchen.
Sie musste zum Arzt, natürlich. Es war Samstagabends, sie würde in eine Klinik müssen. Oh Gott, dieser Kerl wollte sie doch tatsächlich vergewaltigen. Mitten im Park, am helllichten Tag, sie schüttelte den Kopf.
Konnte das alles sein? Fühlte es sich nicht vollkommen irreal an?
Ihr Handy läutete im Flur. Sie wollte jetzt nicht mit irgendeiner Bekannten belangloses Zeug quatschen. Oder ihre Mutter würde anrufen, ihr könnte sie es nicht verheimlichen, sie würde schon an ihrer Stimme merken, dass etwas nicht stimmt.
Das Handy spielte eine Weile ihre Melodie, I want to break thru' ..., Queen, sie wollte es längst mal wieder ändern. Sie bewegte sich nicht, bis es verstummte. Als warte sie hinter einer Tür, bis ein unerwünschter Besucher aufgibt und abzieht. Sie bürstete sich die kurzen, blond gefärbten Haare, stand plötzlich auf, nahm das Handy, sah nach, wer angerufen hatte.
Steffen, du liebe Zeit.
Sie hatte nicht mehr an ihn gedacht seit ... ja, seit wann eigentlich? Diesem Vorfall da im Park. Warum rief er jetzt an? Die beiden waren doch noch gar nicht lange unterwegs, gerade mal ein, zwei Stunden. Er rief eigentlich nie an von unterwegs und genau darum fragte sie sich wohl die ganze Zeit, was er trieb, wenn sie nicht dabei war. Ob sie dann noch eine Rolle in seinem Leben spielte. Sie hätte doch rangehen sollen, gleich. Sie rief ihn an. Es dauerte nicht lange, bis er sich meldete.
"Endlich", sagte er.
"Warum rufst du an?"
"Könntest du fast raten ..."
Sie hörte, wie im Hintergrund gelacht wurde.
"Ich weiß nicht", sagte sie leise.
"Mir ist der Mistbock verreckt."
"Was?"
"Pleuel abgerissen oder so. Hab's wohl ein wenig übertrieben."
"Du hattest einen Unfall?"
"Nein, nein, mach dir keine Sorgen. Ich hab die Maschine ausrollen lassen und fertig. Jetzt ist natürlich tote Hose, verstehst du. Wollte mal vorsichtig bei dir anfragen, ob du schon was vorhast."
"Wieso?"
"Du könntest meinen Kombi nehmen und bei Paul den Motorradanhänger leihen. Ich hab ihn schon angerufen, er hat selbst keine Zeit, aber den Anhänger kann ich haben. Dann bräuchte ich die Maschine hier nicht stehen lassen."
"Du willst, dass ich zu dir komme?"
"Ja, wär' natürlich toll. Sorry für die Umstände, du wirst den Abend sicher anders verplant haben, aber ich mach's auch wieder gut, morgen zum Beispiel ..."
"Ich kann nicht fahren."
"Wieso kannst du nicht fahren? Was ist los?"
"Ich hab mich verletzt ... am Knöchel. Ich muss zum Arzt."
"Wieso verletzt? Wo denn?"
"Beim Joggen ... der Knöchel sieht schlimm aus. Er tut weh."
Sie hörte, wie er zu jemand sagte, sie hätte sich verletzt und könne den Wagen nicht fahren. Der andere, es war wohl Hansi, sagte: Du liebe Scheiße.
"Tut mir natürlich Leid ... blöde Situation das. Wie komm ich jetzt zurück?"
"Wo ist Hansi?" Sie wusste, dass er neben ihm stand und trotzdem fragte sie.
"Hansi ist hier ... neben mir. Aber auf seiner Schüssel ist kein Platz für zwei, das ist ne reine Solomaschine. Er hat hinten nicht mal Fußrasten. Kannst du wirklich nicht kommen?"
"Ich kann kaum stehen."
"Schatz, es ist nicht mal weit. Wir haben ne Runde gedreht, waren schon wieder auf dem Heimweg, sind nicht mal zwanzig Kilometer entfernt. Ich weiß nicht, ob es hier einen Bus gibt, der in die Stadt fährt."
Sie hörte, wie Hansi irgendeine Bemerkung über Busse machte. Steffen sagte "Mann, sei still, du Blödmann" zu ihm. Sie lachten.
"Lass den Anhänger weg", sagte Steffen, "und hol mich wenigstens ab. Dann fahre ich dich auch zum Arzt ... wenn es wirklich so schlimm ist."
"Es ist schlimm." Ihre Stimme wurde lauter.
"Okay, okay ...ich glaube dir natürlich. Will dir gar nichts absprechen. Aber ich bin in ner Scheißsituation hier. Zu regnen hat es auch noch angefangen."
"Hier auch", sagte sie.
"Also, was ist? Kommst du mich holen?"
"Wo bist du?"
Er beschrieb ihr den Weg und wo er auf sie warten würde. In einem Bushäuschen am Ortsrand, nicht schwer zu finden.
"Und du kommst wirklich?" fragte er noch einmal.
"Ja, ja."
"Du bist ein Engel, Schatz, meine RETTUNG ..." Er schrie das letzte Wort und lachte.
"Hast du eigentlich mal an mich denken müssen?" fragte sie ohne jede Betonung.
"Was? Wann meinst du?"
"Vorhin ... vor einiger Zeit. Ner Stunde ... oder so."
"Vor ner Stunde? Weiß nicht ... warum fragst du? Ich muss oft an dich denken, ich liebe dich, das weißt du ..." Hansi schien ihn zu schubsen und Steffen sagte: "Hör auf, du Sackgesicht."
Sie schwieg und er schien auch nur zu lauschen.
"Was ist jetzt?" fragte er. "Bist du noch dran?"
"Ja."
"Wartest du auf ne Antwort oder was ist los? Was soll ich sagen? Ob ich vor ner Stunde an dich gedacht habe? Wahrscheinlich habe ich an dich gedacht, ist das so okay für dich? Meinst du, als du dir den Knöchel verstaucht hast? Meinst du das? Als es wehtat, hast du an mich gedacht und willst jetzt wissen, ob es mir genauso ging ..."
Sie hatte nicht an ihn gedacht, fiel ihr ein. Sie hatte sich nur ganz allein gefühlt.
"Ja ... vielleicht", sagte sie.
"Darüber unterhalten wir uns in Ruhe, wenn du hier bist. Du kannst es leicht in einer halben Stunde schaffen ..."
"Ja."
"Dann bis gleich also?"
"Ja."
"Ich küsse dich." Er legte auf.
Sie setzte sich im Flur auf eine Bank, die dort nur zur Dekoration stand, zog die Beine an und tastete nach ihrem Fuß. Am Knöchel hatte sich Schorf gebildet, er fühlte sich rau an wie Sandpapier. Was verband Steffen eigentlich mit ihr? Was wollte sie von ihm? Oder ging es nur darum, nicht allein zu sein? War das mit der Liebe nur ein Trick, den sich die Natur ausgedacht hatte, um den Fortbestand der Menschheit zu sichern? Auch das hatte sie schon irgendwo mal gelesen.
Sie suchte nach einem Verband und wickelte ihn um den Fuß, dann könnte sie das Gaspedal vielleicht treten. Irgendwie wird sie es schaffen. Vielleicht brauchte man einander ja gar nicht und war sich nur irgendwie nützlich.
Diente es der Bequemlichkeit und dem persönlichen Wohlergehen, wenn man einander in den Arm nahm. Vielleicht, dachte sie, gab es in Wirklichkeit keine Geheimnisse und man glaubte nur daran, um sich zu beruhigen.
Vielleicht könnte man gar nicht mehr weiterleben, würde man die Wahrheit erfahren.



Eingereicht am 26. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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