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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Hölle
Renate Ivanisevic
Mundegetötet, abgetrennt von deinen Gefühlen, nicht in der Lage, zu reagieren, gedemütigt, ausgegrenzt, benutzt, verbraucht und unverstanden sitzt du vor dem Fenster deiner Seele und schaust blicklos in die ungefähre, pudrig dunstige Ferne des Horizontes. Bist du oder träumst du? Du weißt es nicht.
Du erinnerst dich an früher, als die Wirklichkeit wirklicher, farbiger und greifbarer für dich war, du noch wusstest, ob du träumst oder lebst. Nun ist diese Zeit Traum, das Leben entschwunden, der Vogel ausgeflogen, der Film vorbei und du weißt nicht mehr, wo und wann du dich selbst verloren hast. Es muss schrittweise geschehen sein. Viele kleine Tode, Augenblicke der Angst und Hoffnungslosigkeit.
Der Hund versteckt sich hinter deinem Rücken, der Mann gegenüber schreit und seine Stimme prallt von den Wänden deiner Wohnung auf dich zurück, lässt dich nicht schlafen, deinen Hund nicht zur Ruhe kommen. Du suchst in dir selbst Asyl, doch da ist kein Ort, dich zu verstecken. Dein Körper verkrampft sich, du möchtest schreien, doch deine Stimme ist zu schwach, zerbrochen.
Du nimmst den kläglichen Laut der Klage wahr, der aus dir selbst zu kommen scheint und bemerkst, dass du nichts mehr fühlst, nicht mehr weißt, ob es Tage oder Stunden sind, die als dunkelgrauer Schleier auf deine Seele niedersinken.
Von der Straße leuchtet eine grässlich gelbe, wackelnde Lampe dich blicklos an, während das Geräusch der vorüberfahrenden Autos sich zu einem grauen Strom verdichtet, der die letzten Fetzen deines sommerblauen Seelentuches in kleine Kinkerlitzchen reißt, sie auf der ausgefahrenen grauen Spur verteilt und auseinanderpustet.
Du wartest, atmest flach, lautlos, wagst es nicht, dich zu bewegen, verharrst in Reglosigkeit, Lautlosigkeit.
Du versuchst, diese Hölle zu überwinden, indem du dich tot stellst, doch sie lauert dir auf, in allem was du siehst, breitet sich in deinen reglosen Gliedern aus und erobert deinen Geist, der sich ebenfalls leer stellt und reglos verharrt. Du bist nicht mehr.
Am nächsten Morgen ist er bei sich. Entschuldigt sich, gequält, verquollen, schmutzig und schwitzend. Als du in seine rot geäderten Augen blickst, nimmst du das höhnische Grinsen einer unberechenbaren, sinnlosen argwöhnischen Hölle, wahr.
Verschwörerisch blinzelt er dir zu und du weißt sofort, dass du noch lange bleiben müssen wirst. Du versuchst, das Unabänderliche zu überlisten, indem du die Zeit ausschaltest, ihn in die Irre führst, zum Schein nachgibst. Argwöhnisch durchschaut er deine Taktik. Dann hoffst du, dass er tot umfällt, nichts geschieht.
"Du hast verloren, Baby, es ist vorbei, ich hab dich" liest du in seinem schmierigen Grinsen. Dir ist kalt, deine Glieder sind steif, auch deine Bewegungen haben jeglichen Sinn verloren. Du ergibst dich der Hoffnungslosigkeit und plötzlich ist er nicht mehr allein, hat dich als Zeitzeugen und Opfer. Siegesgewiss atmet er auf und fährt fort, dein Leben zu zerstören, doch jetzt braucht er mehr. Du sollst dich selbst zerstören und ihn dabei zusehen lassen.
Dein Mund ist tot, keinem wirst du je erzählen können, welches Grauen du durchmachst. Nie wieder wirst du dem Leben trauen, hinter aller Schönheit und Leichtigkeit wirst du für alle Zeit diesen Geruch der Gewalt vermuten …
Eingereicht am 25. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
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