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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Rückkehr

CriLie


Zögernd näherte sich Johanna dem Ort, den sie vor vielen Jahren verlassen hatte. Auch heute noch herrschte hier am Rande der Stadt eine angenehme Ruhe. Von der Hektik der nahen City war wenig zu spüren. Sie lief im Schatten der großen Alleebäume an der verwitterten Backsteinmauer entlang, die keinen Blick auf das Dahinter erlaubte. Üppiges Efeu rankte herab und suchte Halt in den Ritzen und Spalten des Mauerwerks. Dann stand sie vor dem hohen Tor. Rost überzog die massiven Eisenstäbe, verlieh ihnen einen antiken Charme. Kein Name zierte das Schild über dem Klingelknopf.
Der verwilderte Vorgarten versperrte den Blick auf das Haus fast vollständig. Die Bäume und Sträucher hatten mächtig zugelegt. Der schmale Kiesweg, der zum Haus führte, war nur noch zu erahnen. Grüne Polster hatten sich auf ihm ausgebreitet; niemand hinderte sie daran. In den Ästen der Birke waren die Reste eines Nistkastens zu erkennen. Morsche Teile waren heruntergefallen und dienten jetzt allerlei kleinem Getier als Unterschlupf.
Johanna umklammerte ihre Handtasche, als könnte sie bei ihr Halt finden.
Vorsichtig nahm sie den kühlen Griff des Tores in die Hand und drückte ihn herab. Die verrosteten Scharniere knarrten laut, leisteten aber keinen nennenswerten Widerstand. Es stand nichts mehr im Weg für den Schritt in die Vergangenheit. Es war aufregend und beklemmend zugleich, nach all den Jahren wieder hier zu sein.
Langsam, aber zielstrebig, machte sie sich auf den Weg zum Haus. Sie ließ die Blicke schweifen, nahm alle Eindrücke in sich auf. Obwohl die frühere Struktur fehlte, erkannte sie doch vieles wieder. In der hintersten Ecke, in wohltuenden Schatten getaucht, stand noch immer der Pavillon, den die Kletterrose in der Zwischenzeit vollständig in Besitz genommen hatte. Der kleine Teich in der Mitte des Gartens war von den tellergroßen Blättern einer Seerose vollständig bedeckt. Ein Frosch verschwand eilig im sicheren Dickicht des Schilfes, aufgeschreckt durch ihr Erscheinen. Grashalme und Blumen in allen Farben wiegten sanft im Wind. Bunte Libellen standen flirrend in der Luft und die steinerne Bank am Rand hatte Moos und allerlei Flechten angesetzt.
Nach wenigen Schritten stand Johanna endlich vor dem Haus. Auch an ihm hatte die Zeit deutliche Spuren hinterlassen. Das frühere Weiß der Fassade war einem diffusen Grau gewichen. An den verblassten Fensterläden blätterte die Farbe ab und auf den Scheiben lag eine braune Staubschicht. Die früher einmal rote Sandsteintreppe hatte eine grüne Patina angesetzt und in den Ecken fühlte sich Löwenzahn heimisch.
Johanna drehte sich um die eigene Achse, blickte auf den vertrauten Ort. Sie schloss die Augen und sog den Duft ein. Sie hörte Kinderlachen und das laute Bellen eines Hundes.
Erschrocken öffnete sie die Augen, doch jetzt war wieder Stille um sie herum. Sie schüttelte den Kopf und kramte den Schlüssel aus ihrer Handtasche. Dann ging sie entschlossen die wenigen Stufen hinauf zur Haustür und öffnete sie.
Stickige, abgestandene Luft empfing sie. Hier hatte schon lange niemand mehr für frischen Wind gesorgt. Das Haus, das früher eine quirlige Menschenschar beherbergte, stand schon lange leer, war ohne Leben.
Sie ging von Raum zu Raum. Überall der gleiche trostlose Anblick. Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt, über den wenigen noch vorhandenen Möbeln hingen große Tücher, an den Wänden hatte sich vergilbte Tapete gelöst. Teppichrollen lagen am Rande des Zimmers.
Johanna öffnete die großen Glastüren und ließ die warme Sommerluft hereinströmen. In den Sonnenstrahlen tanzten Staubwolken, die sie mit jedem Schritt, bei jeder Bewegung aufwirbelte.
Sie trat hinaus auf die Terrasse und blickte über die Wiese, die einmal ein gepflegter Rasen war. Zwischen den Sträuchern, am Ende des Grundstücks, schimmerte dunkelgrün und geheimnisvoll das Wasser des Flusses. Ruhig und gelassen zog er dahin, wie eh und je. Johanna fröstelte bei seinem Anblick.
Sie umklammerte ihren Körper, zog die Schultern an. Langsam kroch die Erinnerung, die ihr Leben damals aus der Bahn geworfen hatte, in ihr hoch.
Sie strich sich über die Stirn, als könne sie die Gedanken beiseite wischen.
Vergebens. All die Jahre war sie vor ihnen davongelaufen, doch sie wurde immer wieder eingeholt.
Es war ein Tag wie heute, damals, als das Unglück geschah. Sie spürte wieder die Panik, die Angst, das Entsetzen. Sah, wie das Wasser über ihrem Bruder zusammen schlug und ihn nicht mehr frei gab. "Ich habe nicht aufgepasst. Ich bin schuld, schuld, schuld". Die Worte dröhnten in ihrem Kopf. Sie ließ sich auf das Gras fallen und weinte hemmungslos.
Niemand wollte danach noch hier leben, mit all den Erinnerungen. Sie waren in eine andere Stadt gegangen, hatten versucht, ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Nur langsam und mit Mühe ist es ihnen gelungen, das Geschehen zu begreifen und zu akzeptieren.
Nun war Johanna zurückgekehrt in das Haus, das sie immer geliebt und das sie immer vermisst hat. Sie wollte es mit neuem Leben füllen, wollte das Lachen zurückbringen. Sie legte ihre Hand auf die noch kaum sichtbare Wölbung ihres Bauches.
Und morgen kommt Daniel. Sie lächelte. Dann ging sie ins Haus und begann, die großen Tücher von den Möbeln zu ziehen.



Eingereicht am 25. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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