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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Ein buntes Stück Pappe

Angelika Haymann


Erschöpft kam Silke aus dem Freibad, wo jugendliche Rüpel unbändigen Spaß daran fanden, ihr auf den Kopf zu springen oder mit ihrem Gekreische den letzten Nerv zu rauben. Zwischen Wurfsendungen vom Pizzaservice und Sonderangeboten vom Supermarkt lag eine Ansichtskarte in Silkes Briefkasten. Ein Hochglanzfoto zeigte türkisblaues Wasser und schneeweißen Sand. Silke seufzte sehnsüchtig und steckte die Karte, ohne vorerst einen Blick darauf zu werfen, mit der restlichen Post in ihre Badetasche. Sicher kam sie von ihrer besten Freundin Micha, die zurzeit in der Türkei ihren Urlaub verbrachte. Silke beneidete sie um ihre Selbstständigkeit, kein Mann genügte bisher auf Dauer deren Ansprüchen. "Wenn ich ihn finde, greife ich zu und bis dahin genieße ich mein Leben", pflegte sie zu sagen. Dabei lagen ihr die Männer zu Füßen! Jammerschade, dass Philipp keine Lust hatte, es Micha gleichzutun. "Was soll ich im Süden?", wimmelte er Silkes zaghafte Vorstöße in dieser Richtung ab.
Wie in jedem Jahr, verbrachte er seinen Urlaub jetzt mit seiner Männergruppe, Kollegen aus der Bank, in Norwegen. Frauen waren auf diesem Trip nicht zugelassen. Silke blieb zu Hause. Allein wollte sie nicht verreisen und Micha weilte ja im Süden. Dabei lachte draußen die Sonne und bescherte dem Land den schönsten Sommer seit Jahren! Vielleicht warf Silke ein paar Sachen in einen Koffer und fuhr auf gut Glück zum Flughafen? Ach, das tat sie ja doch nicht! Schon der Gedanke, allein in den Urlaub zu fahren, verursachte ihr Gänsehaut.
Langsam stieg sie die Treppen zu ihrer Wohnung im vierten Stock hoch, während sie in Gedanken an einem glitzernden Pool träge in einem Liegestuhl lag. Ein braun gebrannter, schwarzhaariger Kellner in knappen Shorts, servierte ihr eine eiskalte Pina Colada. Er zwinkerte ihr zu und flüsterte: "Heute Abend bei der Beach-Party?"
Schön wär's, einem Pummelchen wie Silke warf niemals ein Mann verführerische Blicke zu. Gut, dass sie Philipp hatte, eine zweite Chance bekam sie bestimmt nicht! Jenseits der vierzig konnte sie das vergessen.
Im Flur ihrer Wohnung ließ Silke die Tasche mit den Badesachen fallen und schleuderte die Sandalen von den Füßen. Barfuß ging sie in die Küche, wobei sie Kühle der Fliesen genoss und setzte sich dann mit einem Saft auf den Balkon. In der Wohnung stand die Luft, seit Wochen hielt die Hitze an.
Nachdem sie es sich bequem gemacht hatte, sah sie die Post durch. Zuletzt nahm sie Michas Karte zur Hand, warf einen flüchtigen Blick darauf und kniff die Augen zusammen. Sie las den Text noch einmal langsam, und jeder Buchstabe brannte sich in ihr Hirn.
"Ich verbringe hier traumhafte Stunden in einem exklusiven Hotel, die Sonne scheint. Was will ich mehr? Liebe Grüße, Micha. PS Philipp lässt dich ebenfalls grüßen."
Wie hypnotisiert starrte Silke auf das bunt bedruckte Stückchen Pappe in ihrer zitternden Hand. Bis vor einer Sekunde lediglich gepresstes Papier, mutierte es zu einem Schwert, das ihre Welt mit einem Schlag in Stücke hieb.
Die Karte fiel zu Boden und blieb mit der Schrift nach oben liegen. ,So fühlt es sich also an, wenn man stirbt', dachte Silke erstaunt. ,Es tut gar nicht weh! ' Eine Watteschicht trennte sie vom Rest der Welt. Die Straßengeräusche, das Hupen der Autos, das Rufen der Passanten, drangen von fern an ihr Ohr.
Lange saß sie da und starrte blicklos vor sich hin. Irgendwann erwachte sie fröstelnd, wie aus einem Traum. Eben versank die Sonne rotglühend am Horizont und sie hockte immer noch mit dem Glas in der Hand auf ihrem Stuhl.
Mechanisch räumte sie ihre Badesachen fort, die sie in einem anderen Leben auf dem Flur hatte fallen lassen. Ebenso mechanisch ging sie unter die Dusche und richtete sich dann etwas zu essen, ohne sich bewusst zu sein, was sie zu sich nahm. Später im Bett fand sie keinen Schlaf. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Ob Micha einen üblen Scherz auf ihre Kosten machte?
Schon möglich, obwohl es ihr im Grunde nicht ähnlich sah. Wenn es der Wahrheit entsprach - wieso hatte sie nichts bemerkt, und wie lange ging es schon? Nein, ihr Philipp hasste die Wärme. Vielleicht meinte Micha einen anderen Philipp? Ein Irrtum, das könnte sein. Schon seltsam, dass Micha Silke nicht einlud, sie in den Urlaub zu begleiten, obwohl sie wusste, dass Philipp nach Norwegen fuhr.
Silke trieb eine schlaflose Nacht dahin, zwischen Hoffen und Bangen. Ruhelos wälzte sie sich von einer Seite auf die andere. Als der Morgen dämmerte und die Sonne mit rosigen Fingern den jungen Tag streichelte, hatte sie eine Entscheidung gefällt gefasst. Sie würde sich selbst auf die Suche nach der Wahrheit machen und in die Türkei reisen. Unmöglich konnte sie herumsitzen und darauf warten, dass die beiden zurückkamen. Das hielt sie nicht aus! Im hellen Tageslicht kamen die ersten Skrupel und zwickten an Silkes Tatkraft.
Die Suche nach der Wahrheit bedeutete, in ein Flugzeug zu steigen und die Reise allein anzutreten. Im Laufe ihres dreiundvierzigjährigen Lebens hatte sie weder das Ausland besucht, noch in einem Flieger gesessen. Entschlossen schüttelte sie die lästigen Zweifel ab.
Sie packte eine Reisetasche mit dem nötigsten und traf wenige Stunden später auf dem Flughafen ein. Verzagt irrte sie eine Zeit lang umher, bevor sie an einem der zahlreichen Schalter um Hilfe bat. Die perfekt gestylte Dame dahinter, schüchterte Silke bereits ohne etwas zu sagen ein. "Da müssen Sie am Last Minute Schalter nachfragen", antwortete sie herablassend. Die Dame wandte sich wieder einer Kollegin zu, um das Gespräch fortzusetzen, das Silke mit ihrer Frage unterbrochen hatte. "Entschuldigung, wo bitte befindet sich der Schalter?" Die Frau seufzte tief und warf ihrer Kollegin einen Hilfe suchenden Blick zu. Am liebsten wäre Silke im Boden versunken, ob der Demütigung. Sie fühlte sich klein, unscheinbar und dumm. Kein Wunder, wenn Philipp sich in Micha verguckte. Sie hatte ohnehin nie verstanden, warum sich diese beiden selbstbewussten Menschen mit ihr abgaben.
Eine Stunde später startete ein Flieger mit Silke an Bord. Neben ihr setzte sich eine weißhaarige alte Dame umständlich zurecht. Sie schlug ein Buch auf, in das sie sich rasch vertiefte. Silke wünschte sich auch diese Gelassenheit. Sie fühlte sich furchtbar, als das Flugzeug abhob und sie den Boden unter den Füßen verlor. Ihre Hände umklammerten die Sitzlehnen, sie allein boten ihr Sicherheit in dieser verlorenen Weite. "Geht es Ihnen gut?"
Ihre Sitznachbarin tätschelte Silkes verkrampfte Hände. "Das ist mein erster Flug. Kaum zu glauben in meinem Alter, nicht wahr?" Silke lächelte schief.
"Nein, wieso? Es gibt für alles ein erstes Mal. Und es ist nie zu spät, mit etwas Neuem anzufangen."
Silke wandte sich ihrer Nachbarin zu und blickte in eine Paar kluge braune Augen. Sie stellte sich vor: "Ich heiße Silke Meister."
"Freut mich! Ich bin Lydia Winter und damit ist der Etikette genüge getan."
Beide lachten und ehe Silke es sich versah, erzählte sie Lydia von den Ereignissen, die sie hierher geführt hatten. Die alte Dame hörte zu ohne sie zu unterbrechen.
"Kindchen, was soll ich dazu sagen? Wenn Sie meinen, es sei der richtige Weg, müssen Sie ihn gehen. Haben Sie überlegt, was Sie tun werden, wenn Sie die Wahrheit wissen? Ich meine, Sie könnten den beiden furchtbar Unrecht tun."
"Nein, darüber habe ich nicht nachgedacht." Silke lachte leise. "Normalerweise handle ich allerdings nicht so spontan. Was soll's! Nun bin ich hier. Aussteigen kann ich schlecht, nicht wahr?"
"Das stimmt! Wissen Sie was, Silke? Ich bin auf dem Wege zu meinem Sohn, der dort unten wohnt. Hier ist die Telefonnummer. Egal, wie die Geschichte ausgeht, melden Sie sich bitte bei mir. Erstens interessiert es mich und zweitens haben Sie etwas Erholung verdient, nach der Aufregung."
Silke nahm das Angebot dankend an.
Sie unterhielten sich weiterhin angeregt, bis die Maschine zur Landung ansetzte. Das Fliegen war gar nicht so schlimm, wie Silke befürchtete hatte.
Lydia wurde bereits von einem sympathischen Mann erwartet, ihrem Sohn.
Interessiert sah er Silke mit den warmen Augen seiner Mutter an, nachdem diese ihm ihre Begleiterin mit den Worten: "Sie sucht hier die Wahrheit!", vorgestellt wurde. Zum Abschied nahm Lydia die Jüngere fest in die Arme. Sie flüsterte ihr zu: "Viel Glück, Silke und melden Sie sich!" Dann verschwand sie mit ihrem Sohn in der Menschenmenge.
Silke fühlte sich erneut hilflos und verloren. Erschrocken schrie sie auf, als sie unvermutet einen derben Stoß in den Rücken erhielt. Ein junger Mann rannte an ihr vorbei zum Ausgang. Er verschwand, ehe Silke reagieren konnte. Sie griff nach ihrer Reisetasche, die sie abgestellt hatte um sich von Lydia zu verabschieden.
Sie war fort, man hatte sie bestohlen! Silke zitterte am ganzen Körper. Ihre Handtasche? Wenigstens diese hing noch über ihrer Schulter! Außer der Kleidung, die sie trug, hatte sie nichts mehr dabei. Das fing ja gut an! Sie überzeugte sich hastig davon, dass sich Geldbörse und Papiere noch in der Tasche befanden. Ob es Sinn hatte, zur Polizei zu gehen? Ach nein, sie konnte kein Englisch und erst recht nicht die Landessprache. Wieder wurde Silke sich schmerzlich ihrer Unselbstständigkeit bewusst. Sie wechselte Geld, wie Lydia es ihr geraten hatte, ehe sie sich ein Taxi nahm, das sie zu Michas Hotel fahren sollte. Hoffentlich konnte sie dem Fahrer erklären, wohin sie wollte.
Nach einer halsbrecherischen Fahrt durch die Berge, setzte der Mann sie vor einem riesigen Glasgebäude ab. Was nun? Sollte sie einfach hineingehen und nach Micha fragen? Oder lieber gleich nach Philipp? Bestätigte man ihr, dass er hier wohnte, wusste sie Bescheid und kam um ein peinliches Gespräch mit einem oder beiden herum. Unschlüssig stand sie vor dem Eingang. Der goldbetresste Portier warf ihr bereits fragende Blicke zu. Schließlich verschob sie ihr Vorhaben und suchte an der Promenade ein Cafe auf. Ein hektischer Kellner servierte ihr den Cappuccino ohne verschwörerisches Augenzwinkern, geschweige denn, dass er knappe Shorts trug.
Genau genommen nahm niemand Notiz von ihr! Silke fühlte sich hundeelend und allein. Um sie herum wimmelte es von Paaren und Familien. Alle lachten glücklich und hatten offensichtlich viel Spaß. Es kam ihr vor, als trug sie ein Schild um den Hals: "Single sucht Anschluss". Die anderen Frauen rückten dichter an ihre Männer heran und demonstrierten Besitzanspruch.
Hochnäsigkeit wich den anfangs mitleidigen Blicken, in den Silke jetzt las: "Wage es nicht, dich zu nähern. Wir sind bereits eine Gruppe!"
Diese dummen Gänse! Sie konnte einen Mann vorweisen. Nur wusste sie im Augenblick nicht, wo er sich aufhielt und ob er noch zu ihr gehörte. Seufzend trank sie langsam ihren Kaffee. Sie zermarterte sich den Kopf über ihr weiteres Vorgehen. Allmählich kam sie zu der Überzeugung, dass sie vielleicht voreilig gehandelt hatte. Aber sie musste diesen Weg zu Ende gehen.
Fünf Cappuccinos später war sie nicht klüger. Ihr wurde lediglich übel von dem vielen Kaffee. Sie konnte nicht ewig hier sitzen, irgendwo musste sie übernachten. Sicher nicht in dem Cafe, das sich bereits leerte. Die Gäste machten sich auf den Weg in ihre Hotels, um sich auf den Abend vorzubereiten. Silke musste zu einem Entschluss gelangen. Sie winkte dem Kellner und zahlte, straffte die Schulter und eilte zielstrebig dem Hotel entgegen. Je dichter sie herankam, desto langsamen wurden ihre Schritte.
Wieder stand sie unschlüssig vor dem Eingang und sofort fasste der Portier sie ins Visier. Silke wandte sich ab. Suchend ließ sie ihren Blick rundum schweifen. Vielleicht gab es in der Nähe eine kleine Pension, in der sich ein Zimmer nehmen konnte? Hier standen ringsum nur große Hotels in ihrer kalten Pracht. Ob sie Lydia anrufen sollte? Oh, diese Wankelmütigkeit!
Der neue Morgen entdeckte Silke auf einer Bank am Strand. Gerädert erhob sie sich, doch lag der Weg nach dieser zweiten schlaflosen Nacht, klar vor ihr.
Unsicherheit und mangelndes Selbstbewusstsein hatten sie an diesen Punkt gebracht. Nur deswegen kam sie auf den Gedanken, Micha und Philipp würden sie hintergehen. Überrascht stellte sie fest, dass es keine Rolle mehr spielte. Sie würde ihr Glück nicht länger von anderen abhängig machen. Die beiden starken, erfolgreichen Menschen vermittelten ihr ein Gefühl der Unzulänglichkeit, auf dem sie sich ausruhte. Nur keine Verantwortung für sich selbst übernehmen! Damit war es jetzt vorbei. Silke suchte Lydias Telefonnummer heraus und sagte zu ihrer mütterlichen Freundin: "Kann ich kommen? Ich weiß nun Bescheid."
Sie winkte ein Taxi heran und stieg ein.
Den Mann und die Frau, die Arm in Arm das Hotel verließen, sah sie nicht mehr. Es waren Micha und Philipp.



Eingereicht am 25. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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