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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Befreiung

©Magdalena Bott

Im Zimmer waren die Rollläden heruntergelassen, die Fenster geschlossen. Lydia lag im Bett, hatte Kopfschmerzen und konnte kaum atmen. Die Luft war völlig verbraucht, und sie hatte sie noch zusätzlich mit ihren Zigaretten verpestet. Mühsam schlug sie die Decke zurück und quälte sich aus dem Bett. Auf dem Weg zum Fenster sich hintastend, warf sie das Wasserglas um und stieß mit ihrem kleinen Zeh schmerzhaft an das Tischbein. Sie hatte nicht mal die Kraft, laut zu fluchen, wie sie das sonst so gerne tat, wenn sie genervt war.
Lydia riss das Fenster auf und zog den Rollladen um Spaltesbreite nach oben. Gierig sog sie die kalte Luft ein. Dann schleppte sie sich zum Bett zurück, wobei sie noch in die Wasserpfütze trat, die sie verursacht hatte. Sie deckte sich zu und fror. Als sie sich halbwegs aufgewärmt hatte, griff sie zum Tabak, dem schon ganz krümeligen und trockenen, und drehte sich umständlich eine Zigarette. Sie schmeckte widerlich, trotzdem rauchte sie sie zu Ende. Den Durst und das Brennen auf der Zunge überging sie, weil sie keine Lust hatte, Wasser zu holen.
Sie versuchte noch mal einzuschlafen, fiel aber nur in einen Döszustand, der das Gefühl der Leere und Dunkelheit in ihr lediglich verstärkte.
In der Küche läutete das Telefon. Lydia nahm es wie durch eine Nebelwand wahr. Dann war es wieder still. Draußen toste der Nachmittagsverkehr. Sie fühlte sich gestört, hatte aber nicht den Drive, nochmals aufzustehen und das Fenster wieder zu schließen.
Endlich schlummerte sie langsam ein. Nur noch schlafen, nach Möglichkeit nichts träumen. Vergessen, alles vergessen. So ging es nun schon seit drei Tagen. Oder waren es bereits vier?
Lydia wurde nachts wach, als ein paar Betrunkene unter ihrem Fenster lauthals grölten. Mit aufgerissenen Augen starrte sie in die Dunkelheit, und zum ersten Mal seit sie sich hingelegt hatte, knipste sie die Nachttischlampe an. Überall lag Asche und Tabak verstreut, die Kleider kreuz und quer im Zimmer. Sie stand auf und fühlte sich plötzlich gestärkt und frisch. Mit einem Schwung waren die Rollläden hochgezogen. Sie schloss das Fenster, ging in die Küche und setzte Kaffeewasser auf. Das Geschirr hatte sich bedrohlich getürmt und war teilweise schimmelig. Sie öffnete den Kühlschrank. Die Milch war sauer, der Käse hart und trocken. Sie aß ihn trotzdem. Brot war keines da. Sie ließ den Kaffee stehen, weil sie ihn schwarz nicht trinken konnte, zog sich an und verließ die Wohnung.
Die kalte, frische Luft wirkte belebend. Der Türke nebenan hatte glücklicherweise noch auf. Lydia aß voller Genuss ein großes Kebap, bezahlte und schlenderte in die Wohnung zurück.
Mechanisch ging sie zum Bücherregal, nahm alle Fotoalben und warf sie in den Müll, ohne noch mal einen Blick hinein zu werfen. Dann öffnete sie eine Schublade und tat das Gleiche mit sämtlichen Briefen, die sie im Laufe von fünfzehn Jahren gesammelt hatte. Sie machte auch nicht Halt davor, ihre eigenen schriftlichen Werke zu vernichten, die sie dann auch schließlich im Computer löschte. Dem Vermieter schrieb sie eine Kündigung. Im Internet dann, durchforstete sie die Annoncen der Wohnungsangebote und notierte sich ein paar Telefonnummern, die sie am nächsten Morgen anrufen wollte. Inzwischen war es drei Uhr Nacht.
Lydia fing an, ihre Sachen zusammenzupacken. Dabei wurde noch so manches aussortiert und entsorgt. Morgens um sieben hatte sie das Gröbste hinter sich und machte sich auf, um in der Bäckerei Brötchen und Milch zu kaufen.
Als sie die Wohnung wieder betrat und ihr nächtliches Werk sah, überkam sie flüchtig der Gedanke des Bedauerns und der Nichtsnutzigkeit, aber sie schob ihn bei Seite und setzte an seine Stelle: "nicht bereuen." "Jetzt oder nie. Oder willst du im Bett verfaulen, nur weil andere nicht so wollen, wie du das gerne hättest. Denen ist es doch letztendlich schnuppe, was aus dir wird. Es ist dein Leben und niemand hat sich da einzumischen." So baute sie sich wieder auf, und sie fühlte sich stark und autonom.
Wie viele Tage und Nächte hatte sie auf diese Weise in ihrer Wohnung dahin vegetiert, wenn alle Kräfte zu versagen schienen. Nein, nie mehr. Solche dunklen Zeiten würden keinen Raum mehr in ihrem Leben einnehmen. Dafür würde sie schon sorgen.
Lydia machte telefonisch ein paar Besichtigungstermine aus, und das Schicksal schien es gut mit ihr zu meinen. Eine Woche später unterschrieb sie einen Mietvertrag für eine helle geräumige Wohnung in einem ruhigen Viertel.
Jetzt rief sie Freunde an, die sie zum Teil auch vernachlässigt hatte, und in langen Gesprächen setzte sie sich mit ihnen auseinander, berichtete von ihrem neuen Anfang und dem neuen Leben, das sie erwartete. Zu einigen von ihren Leuten wollte sie keinen Kontakt mehr, so genannte Freunde, die mitverantwortlich waren für ihre düsteren Phasen.
Nachdem sie die neue Wohnung bezogen hatte und wieder zur Ruhe gekommen war, überflog sie rückbesinnend ihre Vergangenheit. Was hatte ihr immer wieder die Kraft gegeben, noch mal aus diesen Depressionen aufzutauchen. War es der Überlebenstrieb oder eine andere Kraft, die sie nicht benennen konnte? Waren Selbstheilungskräfte am Werk gewesen? Eines war klar. Irgendein Schlüsselerlebnis hatte es dafür immer gegeben. Und dieses Mal waren es einfach nur die Stimmen der Betrunkenen, die sie ins Leben zurückgerufen hatten. Sie empfand eine tiefe Dankbarkeit und fühlte sich befreit.
Während Lydia in früheren Zeiten mit viel Kraftaufwand, und teilweise auch Zwang, Änderungen in ihrem Leben herbeiführen wollte, veränderte sich nun ihr Alltag auf wundersam einfache und spielerische Weise. Sie bereute nichts und fing von Neuem an zu schreiben und auf eine Art kreativ zu sein, die sie sehr ausfüllte. Die Freunde, die ihr geblieben waren, erkannten sie nicht wieder. Dinge, die ihr früher keinen Spaß gemacht hatten, interessierten sie plötzlich. Sie backte ihr Brot selber, manchmal auch einen Kuchen, inszenierte gemütliche Treffen und empfand es nicht mehr als Zeitverschwendung auch mal ein Gesellschaftsspiel zu spielen. Neue Interessen öffneten ihren Horizont und ließen den Tag kurz erscheinen. Schließlich wurde ihr bewusst, dass das beste Mittel gegen Depressionen, die Hinwendung zum Leben war, weg vom eigenen Schmerz und Selbstmitleid. Wie viele gab es, denen es auch schlecht ging und die für Anteilnahme dankbar waren. Dieses Sich-selbst-im-Kreis-drehen kotzte sie inzwischen an und sie ließ es auch nicht mehr zu. So manches Mal überfiel sie noch die Anwandlung, die Rollläden zu schließen und sich ins Bett zu verkriechen. Dann nahm sie ein Blatt Papier und ließ ihren Frust auf ihm aus. So entstanden mit der Zeit Monstergeschichten aus dem täglichen Leben gegriffen, aus denen sie einiges für sich erkennen konnte und die sie bereicherten. Die so genannten Monster waren immer irgendwelche widrigen Umstände oder Hindernisse, auch Menschen, die sie gerade belasteten und mit denen sie sich auf diese Weise kreativ auseinander setzte. Schließlich hatte sie eine beachtliche Anzahl solcher Geschichten gesammelt.
Sie hatte für sich erkannt, dass echte Kreativität das Leben erst lebenswert macht, und wenn sich einer ihrer Freunde oder Mitmenschen in einem dunklen Loch befanden, war sie bemüht, deren Kreativität in Gang zu setzen, indem sie motivierte und anspornte und dadurch fast immer mehr oder weniger erfolgreich war. Ihr neues Lebensmotto lautete: "Zu leben heißt, kreativ zu sein." Das beflügelte und inspirierte sie durch ihr weiteres Leben. Und wenn sie jemand fragte, was sie so treibe, gab sie meistens zur Antwort. "Ich lebe."


Eingereicht am 24. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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