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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Maya und das unentdeckte Land
©Jürgen Kirschner
Es war eine leere Straße an jenem Abend im Frühling; die Straßenlaternen leuchteten hell auf. Sie, Maya, ging langsam, in Gedanken vertieft, vom Haus mit der Nummer 7 zum Bahnhof. Ein kühler Wind kam auf. Er wehte ihr frisch durch die Haare. In der Nähe konnte man das Grollen eines Donners hören. Regen sagte sich an. Sie bemerkte es nicht. Ihre Gedanken waren nicht in ihrem Kopf. Sie schwelgten in Illusionen und Träumen. Sie lief fast wie blind durch die Nacht. Als der Regen einsetzte und die ersten dickeren
Tropfen auf ihr Haupt fielen erwachte sie aus ihrer Traumfabrik. Sie tänzelte einfach weiter ohne sich umzusehen wo sie war und wo sie entlang lief. Die feinen Tropfen von gerade eben wandelten sich sodann in einen heftigen Schauer. Zuerst bemerkte sie es nicht einmal; sie genoss sogar die Erfrischung von oben. Langsam erhob sie ihre beiden Arme und versuchte dabei den Himmel zu greifen. Sie erquickte sich in dem was da auf sie herunterkam. Losgelöst von jeglichen Gedanken tänzelte sie weiter durch die Nacht.
Sie war glücklich verliebt. Gerade hatte sie mit ihrem Verlobten einen wunderschönen Abend verbracht. Zuerst waren sie im Kino. Der Film war ja so romantisch schön. Danach gingen sie zum Italiener und aßen Krabben. Die Flasche Rotwein nahmen sie mit. Bei dem Blumenladen, kurz vor dem Haus, in dem er ein Appartement besaß, das er immer nutzte, wenn er gerade in der Stadt war, kaufte er ihr 35 rote Rosen. Als er ihr den Strauß in die Arme legte, küsste er sie zärtlich und schob ihr dabei sanft den Diamantring an
den Finger. In seinem Schlafzimmer lief die Stereoanlage schon mit sanfter Klaviermusik. Es war ihr Lieblingsstück. Die folgenden Stunden vergingen wie im Flug, zu schnell und zu schön, wie noch nie. Doch nun war sie nicht mehr bei ihm, körperlich. In Gedanken lag sie noch in seinen Armen. Langsam zog Nebel durch die Straßen und Gassen. Sie erinnerte sich wieder an ihren ersten gemeinsamen Urlaub in Belize. Beide saßen damals am Pool und tranken einen Martini. Ein Animateur versuchte sie zum Lachen zu bringen.
Er hatte einfach keine Chance. Ihr Freund war der Erbe eines großen Imperiums. Sein Privatjet stand jederzeit bereit. Die Welt stand diesen beiden, von Erfolg verwöhnten, jungen Leuten offen. Ja, sie war zu sehr in ihren Gedanken gefangen, dass sie es nicht erkennen konnte. Oder sollte sie es auch nur nicht erkennen? Sollte passieren was passieren sollte und musste?
In einer langen Allee geschah es dann. Es war Neumond. Einige Lampen waren hier, in diesem Teil der Straße, ausgefallen. Die Bäume verdeckten mehr als sie zu erkennen gaben. Der aufziehende Nebel und ihre dunkle Kleidung sorgten für den Rest. Die durchdrehenden Reifen des herannahenden Autos hatte sie einfach nicht gehört. Die Jugendlichen im Auto waren betrunken. Sie kamen aus der Disco. Diese jungen Menschen in jenem Wagen konnten oder wollten nicht begreifen was sich dann ereignete. Maya wurde frontal erfasst
und flog bald 17 Meter durch die Luft bevor sie wieder mit dem Boden in Berührung kam. Sie schlug einfach nur auf den Pflastersteinen auf. Die zu Tode erschrockenen jungen Männer und Frauen im Auto hielten nicht einmal an. Sie gaben einfach nur noch Gas und verschwanden in irgendeiner der Straßen. Sie aber, sie lag regungslos auf der Straße in einer Pfütze. Blut quoll aus ihren Augen und dem leicht gezerrten Mund. Irgendwo öffnete sich ein Fenster. Jemand sah hinaus und schrie laut um Hilfe. Maya, die junge Frau,
konnte es spüren, hören und sehen. Sie lag einfach nur so da, und alles war wie es war. Vor ihren Augen lief ein Film ab. Es waren sehr schöne Bilder aus ihrer Vergangenheit. Bilder von und mit ihrem ersten Freund, Szenen aus ihrer Schulzeit, als sie im Theater die Prinzessin spielen durfte. Es waren aber auch andere Ausschnitte erkennbar. Ihre Geburt war eine Qual für die Mutter. Als Baby weinte sie sehr viel. Ihren Vater sah sie in diesen Reflexionen nie. In dieser Situation wurde ihr erst bewusst, dass sie
doch eigentlich nie einen richtigen Vater hatte. Männer gab es zwar viele im Leben ihrer Mutter, doch wer war ihr richtiger Vater? Einen Kindergarten kannte sie auch nicht, jedenfalls nicht von innen. Ein Kindermädchen, sehr oft auch Au-pair-Mädchen kümmerten sich um Maya, als sie noch so klein war. Dann kam die Schulzeit, ihre erste richtige Liebe, wie sie damals glaubte, danach ihr Absturz, ihre Drogensucht. Sie wollte ja einfach nur in sein und dazugehören. Sie spürte wieder die Qualen des Entzuges in sich.
Sie begriff, wie dumm und einfältig sie doch war, damals, und vielleicht auch heute immer noch. Ihr Leben streifte vor ihren inneren Augen entlang. Es war so leicht und einfach, fast so wie im Kino. Angenehme Wärme durchzog ihren Körper. Es war fast so, als wenn ein zarter Fön sie bei einem Sonnenbad streifen würde. Dabei verspürte sie Schwingungen, die wie Wellen in ihrem Körper auftrumpften, vom Kopf bis in die Zehen und wieder zurück in den Kopf. Langsam schwebte sie nun empor, bis sie aus ihrem Körper heraus
war; knapp darüber, etwa 30 bis 40 Zentimeter oberhalb ihres stofflichen Körpers begann sie nun, sich auf einer imaginären Fläche zu entfalten und auszubreiten. Sie richtete sich auf und sah sich um. Die jetzt metaphysische Frau beobachtete alles was um sie herum geschah. Doch niemand von den herbeieilenden Menschen konnte sie sehen. Sie wandelte durch diese Leute einfach hindurch, gerade so, als wäre nichts passiert. Man hätte glauben können, dass sich der Unfall niemals ereignet hätte. Sie hörte die Worte der
Leute, wie sie zitternd sprachen, sie sah die Angst in den Augen dieser irritierten Menschen, sie spürte ihre inneren Unsicherheiten. Dann kamen auch schon der Notarztwagen und die Polizei. Sie stand dabei, als die Sanitäter ihren zerschundenen Körper auf die Bahre legten und mit hoher Geschwindigkeit in der Nacht verschwanden. Als die Sanitäter im nächsten Klinikum ankamen war sie schon da und folgte dem im Sterben befindlichen Körper, der ihr fast schon unbekannt gewordenen Person auf der Bahre, bis in die
Notaufnahme. Dort hörte sie die Worte des Arztes: "Da gibt es nichts mehr zu machen. Die ist tot, absolut keine Chance mehr. Die hat kein Blut mehr in sich, und was da noch alles gemacht werden müsste, - hoffnungslos. Schreib sie ab." Eine Schwester meinte noch: "Wie die aussieht hat die aber Geld. Das könnte sich vielleicht lohnen." "Lass sie; wen es trifft, den trifft es. Das ist halt so. In dem Geschäft spielt es keine Rolle ob du Geld hast oder nicht."
Nachdem diese Worte verklungen waren, schwebte sie aufwärts. Erst langsam, dann etwas schneller, bis sie plötzlich wie im Flug in die Höhe schoss. Es war dunkel; sie konnte nichts sehen. Dann war sie plötzlich in einem wohligen, weißen Raum, wie sie später einmal meinte. Vor ihr befand sich eine Treppe. Langsam stieg sie die Stufen hinauf, gerade so als würde sie von dort oben magisch angezogen. Sie musste einfach hinauf. Je weiter sie vorankam, desto schneller lief sie. Als sie ganz oben ankam, spürte sie eine
Veränderung an und in sich. Sie war wieder das junge 18-jährige Mädchen von damals. Sie war vollkommen. Sie hatte einen perfekten Körper, und alles an ihr war vollkommen, perfekt und schön, so wie sie es sich immer gewünscht hatte und selbst als Teenager doch niemals war, gleich wie sie auch nachgeholfen hatte. Eine Hand legte sich sanft auf ihre linke Schulter. Maya, die Heimkehrerin, sah in die Augen ihrer Mutter, die 12 Jahre zuvor bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war. Sie war damals unter den
Trümmern eines Triebwerkes verbrannt. Die beiden Frauen nahmen sich vor Glück in die Arme und weinten. Auch ihre Mutter war wieder das 18-jährige Mädchen, genau so wie sie damals war, vor 35 Jahren, als sie noch lebte. Ihre Haut und ihr Körper waren makellos und rein. Von dem schrecklichen Tod der Mutter, war an ihrem Körper nichts zu sehen, nicht eine noch so kleine Schramme oder aber Wunde. Es war ebenso wie auch bei ihr, bei der Tochter. Die Frauen unterhielten sich sehr lange. Diese Art der Unterhaltung verlief
in Telepathie. Gedanken waren und sind vollkommen. In einer vollkommenen Welt wie dort, sind und waren Worte fehl am Platz. Fehlerhafte Worte und fehlerhafte Artikulation allgemein ist für fehlerhafte Menschen, nicht aber für die, die dort sein dürfen wo Maya in dem Moment gerade war. Man dachte etwas, und genau die Person, für die es bestimmt war, erhielt die Mitteilung. Worte waren etwas für fehlerhafte Kreaturen. Eine primitive Sprache konnte nicht das widerspiegeln, was hier an Sinnen erdacht wurde. Zeit
gab es hier auch nicht. Wie lange sie da herumsaßen und miteinander sprachen wusste sie nicht. Jegliches Gefühl für Zeit, Tempo, den Rausch der Geschwindigkeit, den Maya so sehr liebte, den gab es hier nicht. Es war, als würde die Zeit still stehen. Ja, es war sogar so, als würden Raum und Zeit zusammen eine lebende und doch unveränderbare, konstante, statische Einheit bilden. Ihre Mutter sprach viel über die Welt dort oben, dort wo sie gerade waren. Es war wie in einem wunderschönen Traum. Alles war in Ruhe
und Frieden. Dort gab es weder reich noch arm. Es gab weder alt noch jung noch andere Gegensätze. Die Waage war im Gleichgewicht, exakt auf ihrem Mittelpunkt. Dualität war zwar auch dort gegeben, fast so wie auf der Welt der Menschen, doch eben irgendwie anders. Dann aber, dann sprach die Mutter die Worte, die Maya damals nicht verstehen wollte. Sie erzählte ihrer Tochter von der Zukunft, die sie, die Tochter noch erleben sollte, weshalb Maya auch wieder gehen müsste. Sie durfte noch nicht bleiben. Ihre Zeit
war noch nicht reif. Die Prüfung war noch nicht bestanden. Selbst der Weg zu Mayas Ziel, zu ihrer persönlichen Prüfung, war noch in vollem Gange. Es war so schön dort oben, oder wo immer sie auch in dem Moment gerade war, dass sie nicht gehen wollte. Die noch unerwünschte Heimkehrerin wollte bei ihrer Mutter bleiben. Als in Maya diese Gedanken aufkamen, kam ein Mann auf die beiden Frauen zu. Obwohl sie diesen Mann zu Lebzeiten doch fast nie gesehen hatte, erkannte Maya ihn sofort. Es war ihr leiblicher Vater,
nicht einer der vielen anderen Väter und Onkels die sie im Laufe ihrer Kindheit ertragen musste. Ja, selbst ihr leiblicher Vater war schon dort. Er wurde einst entführt. Die Geldübergabe scheiterte. Tage später fand man ihn mit abgetrenntem Kopf in einem Seitenarm eines Flusses. Auch ihr Vater erklärte Maya nun noch etwas, mehr oder weniger, von dieser metaphysischen Welt, was die Tochter jedoch noch nicht begreifen wollte und konnte. Er nahm sie sodann fest an die Hand und ging wenige Schritte mit ihr hinter
diese Barriere, die wie ein großes Tor erschien. Er zeigte seiner Tochter einige Ausschnitte und Fragmente dessen, was sie einst verlassen hatte um später mit neuem und erweitertem Wissen wieder heimkehren zu können. Ein Wissen, das allen Leben dort oben zustehen würde und sollte. Doch sie wollte immer noch nicht verstehen und auch immer noch nicht zurück auf die dunkle und kalte Welt des realen Menschen. Sie weigerte sich und dachte daran, um Hilfe zu schreien, dass man ihr doch helfen sollte. Was dann geschah
überstieg fast ihre Auffassungsgabe. Ein wärmendes Licht, wie eine Sonne und doch anders, ganz anders, wie eine Energieform von dessen Existenz hier auf Erden noch niemals zuvor jemand etwas erfahren haben sollte, nahm die Frau in sich auf und führte sie zu dem Inneren jener fremden und doch so sehr bekannten und vertrauten Welt. Die unendliche Weisheit allen Wissens, die Energieform, die gleichzeitig Anfang und Ende beschrieb, zeigte der Frau das, was bis dahin noch nie ein Mensch zuvor sehen durfte. Ab jenem
Moment kannte diese Frau das große Geheimnis. Sie kannte den Lauf der Zeit in ihrem Lebensabschnitt, den sie auf Erden noch verbringen sollte. Es war die symbolisch beschriebene Zukunft der Menschheit. Danach war sie jedoch so irritiert und doch auch gleichzeitig glücklich fasziniert, dass sie sich fast wie starr, versteinert wegtragen ließ. Die Mutter wartete noch an diesem Eingang, dem Übergang zwischen einer Welt aus Raum und Zeit und der Welt ohne Raum und ohne Zeit. Ihr Vater war schon wieder verschwunden,
so wie auch damals immer, auf der Erde, als sie noch ein Kind war. Papa war einfach nie da. Auf dem Weg, hin zu diesem Übergang, zu diesem Tor, sah sie, wie sich ein kleines Lamm um einen Wolf kümmerte. Das Lamm fürchtete sich nicht vor dem Wolf. Die Augen der Frau mit Namen Maya, einem Namen den es dort nicht einmal gab, da dort alles Leben eine Einheit aus individuellen Gleichen bildete und so ohne Namen erst vollkommen werden konnte und kann, schweiften umher, und sie erkannte, dass hier vieles anders war
als dort, wo sie wieder hin musste. Eine Gazelle kümmerte sich liebevoll um einen großen, mächtigen Löwen, der mehr als unsicher seinem irdischen Opfer zugegen war. Sie spielten miteinander. Ja selbst sogar Bäume und Steine unterhielten sich in der gleichen Telepathie, wie sie auch alle anderen Leben benutzten. Auch sie waren hier als Lebewesen erkannt worden. Es war einfach wie es war und wie es immer sein wird. Kurz bevor sie diese unbeschreibliche Welt wieder verlassen musste, warf Maya auch noch einen Blick
auf die Erde, den Planeten, auf dem sie nun wieder erwachen sollte. Selbst dieser Brocken im Weltall war hier als Lebewesen erkennbar. Die Menschen dort waren wie die Flöhe auf einem Hund. Irgendwie gehörten sie zwar dazu, aber sie hatten doch die verdammte Pflicht, sich wenigstens ihrem Lebensraum, der Natur, anzupassen und den Planeten nicht so im Raubbau auszubeuten. Auch das Sonnensystem ringsherum und alles andere, jede Galaxie und jedes Universum waren Lebewesen und Lebensformen in ihrer eigenen, individuellen
Fasson. Damals erkannte die Frau, dass die Menschenwesen auf dem Planeten Erde nichts anderes als dumme, einfältige Vorprimaten waren, die nicht im Geringsten auch nur erahnen konnten, was sich real um sie herum alles abspielen sollte. Mutter und Tochter mussten sich nun wieder trennen. Ihre Mutter trat einen Schritt hinüber, dorthin, wo für Maya noch kein Einlass sein durfte, wo sie gerade nur erst einen kurzen Schnupperaufenthalt verbrachte. Sie musste zurück. Ihre Zeit war noch nicht gekommen. Eigentlich wollte
sie zwar noch nicht gehen, doch es ging nicht anders. Als würden ihre Füße wie festgewurzelt im Boden stehen, so konnte sie sich nicht mehr bewegen. Es war sodann, als würde sie schnell und fest von irgendetwas nach unten angezogen.
"Doktor, sehen sie doch! Ihre Augen! Sie beginnen zu zwinkern. Es scheint doch noch nicht zu spät zu sein." Langsam wurde sie etwas wach. Sie spürte starke Schmerzen in ihrem ganzen Körper. Blut quoll noch aus einigen Wunden. Die Ärzte versorgten sie so gut wie es nur ging. Nach einigen Tagen erwachte sie aus dem Koma. Der Arzt erklärte ihr, dass in der Nacht, als Maya eingeliefert wurde, sie fast gestorben wäre. Für den Bruchteil einer Sekunde hätten die Ärzte keine Hoffnung mehr gehabt, denn genau
in dieser einen Sekunde hörte sie kurz auf zu leben. Doch dann sahen sie ihre Augen und merkten, dass diese Frau nicht aufgeben wollte. Nein, sie, Maya die Heimkehrerin aus dem dunklen und üblen Reich des Todes war eine Kämpferin. Sie war dem Teufel noch einmal von der Schüppe gesprungen. Ja, so wurde es ihr gesagt. Für diesen einen Bruchteil einer Sekunde, in dem die Ärzte schon nicht mehr an sie glaubten, in diesem mehr als kurzen Moment, da war sie stundenlang bei ihrem Vater, dieser unbeschreiblichen Energieform,
und bei ihrer Mutter, in deren Armen sie gelegen war und miteinander redeten und redeten. Ihr Verlobter ließ sich die ganze Zeit über nicht einmal im Krankenhaus sehen. Mit einer so verkrüppelten Frau wollte er nichts mehr zu tun haben. Auch ihr entstellter Körper war nicht mehr ansehnlich, mit diesen Narben, die ihre Spuren hinterließen. Er schämte sich für etwas so "unnatürliches", wie es Maya seiner Ansicht nach damals war. Auch keine anderen, ehemaligen Freunde hatten mehr ein Interesse an dieser
neuen, veränderten Maya. Sie gehörte nicht mehr dazu, sie führte das Stigma des Todes an sich. Sie war nicht mehr in. Ihr kleines Unternehmen, der Immobilienhandel musste geschlossen werden. Kunden konnten nicht mehr bedient werden. Die Fixkosten liefen weiter. Die Kasse war leer. Maya war bankrott. In der Gesellschaft, in der Maya früher, bevor der Unfall passierte, lebte, dort durfte es weder Verluste noch einen schändlichen Ruin geben. Es durfte immer nur weiter nach oben hin aufgesattelt werden. Die Gesellschaft
des Turmes aus Babylon akzeptierte keine Versager in ihren Reihen. Mit dem Unfall stürzte Maya ab, tief nach unten, ganz tief und weit.
Nach knapp drei Monaten kam sie mit dem Rollstuhl aus der Klinik heraus. Sie fuhr zum Grab ihrer Mutter und freute sich dort über das Glück, das sie erleben durfte. Keine Trauer kam dort auf. Trauer kannte sie nicht mehr. Obwohl sie nun im Rollstuhl saß, begann sie eine Umschulung zur Sozialarbeiterin. Sie ging in ein Hospiz und betreute dort alte Menschen bis in den Tod. Ihre einstige Stelle als erfolgreiche Immobilienmaklerin mit eigenem Betrieb hatte sie schnell vergessen. Ihr Leben hatte sich geändert. Aus
der materialistischen und egozentrischen Dame von damals wurde eine spirituelle Frau und Schwester mit gütigem Herzen. Das Grab der Mutter, sowie alle anderen Statussymbole und kulturelle wie gesellschaftliche Veranstaltungen, auf die sie einst einmal wert legte, verbannte sie danach aus ihrem Leben. Sie brauchte so etwas nicht mehr. Maya wusste jetzt ja, dass solche Artefakte nicht real waren und lediglich den wahren Sinn dessen versperren sollten was sich hinter dem großen Vorhang des Geistes zu verbergen suchte.
Dieser Götzenkult wurde aus ihrem Leben beseitigt. Maya hatte nur noch ein Herz voller Liebe für jeden Menschen. Was ab jenem Moment nur noch zählte, war der Mensch so wie er war und wie er ist, ohne wenn und aber. Mit der Zeit steigerte sich ihre innere Gewissheit noch mehr. Sie begann sich noch mehr zu verändern. Obwohl diese Frau nun im Rollstuhl saß, opferte sie sich und ihr Leben für jeden Menschen auf. Sie begann sogar eines Tages zu meditieren. Dort fand diese Frau, was sie ihr Leben lang suchte und doch
nie gefunden hatte, bis eben zu jenem Tag, da sie sich erstmalig in den Lotossitz begab, sich innerlich der Ruhe zuwendend auf das konzentrierte, was das wahre Leben ausmacht. Die Reinheit des Daseins lag in der Wahrheit. Ihre Erkenntnis begann sich zu weiten und zu ändern. Für diese Frau war eines klar geworden. Der Mensch ist innerlich. Der Wert des Menschen bemisst sich ebenso von seinem Inneren. Wie oft hatte sie früher einen Termin im Sonnenstudio und bei ihrem Friseur? Äußerlichkeiten spielten damals eine
mehr als große und wichtige Rolle in ihrem Leben. Noch oft hatte sie sich daran erinnert, wie sie damals, als sie noch so unbeschreiblich falsch lebte, ihre Kunden und Klienten nach dem bewertete, in welchem Maßanzug und welchem Kostüm sie ihr gegenüberstanden. Je höher der Profit und der Umsatz in ihren Büchern war, desto erfolgreicher und besser glaubte sie zu sein, besonders gegenüber anderen Menschen, die, wie sie sehr oft meinte, vom Status her unter ihr stehen würden. Ihre Normen richteten sich dabei jedoch
lediglich nach denen der Gesellschaft, zu der sie heute nicht mehr gehören durfte und nicht einmal mehr gehören wollte. Sie schämte sich heute sogar dafür, einmal ein Teil dieses krankhaften Krebsgeschwürs gewesen zu sein. Doch nach dem Unfall, da wurde es ihr langsam klar, wie bedauernswert und langweilig ein solches Leben doch war, wenn sie sich nun zurück besann und dabei an ihre ehemaligen Freunde dachte. Eines Tages trat sie auch aus der Kirche aus. Sie verließ das, was sie seit jenem Ereignis nie mehr verstehen
noch ertragen konnte. Sie wusste, dass es für sie so richtig war. Sie erkannte seit damals das Gute und das Böse. Sie achtete nur noch auf das Herz. Darum aber musste sie den Weg gehen, der für sie vorherbestimmt war. Ihr Leben hatte sich schon so sehr verändert, dass ihre früheren "Bekanntschaften" sich nur noch peinlichst von ihr fern hielten. Sie galt bei ihnen als verrückt, als eine, die mit Bäumen und Steinen reden würde, als eine, die mit Liebe und Güte ihre Mitmenschen überhäufen würde, dass
diese Mitmenschen schon selbst Angst vor ihr bekommen würden, wenn sie nur zu lange bei dieser Frau bleiben würden. Sie erkannte die Welt als das Böse und das Übel, als das exakte Gegenstück zu jener anderen Welt im metaphysischen Bereich der Sphären. Diese Welt war für sie nur noch die Hölle in der Höhle der Unkenntnis, in der sie als Licht der Hoffnung aufflammte um jenen den Weg zu zeigen, die noch reinen Herzens waren und sind.
Eingereicht am 24. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.