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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Onkel Hans
©Jutta Miller-Waldner
Meine Freundin Hannelore schrieb nicht gerne Briefe. Genauer gesagt: Sie hasste es. Sie hasste es, ein weißes Blatt zu füllen, Buchstaben an Buchstaben zu reihen, natürlich lesbar, wenn möglich. Hannelore schrieb auch nicht Tagebücher, Einkaufszettel, hatte nie ein Gedicht geschrieben. Besaß einen Kugelschreiber für Schecks, Überweisungen oder so, keine Schreibmaschine. Computer waren wie Gegenstände aus der Zukunft. Meine Freundin Hannelore sah nämlich gerne Science-Fiction-Filme. Da gab es Computer, die sprechen
konnten und gesprochene Worte verstanden. "Das würde mir gefallen", erklärte sie. Wenn sie wirklich mal schrieb, setzte sie Buchstaben in kleine Kästchen, aber auch das war ihr zuviel, und so blieb "Kreuzweise" im Stern ungelöst, und sie brauchte nicht mehr darüber nachzudenken, was "Blickt er von oben herab auf sein Leben zurück, dann war alles nur Käse" bedeutet.
Tja, was tat meine Freundin Hannelore dann? Gute Frage. Sie las, hin und wieder, sah fern, hin und wieder, ging stundenlang an der Havel spazieren und hin und wieder ins Kino, pusselte in ihrer Wohnung rum, nähte dort eine Gardine, knüpfte hier einen Teppich. Betreute die Eltern, bis sie kurz nacheinander starben. Erbte das alte Haus in Lichtenrade, ein paar Telekom-Aktien, ein paar Daimler-Aktien, Pfandbriefe, zehntausend Euro in einer Schublade in der Rumpelkammer, die sie fast mitsamt dem Tisch, zu dem sie
gehörte, zum Sperrmüll gegeben hätte, erbte Goldmünzen.
Und einen Füllfederhalter.
Dass sie das Haus erbte, war selbstverständlich, die Aktien und Pfandbriefe ein angenehmes Zubrot, von denen sie vorher nichts gewusst hatte.
Die Goldmünzen nahm sie aus dem mit rotem Samt beschlagenen Kästchen, ließ sie hinundherrollen, freute sich an ihrem Klingen und Funkeln, wunderte sich warum australische, was hatten die Eltern mit Australien zu tun, zuckte mit den Schultern, tat sie zurück in das mit rotem Samt beschlagene Kästchen.
Sie suchte nach dem Fastfiasko mit den zehntausend Euro in Mantel-Jacken-Hosen-Rocktaschen, Plastiktüten, Büchern nach weiteren Geldscheinen, fand kein Geld mehr, fand einen Brief. Kochte sich eine Tasse Kaffee, goss sich einen großzügig bemessenen Schluck Carlos Primero I in den Schwenker, zündete sich eine Zigarette an. Setzte sich in den Sessel, in dem ihr Großmutter schon gesessen hatte, legte die Beine auf den Tisch.
"Liebe Tochter", las sie, "wir vermachen dir alles, was wir haben, aber bitte, erfülle uns einen Wunsch: Schreibe an Onkel Hans in Sydney einen Brief und teile ihm mit, dass wir ihn sehr vermissen und ihn so gerne noch einmal gesehen hätten."
Hannelore verschluckte sich fast an dem Cognac.
Onkel Hans, wer ist denn das?
Dann dämmerte es ihr: Ist das nicht Vaters Freund, der in den fünfziger Jahren nach Australien ausgewandert ist? Aber sie hatten doch ewig nichts von ihm gehört, warum nun auf einmal dieser Wunsch? Sie drückte die Zigarette im Aschbecher aus, las weiter.
"Schreibe ihm, dafür haben wir dir extra den Füllfederhalter gekauft, denn sonst findest du ja tausend Ausreden. Aber es ist uns sehr wichtig. Er wird dir sicher antworten. Dann verkaufe die Aktien und die Pfandbriefe und besuche ihn."
Hannelore verschüttete Kaffee über ihrem weißen Sweatshirt. Betrachtete den Füllfederhalter, drehte ihn hin und her, schraubte die Kappe ab.
Ich schreibe keine Briefe, und ich fliege noch nicht einmal nach Hamburg. Wie soll ich dann nach Sydney kommen? Das ist schrecklich, da habe ich Angst, wir stürzen bestimmt ab, oder stoßen mit einer anderen Maschine in zehntausend Meter Höhe zusammen, oder eine Rakete trifft uns, oder wir landen im Orbit und werden ein Satellit, oder wir bekommen alle eine Fischvergiftung. Sie beschloss, falls und so weiter, keinen Fisch zu essen.
Sie schrieb den Brief. Wollte keine Antwort. Hoffte Tag für Tag, dass kein Brief mit einem Känguru auf der Briefmarke ins Haus flatterte. Als die Wochen vergingen, und der Briefkasten leer blieb, vergaß sie Füllfederhalter, Briefe und Australien. Pusselte in dem alten neuen Haus rum, nähte dort eine Gardine und hier einen Vorhang.
Hörte den Briefträger, schaute in den Kasten, wendete den Brief in der Hand, betrachtete das Känguru, kochte sich eine Tasse Kaffee, goss sich einen großzügig bemessenen Schluck Carlos Primero I in den Schwenker, zündete sich eine Zigarette an. Setzte sich in den Sessel, in dem ihr Großmutter schon gesessen hatte, legte die Beine auf den Tisch, riss den Brief auf.
"Liebe Hannelore", las sie, "ich freue mich, dass du kommst, erwarte dich Ende des Monats."
Hannelore brannte fast ein Loch in ihr weißes Sweatshirt, drückte die Zigarette im Aschbecher aus, zog sich eine himmelblaue Bluse über und einen wollweißen Blazer, bürstete ihre Locken durch, schnappte sich ihre Handtasche, fuhr zur Bank, verkaufte Telekom-Aktien, Daimler-Aktien, die Goldmünzen und die Pfandbriefe, ging ins Reisebüro, buchte einen Flug in der ersten Klasse - wenn schon Zusammenstoß, Absturz oder Treiben im Weltall, dann wenigstens luxuriös - nach Sydney. Telegrafierte ihre Ankunft. Machte ihr
Testament. Nahm tränenreich Abschied von mir, ihrem Zahnarzt, der Kosmetikerin, ein paar Kolleginnen und ihrem Kater, übergab Hausschlüssel und Verantwortung ihrer Nachbarin. Stieg in das Flugzeug. Aß keinen Fisch, stürzte auch nicht ab. Genoss Kaviar, Champagner, Carlos Primero III, den Film (leider nichts über Katastrophen und auch nicht Science Fiction, dafür mit viel Liebe und Tränen). Stieg aus dem Flugzeug.
Kein Onkel Hans.
Sie stellte sich mit den beiden Koffern, ihrem Kosmetikköfferchen und dem Bordcase in eine ruhige Ecke des Flughafens, wollte sich eine Zigarette anzünden, ging aber nicht: Rauchverbot, fluchte, versuchte mühsam die Augen aufzubehalten, wartete. Nahm all ihre Englischkenntnisse zusammen, nahm ein Taxi, fuhr nach Sydney hinein, bewunderte das Opernhaus, den Ozean, den Strand, die Wellen, dachte kurz an Haifische, Traumpfade, schwitzende Damen in Krinolinen. Stand vor dem Haus von Onkel Hans. Klingelte. Klopfte.
Rief.
Setzte sich auf ihren Koffer, stützte den Kopf in beiden Händen auf, erhob sich, klingelte, klopfte, rief. Wischte Schweißperlen und Tränen aus dem Gesicht. Schnäuzte sich die Nase.
Fuhr zurück mit Koffern, Kosmetikköfferchen und Bordcase, nahm sich ein Hotelzimmer mit Blick auf den Ozean, ließ sich ein Kännchen Kaffee bringen, zwei Taschenfläschchen Cognac, drei Päckchen Zigaretten. Buchte am nächsten Morgen eine Rundreise mit Bus und Cessna durch Australien, traf in Alice Springs einen Farmer, Wetter gegerbt, blonde Haare und so blaue Augen, fast wie der Himmel - ist kitschig, wies sie sich zurecht, stieg um in seinen Jeep mitsamt Koffer und so weiter, fuhr mit ihm ins Outback, zwei Wochen,
in denen sie unter dem Sternenhimmel schliefen und durchgeschüttelt wurden von Schlaglöchern. Sie vergaß Kosmetikköfferchen und die Kleider in ihrem Koffer, wusch sich die Haare im Bach, falls sie einen fanden. Und sie lauschte den Geschichten, die er ihr abends beim Lagerfeuer erzählte.
In Sydney ging sie zum Frisör, zur Kosmetikerin, meldete sich nicht bei Onkel Hans, stieg mit Koffern, Kosmetikköfferchen und Bordcase ins Flugzeug, genoss nicht Kaviar, Champagner, Carlos Primero III, aß Schollenfiletröllchen. Schaute sich nicht den Film an. Der war in ihrem Kopf.
Zuhause begrüßte sie ihren Zahnarzt, die Kosmetikerin, die Kolleginnen, ihren Kater und mich. Ging in die Schreibwarenabteilung von Hertie, kaufte zehn Schreibhefte, zwei Tintenfässer, setzte sich an den alten Schreibtisch ihres Vaters, zündete sich eine Zigarette an, holte den Füllfederhalter aus dem Etui, nahm die Kappe an, schlug die erste Seite des Heftes auf.
Und begann zu schreiben.
Eingereicht am 24. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.