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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Zwischenwelten

©Claudia Windirsch-Schuster

Der Mann am Telefon hatte Gloria gesagt, sie bräuchte im Tiefgeschoss an der Tür mit der Aufschrift "Kein Zutritt" nur läuten, dann würde ihr eine Schwester öffnen. So war sie ganz nach seiner Beschreibung den langen weißen Gang zu Ende gegangen und suchte an der Tür die Klingel. Sie war nicht leicht zu finden; auf großartige Besuche war man hier nicht eingestellt. Als sie die Klingel gedrückt hatte, ließ sie tatsächlich nach einiger Zeit eine Krankenschwester ein, fragte sie nach ihrem Namen und führte sie zu einer riesigen Schiebetüre. Neben dieser Türe stand ein offenes Regal mit grünen und weißen zusammengelegten Stoffen, daneben eine große Tonne. Die Schwester nahm ein Stück grünen Stoff, faltete ihn auf und erst als sie ihn Gloria zum Anziehen hinhielt, erkannte sie, dass das ein großer Kittel war mit Ärmeln an der Vorderseite, hinten knöpfbar. Sie schlüpfte hinein, knöpfte ihn hinten an einer gut erreichbaren Stelle zu und setzte sich dann die ihr von der Schwester gereichte Haube auf. "Kommen Sie mit", sagte die Krankenschwester mit gedämpfter Stimme und öffnete die Schiebetür bis zur Hälfte. Sie folgte ihr in den Raum hinein und sah sich um. Da standen vier Krankenbetten, am Kopfende jeweils eingesäumt von größeren und kleineren Apparaten, an denen Lichter aufblinkten oder von denen regelmäßige Töne ausgingen. Da sie beim Betrachten der Maschinen stehen geblieben war, winkte sie die Schwester - weit vor ihr - zu sich heran.
"Hier, in dem kleinen Nebenraum", sagte sie und deutete auf eine weitere Schiebetür, die gerade so weit offen stand, dass ein Mensch durchpasste.
Gloria ging auf die Öffnung zu und konnte durch den Spalt ein weiteres Krankenbett sehen. Als sie näher trat, konnte sie auch das Gesicht des Patienten erkennen, aber Michael sah sehr fremd aus. Nicht weil er an all diesen Apparaten hing, wobei sie all die Schläuche gar nicht zuordnen konnte, sondern weil sie seinen Gesichtsausdruck gar nicht wieder erkannte.
Michael war außer sich; er bäumte sich im Bett auf, atmete sehr heftig und sprach aufgeregt vor sich hin; nichts davon konnte sie verstehen. Als sie gerade an sein Bett treten wollte um seine Worte besser zu erfassen, berührte sie jemand am Arm und sie drehte sich um. "Ich bin Dr. Weinert", stellte sich der Mann vor, der in etwa ihr Alter haben mochte. "Ich bin in dieser Schicht für Ihren Mann zuständig. Wie Sie sehen, ist Ihr Mann im Moment in seiner eigenen Welt, sozusagen in einer Zwischenwelt. Das ist für seine Situation nicht ungewöhnlich. Eine solche Herzklappenoperation ist ja ein recht schwerwiegender Eingriff; er war währenddessen an eine Herz-Lungen-Maschine angeschlossen. Um den Kreislauf zu verlangsamen, haben wir ihn für die Operation auf 28 Grad Celsius heruntergekühlt. Natürlich brauchen Körper und auch Gehirn nach der Operation eine Weile, um wieder in den alten Zustand zu finden. Wie Sie sehen kann er schon wieder selbständig atmen. Außergewöhnlich ist bei ihrem Mann aber, dass er nicht zur Ruhe kommt, sondern sich unaufhörlich hin und her wälzen will. Wir können ihm aber in seinem Zustand nicht mehr Beruhigungsmittel geben. Deshalb mussten wir ihn festschnallen." Der Arzt trat an das Bett heran und hob die Zudecke in Höhe von Michaels Hüfte von der Seite an. Tatsächlich war seine Hand mit am Bettgestell angebrachten Riemen festgehalten, ebenso auf der anderen Seite. Weil die Bettdecke darüber lag, hatte sie das bisher nicht bemerkt.
Immer wieder versuchte Michael seine Hände zu befreien. Sie musste daran denken, wie leicht und rasant sie die Hände hatte sich bewegen sehen, wenn Michael in seinen Konzerten Klavier spielte. Sie flogen förmlich über die Tastatur. Und jetzt waren sie eingesperrt, wie Schmetterlinge in einem Käfig. "Er sollte sich möglichst wenig bewegen", fuhr Dr. Weinert fort. "Zum einen heilt so seine Operationsnarbe nicht gut - wir mussten ja die Brust öffnen - und zum anderen besteht natürlich die Gefahr, dass er aus dem Bett fällt oder gar aufstehen will. Ein weiterer Nachteil ist, dass, so lange er sich so aufregt, der Gasaustausch nicht gut funktioniert, das heißt, dass durch dieses Hecheln nicht das richtige Maß an Sauerstoff aufnehmbar ist. Es ist sehr wichtig, dass er zur Ruhe kommt. Sehr gut wäre es, wenn er schlafen könnte; er bräuchte die Erholung dringend. Vielleicht können Sie versuchen, ihn dahin zu bringen, dass er sich zumindest beruhigt und damit normal atmet." Inzwischen hatte man hören können, wie die große Schiebetür zum Gang aufgeschoben worden war, und es rief jemand: "OP II; Hauser" und durch den Spalt sah Gloria, wie auf einer Liege ein Körper hereingeschoben wurde, mit einem großen Verband auf dem Bauch und rundherum mit einer orangefarbenen Flüssigkeit bestrichen. "Ich muss mich jetzt um den Neuzugang kümmern", brach der Arzt das Gespräch ab und schob von außen die Tür zu.
Gloria wandte sich Michael wieder zu. "Hallo, Michael", begrüßte sie ihn mit heiserer Stimme und trat zu ihm. "Da bin ich. Erkennst du mich? Wie heiße ich?"
Aber Michael sah sie gar nicht an, sondern war immer noch sehr aufgeregt und redete vor sich hin. Sie hielt ihr Ohr näher an seinen Mund.
"Losmachen!", keuchte er. "Losmachen!"
"Michael, ich kann dich nicht losmachen", erwiderte sie und versuchte ihm in die Augen zu sehen. Aber er sah durch sie hindurch. "Du darfst dich nicht bewegen, sonst bricht die Wunde wieder auf. Du musst dich beruhigen!", versuchte sie eine Erklärung.
"Losmachen!" wiederholte Michael.
Gloria erkannte, dass alle vernünftigen Erklärungen nicht bei Michael ankommen würden. Er war in seiner eigenen Welt, zu der Argumente nicht durchdringen würden. "Michael, erinnerst du dich daran, wie wir, als wir auf dem Musikkonservatorium waren, in den Pausen öfters in den Park dahinter gegangen sind und uns ins Gras gelegt haben. Wir haben in die Wolken geschaut und an gar nichts gedacht", begann Gloria plötzlich mit sanfter Stimme und strich Michael mit der Hand über sein dichtes braunes Haar. "Ich habe meine Hand in deine gelegt, so wie jetzt", und sie legte ihre Finger in Michaels festgeschnallte Hand, "und wir waren ganz ruhig und so entspannt, weißt du das noch?"
Michael war alles andere als ruhig und entspannt und schien diese Momente weder nachempfinden zu wollen noch zu können. Stattdessen versuchte er weiterhin seine Hände von den Riemen loszureißen und setzte dafür seine ganze Kraft ein. Gloria setzte sich resignierend auf den Stuhl, der neben dem Bett stand. Ratlos, was sie tun sollte, sank sie in sich zusammen. Zu hören war nur Michaels Keuchen, sein aufgeregtes Flüstern und der rasende Rhythmus des Herzschlagmessgerätes, an das er angeschlossen war.
Plötzlich richtete sich Gloria auf ihrem Stuhl auf und sah zu dem Gerät hin, das in digitaler Form den gegenwärtigen Pulsschlag anzeigte und dabei wie ein zu schnell eingestelltes Metronom den immergleichen Ton in einem atemberaubenden Takt abgab. Mit angespanntem Gesichtsausdruck starrte Gloria eine Weile auf dieses Gerät. Dann begann sie plötzlich zu singen, ganz leise und zaghaft. Nach ein paar Tönen musste sie sich räuspern; ihre Stimme war nicht richtig angegangen. Sie versuchte es noch einmal. Jetzt konnte sie lauter und bestimmter singen. Sie sang einfach eine Melodie, die ihr gerade einfiel. Immer wieder geriet ihre Stimme ins Zittern, aber immer wieder wurde sie nach einigen Augenblicken fester und deutlicher. Michael reagierte auf Glorias zaghafte Versuche am Anfang nicht; er war mit seinem Kampf gegen die Riemen zu sehr beschäftigt. Als sie aber begann lauter zu singen, hielt er plötzlich in seinen Anstrengungen inne und schien überrascht. Nicht dass er sie ansah, aber es sah so aus, als ob er versuchte auf die Töne zu lauschen. Gloria war durch diese Reaktion angetrieben weiter zu singen:
Solange sich Michael auf die Musik konzentrierte, vergaß er sich hin- und herzuwälzen und gegen die Riemen an seinen Händen anzukämpfen. Und so sang sie weiter. Im Laufe der Zeit wechselte sie zu Kinderliedern und später zu Schlafliedern. Manchmal stand sie auf, ging singend durch den Raum auf und ab im Takt ihres Liedes. Einige Male drohte ihre Stimme zu ersticken, aber sie zwang sich weiter zu singen. Schließlich wurde sie müde. Sie stellte den Stuhl ganz nah an Michaels Bett, setzte sich hin und legte ihre Hand auf Michaels Hand. So lehnte sie sich zurück und sang mit geschlossenen Augen weiter. Inzwischen war es dunkler geworden. Auch hier unten war die gedämpfte Nachtbeleuchtung eingeschaltet worden, nicht mehr das grelle Licht vom Nachmittag. Glorias Stimme wurde immer wieder leiser, ab und zu wieder etwas lauter, dann schließlich leiser und leiser und verstummte mit der Zeit ganz.
Als der Arzt von der Nachtschicht seinen üblichen Kontrollgang machte, fand er in dem kleinen Nebenraum den Patienten und seine Besucherin in ruhigem, tiefem Schlaf vor. Nach dem Überprüfen aller Messdaten trug er in seinen Berichtsbogen ein: Werte o.k., keine besonderen Vorkommnisse.


Eingereicht am 23. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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