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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schlüsselerlebnis

©Igor Zobin

Ich bin 14. Jahre alt. Ich habe die 8. Klasse der Mittelschule Nr. 72 in Charkow, Ukraine abgeschlossen. Und ich ziehe im Herbst nach Deutschland um. Wie soll ich mich denn dabei fühlen? Ich komme mir echt ganz verloren vor. Oft habe ich mir vorgestellt, was ich später alles machen werde, wo ich arbeiten werde, alles davon hatte nicht das Geringste mit meiner echten Zukunft zu tun. Denn niemals war ich auf die Idee gekommen, mich in einem anderen Land vorzustellen, mit einer Sprache, die ich nicht kannte. Ich wusste natürlich noch nicht, dass ich in Europa leben werde. In der feinen Gesellschaft. Jetzt weiß ich's; und kann mir nichts mehr vorstellen. Eine absolute Ungewissheit wartet auf mich ...
Mein Vater hat Ukraine geliebt. Als der Putsch 1991 kam, die Unabhängigkeitserklärung Ukraines, hat er sich gefreut. Er hoffte auf etwas Neues, etwas Besseres. Er war kein Kommunist, mindestens schon sehr lange Zeit nicht mehr. Aber danach wurde allen klar, dass die neue Ordnung nur der Form nach besser war. Der Inhalt blieb praktisch unangetastet. All die guten Ansätze blieben nur das, was sie waren:
Ansätze. Von seinem eigenen Land bitter enttäuscht, wollte er woanders leben. Als erste Möglichkeit wurde natürlich Israel betrachtet.
Mit einem großen Koffer und noch größeren Hoffnungen fuhr mein Vater dorthin, zu unseren Verwandten. Und stellte fest: wenn man hier als Jude beschimpft wird, dann gilt man dort als Russe. Irgendwie traurig, oder? Außerdem war es dort zu heiß. Nun, Israel war nicht die einzige Möglichkeit. Es gab noch Deutschland, wo mein Onkel schon seit einiger Zeit lebte. Diese ganzen Gespräche damals, über die Auswanderung und so, hatten wenig Gewicht für mich. Ich konnte es nicht wirklich begreifen, dass wir für immer wegfahren würden, bis zu dem Tag an dem ich nicht in die 9. Klasse gehen musste. Zum ersten Mal seit 9 Jahren blieb ich am 1. September zu Hause. Wenn wir schon sowieso bald weg sind, wozu dann noch einen Monat in die Schule gehen? Dort drüben wird dieser eine Monat sowieso nicht zählen. Und meine Sommerferien wurden bis zum Oktober hin verlängert.
Ich weiß noch, die letzten Monate vor der Abfahrt nach Deutschland.
Wir haben eine riesige Bibliothek zu Hause gehabt. Über 1000 Bücher, vielleicht noch mehr. Von all diesen Büchern wollten sich meine Eltern natürlich nicht trennen, aber als wir einsahen, dass man so viel niemals mitnehmen kann, haben wir uns entschieden. Einige Bücher wurden bei Verwandten, oder einfach bei Freunden gelassen. Andere verschenkt. Möbel wurde verkauft und verschenkt, unser Esstisch fuhr zu meiner Tante, meine 8-Bit Konsole ebenfalls. Die Wohnung war ungewöhnlich leer und ich ging dort stauend um, ich hätte nie gedacht, dass dort so viel Platz war. Dann kam der Herbst, ein Streetball Turnier. Wir fingen an zu packen. Wir verpackten die Sachen in große Zigarettenkartons. Insgesamt 36 Stück. Der Unglaube an die Realität der Ereignisse, der Verkauf meiner Sega Mega Drive 2 mit allen Spielen.
Der letzte Abend: ich und mein bester Freund Igor spielen das letzte Mal am Stadion ne Runde Basketball. Es wird schon langsam dunkel, denn es ist 19:00 Uhr. Der Ring ist nur noch ein heller Schatten, der Ball ein orangener Fleck, aber wir spielen und spielen. Ich weiß nicht mehr, wer gewonnen und wer verloren hat. Das ist auch nicht wichtig.
Alles was wir wollten, war diesen Augenblick so lange zu verlängern, wie nur irgend möglich. Aber es wurde halb acht, dann viertel vor. Um acht musste ich schon bei meinen Eltern sein, deshalb machten wir uns schnell auf den Weg.
Das letzte, was ich gemacht habe, war ihm meinen alten Gummiball zu schenken. Der Abschied ...
Die letzte Nacht verbracht bei Bekannten, mit dem ganzen Gepäck. Oh, Gott ich weiß nicht mehr wie diese ganzen Kartons überhaupt in den Bus reingepasst haben. So viel ich mich erinnern kann, haben wir keinen einzigen mit nach oben nehmen müssen. Alle Freunde der Familie haben uns am Hauptbahnhof Lebewohl gesagt, alle haben zusammen mit uns auf den Bus gewartet, der sich natürlich verspätete. Und halb im Ernst, halb als Spaß hat man mir die ganze Zeit gesagt: "Jetzt liegt die ganze Verantwortung auf dir. Du musst schnell die Sprache lernen und deinen Eltern helfen. Jetzt müssen nicht mehr sie für dich sorgen, jetzt sorgst du für sie."
Sie hatten Recht, so war das auch.


Eingereicht am 22. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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