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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Der Milan

©Christiane Becker

Der Milan kreist über seinem Land. Er ist frei. Er belächelt die Zäune und die Mauern, die die Menschen durch sein Territorium gezogen haben - wie ein Netz. Sie halten ihn nicht auf. Dieses Netz kann ihn nicht fangen, wenn er hinunter stößt, um der Erde seine Beute zu entreißen. Sie haben sich das Land gefügig gemacht, aber nicht ihn. Er ist frei. Ihre Felder und Äcker liegen da wie ein Patchwork aus gekämmtem Korn und gepflügter Erde. Während die Kultursteppe sich unter ihm ausbreitet wie ein Schatten in der Abenddämmerung, fliegt er über allen Schatten. Die Spätherbstsonne wärmt seine hundertsechzig Zentimeter Spannweite, taucht sein Gefieder in majestätisches Purpur. Er schwebt - beinahe schwerelos - allein getragen von dem berauschenden Gefühl bedingungsloser Freiheit. Dennoch spürt der Milan die nervöse Unruhe, die seit geraumer Zeit in der Luft liegt. Es naht die Zeit, in der die Roten Milane zu ihren Winterquartieren aufbrechen. Sie folgen dem Instinkt. Auch er spürt ihn, doch dieses Jahr wird er sich seinem Diktat nicht unterwerfen. Er ist frei. Bedingungslos frei. Dort unten in den Wipfeln jenes alten Baumbestandes, wo er geboren wurde, hat er seinen Entschluss gefasst - seinen Entschluss, sich dem Winter zu stellen.
Der Milan neigt die rostroten Schwingen seines tief gegabelten Stoßes gegen den Wind. Aus seinem Gleitflug dreht er in eine sanfte Schräglage ab, stürzt hinab und schießt sogleich wieder hinauf. Voller Energie. Strotzend vor Kraft. Er reibt sich am Wind. Es wird schwer sein, gegen den Instinkt anzukämpfen, aber er wird ihn nicht abbringen, ihn nicht überzeugen. Er ist frei. Bedingungslos frei. Der Milan fliegt eine weit gezogene Kurve über den Fels, auf dessen höchster Erhebung eine knorrige Kiefer nach den Wolken greift. Es ist eine alljährliche Flucht; ein Davonfliegen vor etwas, dem er noch nie gegenübergestanden hat; eine nie in Frage gestellte Tradition, deren Sinn keiner mehr kennt. Sie sprechen von einem alten Brauch, aber er vermutet, dass "Brauch" bloß ein anderer Name für Feigheit und Bequemlichkeit ist.
Über dreitausend Hektar erstrecken sich seine Jagdgründe unter ihm. Der Milan steigt, schraubt sich auf langen Bahnen höher und höher. Er fühlt die Spannung - eine andere Spannung, als all die Jahre zuvor. Wilde Vorfreude auf die Begegnung mit dem Neuen, dem Ungewissen, womöglich Gefährlichen - und dessen Überwindung. Der Beweis seiner Unbesiegbarkeit, seiner Freiheit, seiner bedingungslosen Freiheit. Impulse huschen über seine Muskelfasern. Sein Herz pocht in schnellem, gleichmäßigem Takt. Die Geräusche der Welt liegen tief unter ihm: die katzenartigen Schreie des Bussards, das Schwätzen der Elstern und das Rascheln der Feldmäuse zwischen den Stoppeln. Hier oben - allein mit sich - vernimmt er nur das Pfeifen des Windes, der durch seine Schwingen streicht und das Rauschen des Blutes in seinen Adern.
Wenige Tage nachdem die anderen fortgezogen sind, sind die Abende deutlich kühler geworden. Der Milan ist nun allein, doch das beunruhigt ihn nicht. Er weiß, dass nur der bedingungslos frei sein kann, der bereit ist, allein zu sein. Eine fremde Witterung liegt in der Luft. Er hat gehört, dass man den Schnee riechen kann. Voller Erwartung zieht er seine Kreise - bis zum Einbruch der Dämmerung. Erst als die Sonne ihre letzten wärmenden Strahlen zurückgezogen hat, kehrt er zu jenem alten Baumbestand zurück, in dem er geboren wurde. Die Abendluft ist kalt und der Milan friert trotz seines aufgeplusterten Gefieders. Obwohl er sie bewegt, verlieren seine Zehen allmählich das Gefühl für den Ast, der ihn trägt. Die gewohnte Sicherheit entgleitet ihm und weicht einer beklemmenden Ungewissheit. Für einen kurzen Augenblick denkt er an die Wärme Spaniens. Seine Kameraden werden bald die Straße von Gibraltar überqueren und sich in Marokko niederlassen. Er würde sehr bald den Winter treffen. Er fürchtet sich. Aber er weiß, dass nur der bedingungslos frei sein kann, der gewillt ist, seiner Angst mit Zuversicht entgegenzutreten. Und die Sternbilder, die den Milanen seit jeher den Weg weisen und die in dieser Nacht heller und klarer erscheinen als je zuvor, helfen ihm, sein Vertrauen zurückzugewinnen.
Die letzten Zweifel sind vergessen, als das Morgengrauen die weiße Pracht enthüllt. Der Milan streckt seine Flügel, bewegt prüfend seine Zehen. Sein kraftvoller Abstoß lässt den Ast unter ihm beben. Der Schnee staubt. Ein Windhauch greift unter seine hundertsechzig Zentimeter Spannweite und doch ist es an diesem Morgen schwieriger als sonst, sich in den Himmel zu schrauben. Die Sonne wärmt ihn nicht wie sonst. Die Thermik ist schlecht. Aber in ihm ist eine andere Wärme. Die Sonne scheint und ihr Licht spiegelt sich in jeder der tausend Schneeflocken wider, die um ihn herum tanzen. Über die Äcker und Felder ist ein weißes Laken gezogen, so blendend hell, dass seine Augen schmerzen. Der Milan verliert ein wenig die Orientierung, aber dann erkennt er seinen Fels und die Kiefer, deren kältestarre Finger der Wind vom Schnee frei geweht hat. Unter ihren Ästen hängen funkelnde Zapfen aus Eis - wie spitze Zähne. Und der Wind erzeugt eine sonderbar feine Melodie, wenn er so rau durch sie hindurch pfeift: glasklar und nur für den zu hören, der lauscht. Eine Weile verharrt der Milan auf seinem Ansitz. Er weiß, dass er nicht lange pausieren darf. Erhaben über den Instinkt wölbt er die Brust und lässt den Wind durch seine Daunen streichen. Dies ist sein Land, das er schon immer kannte und das er nun doch zum ersten Mal sieht. Dies zu erkennen erfüllt den Milan mit einer eigentümlichen Melancholie. Er ist stolz, nicht wie all die Jahre zuvor und nicht wie all die anderen die Flucht ergriffen zu haben. Wenn man den Winter überleben konnte, dann würde es ihm gelingen, denn er ist kräftig. Er ist frei. Bedingungslos frei. Seine Erhabenheit weicht einem Staunen, das ihn sich selbst vergessen lässt. Für einen Augenblick sind die Grenzen zwischen ihm und der Welt verwischt.
Das laute Knurren seines leeren Magens ruft den Milan in die Wirklichkeit zurück. Auf einmal verspürt er großen Hunger. Er späht nach Beute und erst jetzt bemerkt er die unvergleichliche Stille, die sich um das helle Pfeifen des Windes ausgebreitet hat. Die gewohnten Geräusche sind unter dem weißen Laken verstummt. Niemand hat ihn gelehrt, wie man im Winter Beute schlägt. Der Winter war ein Tabu. Er frisst ein paar übriggebliebene Samen der Kiefer, um etwas Kraft zu sammeln. Dann macht sich auf einen ausgedehnten Beutezug. Weiter als sonst zieht er seine Kreise. Ohne Pause. Erfolglos. Die Sonne beginnt schon wieder ihren Rückzug und das blasse Licht des Mondes taucht die Landschaft allmählich in fahles Blau. Wind kommt auf und kleine Schneewirbel tanzen wie Geister über die Erde. In dieser Nacht bleibt der Milan hungrig.
Auch die nächsten Tage und Wochen vergehen ohne großen Jagderfolg. Bisweilen gelingt es ihm, eine Meise zu schlagen. Manchmal findet er eine erfrorene Amsel oder eine überfahrene Katze an der großen Straße jenseits der Grenzen seines Reviers. Er hasst die Straße. Dort ist der Schnee matschig und grau von den Autoreifen, vor denen auch er sich in Acht nehmen muss. Nichts ist dort übrig von der Herrlichkeit des Winters und auch nichts von dem majestätischen Gefühl seiner Freiheit. Statt Stolz nur die nagenden Schmerzen und das Warten auf den Tod eines anderen, der den eigenen hinauszögert. Hunger und Kälte tun barbarisch weh. Oft denkt der Milan an die warmen Winterquartiere Nordwestafrikas und je mehr er darüber nachdenkt, desto ferner erscheinen sie ihm. Als ob alles eine große Lüge sei, ein Märchen. Der Milan zweifelt. Er ist doch frei. Bedingungslos frei. Er ist aus freiem Willen hier. Dort drüben in den weiß verschneiten Wipfeln, die ihm nun so kalt und tot erscheinen, hatte er seinen Entschluss gefasst - seinen Entschluss, sich dem Winter zu stellen. Der Winter ist streng, aber fair. Ohne Bewunderung. Ohne Mitleid. Seinetwegen macht er keine Ausnahme. Keine mildernden Umstände, die ihn sich klein fühlen ließen.
Der heutige Tag ist wie der erste, an dem der Winter kam. Die Luft ist von den tanzenden Reflexen des Sonnenlichtes erfüllt und wie ein Zauber hat sich ein glitzernder Schleier über die Landschaft gelegt. Der Milan sammelt seine Kräfte und fliegt hinüber zu der alten Kiefer, um ein letztes Mal der Melodie des Windes zu lauschen. Sie trägt ihn mehr als seine Flügel, als er sich schließlich zu der grässlichen Straße schleppt. An diesem Abend ist er zu schwach, um zu dem schützenden Baumbestand zurückzukehren und der Schnee fällt so sanft, dass er ihn nicht einmal bemerkt. Nie war der Himmel so klar und die Sterne so hell. Der Milan weiß, dass er im Sterben liegt. Ihm ist ein Blick in eine wunderbare Welt gewährt worden, für die er nicht geschaffen war.
So matt ist er, dass er nicht mal erschrickt, als der Mensch sich über ihn beugt. Es ist ein Landstreicher, der eine Ölsardine zwischen seinen Fingern hält. "Stirb nicht, Greif!", sagt der Landstreicher, während er den Milan behutsam in seine Mütze hebt. "Ich bin ein Zugvogel, wie du, der die Zeit verpasst hat - die rechte Zeit, sich davonzumachen. In Wirklichkeit bin ich ein Graf", und er blinzelt in die Sonne. "Im Herzen sind wir beide frei. Halte durch, es war ein langer Winter, aber er ist so gut wie vorüber."
Am nächsten Tag bricht die Sonne durch die Wolken. Sie hat an Kraft gewonnen und der Schnee zerfließt zu kleinen Rinnsalen, die im Boden versickern. Der Milan findet sich unter einer alten Eiche wieder. Er kennt sie. Erkennt den alten Baumbestand, in dem er geboren wurde. Wo ist die Straße, der Landstreicher, war alles ein Traum? Er hebt ab, spürt die Wärme der Sonne, die ihm ins Gefieder kriecht. Spürt, wie sie nach und nach jede Faser seines Körpers erfasst. Und dann fühlt er noch etwas: etwas Großes, Mitreißendes, etwas, das er bereits verloren glaubte. Es ist der Instinkt. Er sagt ihm sagt, dass die Zeit gekommen ist, in der die Roten Milane aus ihren Winterquartieren zurückkehren. Nach Hause. Und auch die Sterne sagen es ihm in der Nacht. Dieselben Sterne, die den anderen nun den Weg weisen.
Wenige Tage später treffen sie ein. Sie finden den Milan in einem erbärmlichen Zustand "Wirst du nächstes Jahr wieder mit uns fliegen?", fragen sie. Er bejaht die Frage. "Siehst du!", antworten sie. Und der Milan bedauert, dass sie niemals verstehen würden.


Eingereicht am 21. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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