Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis   www.online-roman.de

Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

www.online-roman.de
www.ronald-henss-verlag.de

Die Umarmung

©Barbara Fellgiebel

Am Morgen des 3. Juni war für Anja die Nacht um 3.56 Uhr vorbei.
Sie, die notorische Tief- und Langschläferin war hellwach, hörte ihr aufgeregtes Herz so laut pochen, dass sie befürchtete, es könne ihre neben ihr schlafende Schwester Sandra wecken.
Na, das konnte ja heiter werden, versuchte sie sich Vernunft einzureden.
Belustigt und beängstigt lauschte sie dem tirilierenden Gezwitscher der langsam munterer werdenden Vögel und betrachtete fasziniert das von der aufgehen wollenden Sonne verursachte Farbspiel des Himmels.
Grau-weiß-beige-gelb-orange-rosa-rot-pink und schließlich blau.
Um 11.00 Uhr sollte sie der Liebe ihres Lebens wieder begegnen. Nach 10 Jahren zum ersten Mal. Er hatte schon immer einen völlig unangemessenen Stellenwert in ihrem Leben eingenommen, aber dass ihr Körper noch immer so übertrieben auf ihn reagierte? Damit hatte sie nicht gerechnet.
Ach was soll's, sagte sie sich. Natürlich spielt sich da nichts ab. Sie würden reden, reden, die Löcher der Zeit notdürftig stopfen, gelegentlich auf die Vergangenheit, auf ihre Vergangenheit zurückkommen, Kunststück, eine andere Gemeinsamkeit hatten sie ja nicht. Sie würden im Gespräch miteinander ihre Befindlichkeit formulieren und für sich definieren. Na und? Was war dabei?
Zu gerne hätte sie gewusst, ob er ähnlich aufgeregt war, ob sich sein Magen nervös verknotete und ein gewisses Zittern von Händen und oder Knien den Körper beeinträchtigte.
Beim hundertsten Blick in den gnadenlosen Spiegel bemerkte sie, dass sich ein merkwürdiges Lächeln in ihrem Gesicht breit machte, eine Mischung aus spitzbübisch, triumphierend, sehnsüchtig, wohlwollend und gütig. Na, das konnte ja heiter werden, ging es ihr wieder durch den Kopf, und der blöde Witz von den Nonnen und der Zitrone kam ihr in den Sinn. Nein, auch der Biss in eine imaginäre Zitrone vermochte nicht den befriedigten Gesichtsausdruck zu verwischen.
Sandra fuhr sie zum vereinbarten Treffpunkt. Gleichzeitig erleichtert und enttäuscht sah Anja sofort, dass Jost noch nicht da war, obwohl es bereits 11.07 Uhr war. Vor 10 Jahren hatte sie auch schon mal 10 Minuten auf ihn gewartet. Na und? Er hatte schließlich eine Anfahrt von über 200 km, da kam es doch auf exakte Pünktlichkeit nicht an. Verstohlen sah sie sich um. Sie hatten sich erst kürzlich ziemlich aktuelle Bilder zugeschickt, was die Gefahr, sich nicht wieder zu erkennen, minimierte.
Als der dunkelblaue Volvo um die Ecke bog und die Fahrt verlangsamte, wusste sie sofort, dass er es war. Sie warf einen Blick auf das Nummernschild, nicht auf den Fahrer und ließ sich blindlings auf den Beifahrersitz fallen.
Er fiel ihr um den Hals und sie notierte zufrieden, dass diese Umarmung ein paar Ideen zu lange dauerte, was ihr nicht unangenehm war.
"Wie lange hast du Zeit?"
(Unbegrenzt dachte sie) "Bis heute Nachmittag" sagte sie vage.
"Das passt mir gut" fuhr er fort, "ich wollte nicht allzu spät wieder zu Hause sein, Britta wartet."
Den Verweis auf seine Frau hielt sie für ziemlich unangebracht, wertete ihn aber als eine Art selbst auferlegte Schranke. Vielleicht fühlte er sich von ihr stärker angezogen als ihm lieb war? Belustigt schwieg sie, kuschelte sich in den bequemen Schalensitz und spürte zum ersten Mal eine Gefühlsanwandlung mit der sie überhaupt nicht gerechnet hatte.
"Und, wo fahren wir hin?"
(Ans Ende der Welt, dachte sie) "Na, schlag mal was vor" sagte sie, "ich bin hier doch fremder als du!"
Er fuhr schon immer sicher und gut, und auch als er eine Kurve zu eng nahm und sie mit dem halben Auto auf einem hohen Bordstein landeten, lachte sie nur und fühlte diesen unerwarteten Anflug von Geborgenheit.
Er fuhr sie zur Wilhelmshöhe, einem beliebten Ausflugslokal, das von hübschen Wanderwegen umgeben war und von jeder Menge Rentner und Spießbürger frequentiert wurde. Nein, hier würden sie sich garantiert nicht ungebührlich zu nahe kommen, hier hielt man auf Anstand und Konvention. "Hier fahr ich manchmal mit Britta hin", gestand er prompt und fiel damit in Anjas bereits übervolle Schublade mit Männern, die ihre weibliche Begleitung immer auf ausgetretenen Pfaden, zu denselben Orten, Restaurants und Hotels führen.
Ein Mann will sich keine Blöße geben und will nicht überrascht werden, weder positiv noch negativ hatte ihre psychotherapierende Freundin Ilona ihr dieses irritierende Verhalten erklärt, als sie entsetzt festgestellt hatte, dass ihr verwitweter Vater nichts Besseres zu tun hatte, als mit einer wieder aufgetauchten Jugendliebe in genau die Restaurants zu gehen, in die er immer mit ihrer Mutter gegangen war.
Die Lust, ihn von seinen bewährten Wegen abzubringen und zu sagen, mit mir nicht mein Lieber, wir haben uns eine einsame Wiese verdient, wurde unterdrückt von der berechtigten Angst, sich damit einen Korb einzuhandeln und eventuell vorsichtig ertastbares Terrain ein für alle mal zu vereiteln.
Also fügte sie sich, konnte jedoch diesem übermächtigen Bedürfnis ihn berühren zu wollen nicht widerstehen. "Willst mich wohl ein bisschen anfassen?!" meinte er schmunzelnd und ergriff ihre Hand. Die elektrisierenden Stromstöße, die sie reflexartig aussandte, verfehlten ihre Wirkung. Schon bald merkte sie, wie sich eine unerwartete Ruhe, Geborgenheit, Harmonie in ihr ausbreitete, die völlig unerotisch war, aber eine ungeahnt beglückende Zufriedenheit vermittelte. Mit allem hatte Anja gerechnet, nur nicht mit so einem irritierend paradiesisch anmutenden Gefühl. Wie blöd. Sie schüttelte sich wie ein nasser Hund, wurde das Gefühl aber nicht los.
Die Zeit verstrich unbarmherzig. Ohne Peinlichkeit, ohne Langeweile, ohne Kritik. Ihrerseits. Für ihn war das vielleicht anders. Er hatte sich früher schon in ihrer Beziehung gelangweilt, wie er ehrlich zugegeben hatte.
Kunststück. Sie hatte nie vermocht, ihn zu kritisieren, ihm Ecken und Kanten zu bieten, ihn herauszufordern. Sie vermittelte heile Welt für ihn. Und heile Welt konnte bekanntlich langweilig werden. Sie musste an den "Halleluja, sag' i!" frohlockenden Bayern im Himmel denken.
Sie fügte sich in die Umstände der Situation, entzog ihm ihre Hand, was er gar nicht merkte, oder mit verhohlener Erleichterung wahrnahm. Sie kroch in ihr Schneckenhaus, zog die weit ausgestreckten Fühler ein, besann sich auf ihr spannendes, glückliches, ungewöhnliches Leben, das sie mit ihm, dem angepassten Beamten, nie erlebt hätte. Nicht zum ersten Mal wurde ihr bewusst, dass sie mit Jost weder hätte leben können noch wollen. Man kann nicht leidlos mit seiner großen Liebe leben. Es lebt sich sehr viel besser, wenn man nicht bereit ist, sich für den Partner aufzugeben. Für Jost hätte Anja sich aufgegeben.
Nachdem sie, genau wie Anja es vorausgesehen hatte, ihre Befindlichkeiten geschildert, abgeklopft, für sich definiert hatten, kehrten sie zurück an den Ausgangstreffpunkt, wo Sandra Anja wieder abholen wollte. Anja graute vor dem Abschied. Sie hasste Abschiede sowieso. Diesen konnte sie sich nur peinlich, enttäuschend, leer, überflüssig vorstellen. Nein, nein, es war schon gut wie alles gelaufen war. Es hatte halt nicht prickeln sollen.
Jost zeigte ihr noch die Musikhochschule, ein schönes Jugendstilgebäude, um sich dann auf den Heimweg zu machen. Jede Minute würden Sandra und ihr Freund Björn kommen, und alles wäre vorbei. An der Straßenecke zum Parkplatz blieb Jost plötzlich stehen und nahm Anja in die Arme; in eine Umarmung, die Anja den Atem raubte. Im Bruchteil von Sekunden erlebte sie den Gipfel dieses unbeschreiblichen Gefühls des ultimativen Ankommens. Unvermittelt wusste sie, ein größeres Gefühl nie erlebt zu haben, nie mehr erleben zu werden. So hätte sie sterben können. So wollte sie sterben.
Im Nachhinein wunderte sie sich, dass sie nicht ohnmächtig geworden war. Sie versuchte sich vorzustellen, wie sie auf die passierenden Passanten gewirkt haben mussten, ein angegrautes Paar, das sich umklammerte wie zwei Ertrinkende in einer symbiotischen, unendlich scheinenden Umarmung, aus der keiner sich zu lösen vermochte. Wäre sie eine Passantin gewesen, hätte sie früher, vor dieser Umarmung, wahrscheinlich den Kopf geschüttelt, vielleicht unwissend gedacht, je oller desto doller. Würde sie heute Zeugin einer solchen Umarmung werden, wüsste sie, was sich da abspielte. Da würde sie vermutlich ganz nahe an das Paar herantreten und sagen: "Genießt jede Sekunde! Ein größeres Glücksgefühl wird euch im Leben nicht mehr geschenkt!"


Eingereicht am 20. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


»»» Weitere Schlüsselerlebnis-Geschichten «««



»»» Kurzgeschichten: Humor, Satire, Persiflage, Glosse ... «««
»»» Kurzgeschichten: Überblick, Gesamtverzeichnis «««
»»» Kurzgeschichtenund Gedichte «««
»»» HOME PAGE «««

Kunterbunte Blog-Empfehlungen
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kindergeschichten «««
»»» Krimis «««
»»» Gruselgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten «««
»»» Kurzgeschichten Patricia Koelle «««
»»» Blumengedichte «««
»»» Wiesenblumen «««
»»» Blumenfotos «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Sommergedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» Frühlingsgedichte «««
»»» HOME PAGE «««