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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Das Krippenspiel

©Annette Riestenpatt

Marlis starrte auf das Spülwasser, betrachtete die kleinen weißen Bläschen, wie sie eine nach der anderen platzten. Erst waren sie da, ganz selbstverständlich schwammen sie zu Tausenden auf dem Wasser herum. Und dann hörten sie im Bruchteil einer Sekunde einfach auf zu existieren und hinterließen nicht die geringste Spur. Erstaunlich.
Es waren viele Bläschen und das Spülwasser war inzwischen fast kalt.
Dann erregten die Fettaugen auf der Wasseroberfläche Marlis' Aufmerksamkeit.
"Wenn der Lichteinfall anders wäre, würden sie vielleicht in Regenbogenfarben schimmern", überlegte Marlis sich und beobachtete, wie sich ein kleines Fettauge mit einem großen Fettauge recht unspektakulär vereinigte.
Aber, so dachte Marlis mit einem Mal erschreckt, bestimmt würden sie keineswegs in Regenbogenfarben schimmern. Denn das konnte soweit sie wusste, nur Öl. So wie jenes, das immer aus diesen Tankern lief, die irgendwo im Meer havarierten.
Und das Fett auf dem Spülwasser stammte doch bloß von den Putenschnitzeln, die es zum Mittagessen gegeben hatte. Marlis hatte sie mit Tomatensoße gemacht. Und Kartoffeln. Und Leon war so aufgeregt gewesen, dass er kaum etwas gegessen hatte.
Jetzt trieb das große Fettauge auf den restlichen Schaum im Spülwasser zu.
Marlis lächelte. Schaum und Fettauge waren zu verschieden, um sich zu vereinigen, fast hatte sie ein wenig Mitleid.
So schwammen Fettauge und Schaumberg ratlos nebeneinander her, bis sie sich beide irgendwann in Nichts auflösen würden. Marlis achtete beim Spülmittelkauf auf Extra-Fettlösekraft.
Wenn sie das Wasser vorher hinausließe, würden Fett und Schaum dann weiter bestehen? Sie könnte sie nicht sehen, aber im Abfluss würden sie doch weiter existieren. In anderer Form vielleicht. Aber sie wären noch da. Oder?
Das Telefon klingelte und riss Marlis abrupt aus ihren Gedanken. Marlis drehte den Kopf zur Tür und zog verärgert die Stirn in Falten. Als ob das Telefon davon aufhören würde zu klingeln. Nein, es klingelte und klingelte.
In diesem aufdringlichen Ton, den sie schon immer als ausgesprochen unangenehm empfunden hatte.
Und es klingelte noch ein weiteres Mal. Bis endlich der Anrufbeantworter ansprang.
"Marlis!?", hörte sie Gregors Stimme sagen. "Marlis, bist du da?! Wo bist du denn, mein Gott!" Er klang ärgerlich.
Marlis seufzte. Sie mochte es ganz und gar nicht, wenn ihr Mann so ungeduldig war. Und er war meist ungeduldig, vor allem in letzter Zeit. Und so kurz vor Weihnachten war es jedes Mal die Hölle.
"Marlis, ich habe Leon in der Schule abgesetzt und fahre jetzt Mutter abholen. Vergiss nicht, das Krippenspiel beginnt um 16 Uhr! Fahr bitte pünktlich los."
Es kam eine Pause und Marlis hoffte, Gregor würde endlich auflegen.
Doch Gregor war noch nicht fertig. "Ach ja, bring bitte unbedingt den Turban mit! Hörst du, unbedingt! Den hast du Leon gar nicht eingepackt! Wo du wieder deinen Kopf hattest! Leon ist total in Panik, er kann doch nicht den Balthasar spielen ohne seinen verdammten Turban! Sei bloß pünktlich da, damit der Junge beruhigt ist. Wo bist du denn überhaupt?!"
Es knackte und Marlis atmete auf. Sie lauschte einen Moment der Stille, die sich im ganzen Haus ausbreitete und sich wohltuend um sie schmiegte. Sie schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken. Doch die Küchenuhr tickte - Tick Tack Tick Tack - und störte. Es war viertel nach drei.
Marlis zog den Stöpsel aus dem Spülbecken und ließ das Wasser ablaufen. Dann war das Spülbecken leer. Nur aus dem Abfluss kamen noch ein paar glucksende Geräusche, die in der Tiefe versickerten.
Marlis legte die Spülbürste beiseite und wischte das Becken mit dem Schwammtuch aus. Gregor hatte getobt, dass so kurz vor Weihnachten die Spülmaschine den Geist aufgegeben hatte und gleich bei seinem ersten Abwasch einen von den teuren Tellern zerbrochen. Nun fehlte einer im Schrank. Marlis hatte von allen Teilen ihres Geschirrs und Bestecks immer zwölf. Und von diesen Tellern gab es jetzt nur noch elf.
Auf dem Küchentisch lag die Tüte mit Leons Turban. Er war aus goldenem Lurexstoff. Fünfundzwanzig Euro der Meter. Leon hatte den Turban die letzten Wochen fast ununterbrochen getragen, sogar zum Unterricht. An den Rändern war die schwarze Schminke zu sehen, mit der sein kleines Gesicht bemalt war, damit er einen waschechten König aus dem Morgenland abgeben würde.
Marlis strich über den Rand des Turbans und führte den Finger zu ihrem Mund.
Sie berührte ihn mit der Zungenspitze. Er schmeckte ein wenig metallisch.
Sie nahm ein Messer, das auf dem Küchentisch lag und berührte dessen Klinge ebenfalls mit der Zungenspitze.
Dieser Metallgeschmack war anders. Viel stärker. Jedoch weder bitter, noch süß. Metallisch müsste eine eigene Geschmacksrichtung sein, überlegte Marlis. Sie würde das Weihnachtsmenü metallisch kochen.
Vielleicht sollte sie die Weihnachtsgans, die bereits im Tiefkühlfach lag, mit Blattgold überziehen. Das würde hübsch aussehen und wahrscheinlich hätte auch Leon seine Freude daran, an so einem goldenen Weihnachts-Braten. Sie schob den Turban zurück in die Tüte. Bestimmt gäbe es im Bastelladen in der Innenstadt so etwas zu kaufen. Blattgold. Ob es wohl teuer war?
Marlis ließ den Blick durch die Küche schweifen. Sofort fielen ihr all die Dinge ins Auge, die sie gern vergolden würde. Den Toaster, die Kaffeemaschine, die Mikrowelle, den elektrischen Dosenöffner. Sie würde den Rest ihres Lebens damit zubringen, alles zu vergolden.
Wie es sich wohl anfühlte, in einer Welt zu leben, in der alles aus Gold war? Sie würde bestimmt Tag und Nacht eine Sonnenbrille tragen müssen, um nicht geblendet zu werden.
Im Wohnzimmer betrachtete sie den Adventskranz. Vier rote Kerzen. Die kleinen Wachstropfen waren im Herunterlaufen erstarrt, auf halbem Wege gebremst. Zündete man die Kerzen wieder an, so würden neue Rinnsale die alten überrollen. Einfach so. Das Gesetz des Stärkeren.
Das Telefon klingelte erneut. Marlis ließ den Adventskranz nicht aus den Augen.
"Marlis?! Jetzt geh endlich ans Telefon! Ich weiß doch, dass du da bist!", Gregor klang noch ärgerlicher als zuvor. "Es ist gleich halb vier! Wo bleibst du denn?! Leon heult Rotz und Wasser, weil sein Turban noch nicht da ist! Er ist sieben Jahre alt und dieses Krippenspiel ist das Größte, was in seinem Leben bisher passiert ist! Du setzt dich jetzt sofort in den Wagen und kommst her! Hörst du, Marlis?! Sonst setzt es was!"
Eine kleine Tannen-Nadel fiel vom Adventskranz und lag blieb reglos auf dem roten Weihnachtsdeckchen liegen. Einige ihrer Kameraden lagen bereits da.
Marlis seufzte. Alles verging. Auch der Adventskranz würde nicht ewig bleiben.
Wenig später stand Marlis im Flur und starrte auf den Anrufbeantworter. Die Anzeige blinkte. "Zwei", blinkte die Anzeige. Dann wurde sie schwarz. Dann wieder "Zwei". Marlis schloss die Augen. Alles um sie herum war schwarz.
Dann öffnete sie sie wieder. Und auch die Welt um sie herum war plötzlich wieder da.
"Wenn ich die Augen schließe und nicht sehe, was um mich herum ist", überlegte sie. "Ist es dann noch da? Oder versinkt alles für diesen Moment, ebenfalls in Dunkelheit?"
Marlis wusste es nicht. Sie schloss erneut die Augen.
Dann ging sie die Treppe hinauf ins Schlafzimmer und legte sich aufs Bett.
Die Laken waren kühl und weich zugleich, durch ihre Körperwärme wurden sie jedoch langsam warm. Wie auf Wolken, dachte Marlis und lächelte.
"Und wenn ich die Augen ganz lange geschlossen halte?", fragte sie sich nun. "Wenn ich sie einfach gar nicht mehr öffne? Dann ist um mich herum alles dunkel und hört auf zu existieren. Denn wie kann etwas sein, wenn ich es nicht sehe? Wenn ich es einfach nicht wahrnehme? Dann ist es nicht. Dann kann es nicht sein, weil ich es nicht zulasse."
Marlis lag ganz still. Und unten klingelte wieder das Telefon.


Eingereicht am 20. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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