Kurzgeschichtenwettbewerb Kurzgeschichten Wettbewerb Kurzgeschichte Schlüsselerlebnis
www.online-roman.de
Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Die jungfräuliche Empfängnis
©Peter Raffalt
Anders als in den umliegenden Gemeinden lag die Kirche des kleinen Dorfes etwas außerhalb auf einer Anhöhe. Sie war nur über einen schmalen Schotterweg zu erreichen und jeder, der dort oben einkehren wollte, hatte, während er die weiten Serpentinen aufwärts schritt, reichlich Zeit sich zu besinnen.
In Gedanken versunken und ohne ein Wort miteinander zu sprechen gingen diesen Weg auch die Eltern des Mädchens, das wenige Schritte hinter ihnen mit gesenktem Blick folgte.
Es war kalt. Längst waren unter dem Frost die Pflanzen erfroren, die Bäume streckten ihre kahlen Äste in den grauen Novemberhimmel und dort, wo die wenigen Sonnenstrahlen den Boden nicht mehr wärmen konnten, lag der Reif auch noch am Nachmittag. In ihre Mäntel gehüllt, schritten die drei auf die kleine Kirche zu. Unter ihren Füßen knirschte der Kies.
Der Vater pochte gegen das Kirchentor und ohne ein Wort zu verlieren, blickte er mahnend, beinahe drohend auf seine Tochter. Die hielt seinem Blick einen kurzen Moment fragend stand und senkte ihn dann ruhig zu Boden.
Knarrend öffnete sich das alte Kirchentor und der Pfarrer, ein Mann von über sechzig Jahren, groß und stattlich, führte die drei in die Sakristei und bat die Eltern sich auf das Sofa an der Wand zu setzen. Der Tochter wies er den Platz ihm gegenüber am Tisch an. Sie setzte sich und wartete. Dabei wanderte ihr Blick über die kargen Wände von denen der Putz rieselte. Auch die Risse im Mauerwerk waren Zeugen der Baufälligkeit dieses alten Gotteshauses. Ihr gegenüber, von einem breiten goldenen Rahmen gehalten, hing
ein großes, mit Öl gemaltes Marienbild. Dann schweifte ihr Blick zu dem offenen Schrank, in der die Kelche, Kerzen und Gebetsbücher verstaut lagen, weiter zu den Messgewändern des Pfarrers, zu denen der Ministranten, hin zum kleinen Gaskocher, auf dessen unruhige Flamme der Priester gerade den Teekessel gestellt hatte.
Niemand sprach ein Wort. Unheimlich war die Ruhe in diesem Raum, erfüllt von dem Unausgesprochenen, dem Unfassbaren.
Aufmerksam beobachtete das Mädchen den Priester. Gespannt, auf die Lösung des Problems hoffend, hockten die Eltern auf dem Sofa und wagten nicht, die Stille zu durchbrechen. Sie warteten ungeduldig darauf, dass der Pfarrer endlich das Gespräch eröffnen würde.
Der aber ging, ohne ein Zeichen der Eile, an den Schrank, griff nach einer Kerze und einer Streichholzschachtel, setzte sich dem Mädchen gegenüber an den Tisch, zündete die Kerze an und schaute nachdenklich in die Flamme. Auf dem Deckel der Streichholzschachtel klebte ein Marienbild. Er legte die Schachtel auf den Tisch und sah das Mädchen an. Das schaute erst fragend auf das Bildchen, dann auf das Marienbild an der Wand und dann in die dunklen betroffenen Augen des Pfarrers.
"Wer war es?", fragte er mit ruhiger und weicher Stimme, als wollte er dem Mädchen alle Angst und Unsicherheit nehmen und sie ermutigen, sich ihm und dem Ohr Gottes ganz zu öffnen.
Das Mädchen schwieg.
"Mit wem hast du geschlafen?", frug er erneut.
"Mit niemandem", erwiderte es und hielt mit ihren großen dunklen Augen dem forschenden Blick des Pfarrers stand.
"Mit niemandem! Du willst also sagen, du bist sechzehn Jahre alt und hast noch nie mit jemandem geschlafen?"
Das Mädchen senkte ihren Blick und schüttelte den Kopf. Alle schwiegen. Das Wasser fing an zu kochen und der Teekessel durchbrach mit seinem schrillen Pfiff die Stille.
"Sag schon! Du darfst es uns nicht verschweigen. Mit wem?", mahnte der Pfarrer, erhob sich und nahm den Teekessel von der Flamme.
"Mit niemandem."
"Willst du vielleicht behaupten, du hättest das Kind jungfräulich empfangen?" Unter den buschigen Augenbrauen funkelten seine schwarzen Augen. "Ovulation! Weißt du was das bedeutet? Koitus?" Fragend hob er beide Hände, als erwarte er eine Antwort von ihr, sprach aber unvermittelt weiter. "Eine Frau und ein Mann begegnen sich, die Samenzelle trifft das Ei usw., usw., usw.!"
Ungeduldig sprang der Vater vom Sofa auf und stellte sich vor seine Tochter. "Hör auf uns für dumm zu verkaufen! Die Menschen fliegen zu Mond, zum Mars, verpflanzen Herzen, klonen Schafe und du empfängst jungfräulich!"
Die Tochter verzog keine Miene, sie spielte an einem Knopf ihres Mantels. Sie hätte dem Vater gerne etwas entgegnet, aber was sie zu sagen hatte, hatte sie ihm bereits erzählt.
"Lassen Sie uns bitte allein", unterbrach der Pfarrer. Er sah, dass das Gespräch so nicht weiter kam.
Verärgert verließ der Vater die Kirche, stecke sich eine Zigarette an und hastete ungeduldig und nervös auf und ab. "Auch in Gegenwart des Pfarrers stellt sie sich stur, spricht nicht vernünftig und sagt nicht die Wahrheit!", rief er, als wollte er seiner Frau dafür die Schuld geben, die an der Türe stehen blieb um dem Gespräch der beiden zu lauschen. "Lass das!", zischte er ihr zu und drehte sich weg.
Die Wolken hatten sich verzogen. Der Himmel war aufgeklart und leuchtete dunkelblau. Vereinzelt konnte man schon die ersten Sterne sehen.
Die Mutter setzte sich ratlos auf die alte Bank neben dem Eingang zur Sakristei. Sie streifte erst ihren dunklen Mantel zurecht, dann zupfte am Kopftuch, danach legte sie ihre Hände in den Schoß und umklammerte das Gebetbuch so fest, als würde sie damit die Kraft schöpfen, die ihre Tochter bräuchte um die Wahrheit zu sagen.
Drinnen starrte die Tochter in den Dampf, der aus der Teetasse stieg. Der Pfarrer hatte sich dicht neben sie gesetzt. Er streifte sich mit der Hand seine grauen Haare aus der Stirne und mit ruhiger Stimme wiederholte er.
"Wer war es?"
Sie hüllte sich fester in ihren Mantel und schaute ihn offen an.
"Ich weiß es wirklich nicht!"
"Hast du denn nichts gespürt?"
"Doch. Ein Ziehen in meinem Unterleib. Und es wurde kühl. Ich war gerade am Einschlafen, da geschah es. Die Frau erschien mir..."
"Welche Frau?", unterbrach er.
"Eine Frau in einem blauen Mantel."
"Die da", der Pfarren deutete auf das Marienbild.
Sie schaute es mit ihren großen Augen lange an.
"Weiß nicht!", zuckte sie mit dem Schultern. "Sie hat gesagt, dass die Menschen so verdorben seien, sie würden nicht beten."
"Das stimmt."
"Nur dann wird es Friede auf Erden geben, wenn sich die Menschen interessieren, wenn sie sich um die anderen kümmern, wenn die Großen den Kleinen helfen und die Reichen den Armen, wenn Gebäude errichtet werden, in denen wir alle gemeinsam beten, erst wenn alle Menschen barfuß gehen ...!"
"Hör auf zu fantasieren! Was erzählst du da?"
"Und dass ich schwanger werde, hat sie auch noch gesagt."
"Genug jetzt! Lüge nicht!"
"Ich lüge wirklich nicht!"
"Erwartest du denn etwa, dass wir an Wunder glauben? Wer hat dir das alles eingeredet? Weißt du denn, dass Blasphemie eine Todsünde ist? Die wird dir nicht verziehen, da hilft auch beten nichts. Sag endlich die Wahrheit! Wer ist der Vater?"
Das Mädchen saß schweigend da. Sie rührte sich nicht. "Ich weiß es wirklich nicht", flüsterte sie.
Rasch erhob sich die Mutter als der Pfarrer die Türe öffnete. Erwartungsvoll gingen die Eltern auf ihn zu. "Und? Was hat sie gesagt? Haben Sie es herausgefunden? Wer war es?"
Das Mädchen ging an den dreien vorbei und schlenderte mit gesenktem Haupt langsam den Kiesweg entlang. Dann blieb es stehen und schaute in die Sterne.
"Ihre Tochter ist eine Schande für die Katholische Kirche. Sie will jungfräulich empfangen haben!"
Betroffen und beschämt schauten die Eltern zu Boden.
"Soll sie abtreiben?", wollte die Mutter wissen.
Der Pfarrer überlegte. "Nein, besser nicht."
Stumm schritten die drei den Weg zum Dorf zurück, so wie sie gekommen waren. Es fiel kein Wort zwischen ihnen, keiner schaute den anderen an. Aber in den Ohren der Eltern klang noch des Pfarrers Stimme: "Eine Schande für die Katholische Kirche!" Der Weg nach Hause war weit.
Der Pfarrer kehrte zurück in die Sakristei und steckte das Geld in eine kleine Dose neben der Türe. Da hörte er Musik. Verwundert drehte er sich um und lauschte. Es waren Klänge, wie er sie noch nie gehört hatte, heller und klarer als die von einem Kinderchor. Er wusste nicht, woher sie kamen. Unsicher streiften seine Augen durch den Raum und blieben auf dem Marienbild an der Wand hängen. Von dort kam die Musik und sie weckte in dem Pfarrer ein Gefühl von himmlischer Freude und Glückseligkeit. Sein Atem stockte,
er spürte, wie seine Hände schweißnass wurden. Das Bild sah so anders aus, die Mutter Gottes lächelte, sie lebte. Träumte er? Langsam ging er auf sie zu. Tatsächlich, sie lächelte ihn mild und weise an und die Engel um sie herum jubilierten. Er blieb vor dem Bild stehen und neigte seinen Kopf. Plötzlich erschrak er und blickte zur Jungfrau Maria hoch. Hatte sie nicht im selben Moment auch ihren Kopf geneigt? Ihr Antlitz leuchtete ihm mild entgegen und sie kam auf ihn zu und der Gesang der Engel wurde lauter
und lauter und sie strahlte ihn an, himmlisch, göttlich.
"Ein Wunder", flüsterte er, "ein Wunder geschieht!", und sank auf die Knie.
Eingereicht am 20. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.