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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Asch

©Paul Holzreiter

Ein Tag im Herbst, sonnig, kalt, windig, ich radle über den Neckar. Es ist ein Freitag. Von den wichtigen Tagen im Leben erinnert man sich an jedes Detail. Übermorgen wird der erste autofreie Sonntag in Deutschland sein. Die Theodor-Heuss-Brücke, der Bismarckplatz, die Bergheimer Straße. Ich fahre in die Uniklinik, in das Institut für Medizinische Psychologie. Nicht, dass ich mit Psychologie etwas am Hut hätte, ich studiere Mathematik auf der anderen Seite des Flusses, aber hundert Mark für einen Nachmittag sind nicht zu verachten. Wir befinden uns in den Siebziger Jahren, Student, kein Geld, das bisschen Bafög, lachhaft. Man nimmt, was man kriegen kann. Ein Aushang im Rechenzentrum, ich rufe gleich an, man darf in solchen Fällen nicht lange nachdenken.
"Meine Damen und Herren ..."
Ein Experiment in visueller Diskriminierung. Die anderen Kommilitonen kenne ich nicht. Es sind vier Männer und vier Frauen, ein süßer Arsch ist auch dabei. Es ist dies das Jahr, in dem die Jeans hellblau/dunkelblau abgesetzt sind, ein ganz hervorragender Arsch. Einweisung, gleich lange Striche herausfinden. Ein dicker Fragebogen vorher, ein dicker Fragebogen nachher, Namensschildchen, Blutdruck, Puls, Blutprobe. Die hundert Mark werden einem nicht geschenkt.
"Haben Sie Angst vor der Nadel, Herr Scherer?"
"Scherrer", sage ich. "Nein, habe ich nicht."
Wir sitzen auf Stühlen, aus deren rechter Armlehne sich ein kleines Tischen herausklappen lässt. Wir machen unsere Kreuze: Person, Familie, Lebensverhältnisse, Einkommen. Einkommen? Es darf gelacht werden. Ein extra Formular, dass wir das Experiment jederzeit abbrechen können und dass wir zum Wohle der Wissenschaft Stillschweigen darüber bewahren würden, Unterschrift. Einen süßen Arsch in Hellblau/Dunkelblau könnte ich gut gebrauchen, aber die meisten derartigen Ärsche sind bereits vergeben oder sie warten auf den Prinzen mit der Kutsche beziehungsweise mit dem VW-Porsche, der in diesem Jahr gerade auf die Straßen kommt, auf jeden Fall aber auf einen mit Einkommen. Fahrrad? Aber es soll auch welche geben, denen das Einkommen nicht so wichtig ist. Trotzdem ist das mit dem Anmachen nicht so einfach.
"Meine Damen und Herren ..."
Es ist dies die Zeit, da die weißen Kittel gerade in Misskredit geraten. Wer einen trägt, sollte ein sicheres Auftreten haben. Anfeindungen sind nicht ausgeschlossen. Wir dürfen die Rollos herunterlassen. Es sollen Bilder auf eine Leinwand projiziert werden.

Die Veränderungen stellen sich erst im Laufe der Zeit ein, in Wochen, Monaten, Jahren. Erst muss ich beschließen, aus der Niederlage einen Sieg zu machen, dann kommen die Strategien, die Übertragung ins tägliche Leben, die Brutalität. Ich wünsche keinem Herrn Schrempp oder Pierer oder sonst jemanden, der sein Auftreten in Managementkursen gelernt hat, dass er mir zu nahe kommt. Den hellblau/dunkelblauen Arsch habe ich geerntet, gepflückt wie ein Gänseblümchen, Daisycutter, if you know what I mean. Wir haben zwei erwachsene Söhne.

Wir lassen die Rollos herunter. Sie zeigt mir ihr Namensschildchen und das, worauf es montiert ist, Clarissa irgendwas, ein Name, den man sich merken muss. Ich sitze ganz rechts außen. Erst später, als alles schon vorbei ist, bemerke ich, dass der weiße Kittel mir den Platz zugewiesen hat. Die Dia-Show beginnt. Sie ist - aber darauf sind wir vorbereitet - an Langweiligkeit nicht zu überbieten. Man muss an das Geld denken um überhaupt durchzuhalten: Links eine senkrechte Linie, rechts drei senkrechte Linien. Der Lautsprecher räuspert sich mit der Stimme des weißen Kittels. Er ruft uns auf, Herr A, Herr B, Frau C, Herr D, immer von links nach rechts, und es ist klar, dass die zweite Linie rechts die Richtige ist, weil sie genau so lang ist wie die auf dem linken Bild. Nächstes Bild, diesmal ist es die erste Linie. Wir geben unsere Antworten. Das Mikrofon steht in der Mitte unter der Leinwand. Ich frage mich, ob der Kittel uns überhaupt hören kann. Clarissa mit dem Schildchen und den tollen Jeans sitzt zwei Stühle links von mir und klimpert mit den Wimpern in die Dunkelheit. Es ist so was von gemütlich, ich stelle mir vor, wie ich ihren Arsch durchknete und schwelge in der Erektion, die sich daraus ergibt.
Eine Komplikation tritt auf, weil ich mich vertue. Ich bin immer der Letzte, der seine Antwort abgibt. Es ist, wie gesagt, sehr langweilig, weil immer alle das Gleiche sagen und ich zum Schluss noch einmal das Gleiche, aber ich schaue noch einmal auf die Leinwand und bemerke, dass sie sich vertan haben. Acht Leute haben sich vertan, weil sie nicht aufpassen können, weil sie einfach das nachplappern, was alle anderen gesagt haben, weil sie nicht in der Lage sind, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
"Herr Scherrer?"
"Drei."
Ich schaue in die Dunkelheit, sehe die anderen an, wie sie da sitzen im Licht des projizierten Bildes. Sie schauen zurück. Sie sollen doch, verdammt noch mal, genau hinschauen, sage ich. Ich solle genau hinschauen, meinen sie ...
"Bild Nummer 18."
Es ist wurscht. Es geht um nichts. Die Welt wird nicht zusammenbrechen, nur weil sich ein paar Leute vertan haben. Auf Bild Nummer 18 ist es die Linie Nummer eins.
"Herr A?"
Er nennt den Namen des Kommilitonen ganz links außen.
"Zwei."
"Herr B?"
"Zwei."
"Frau C?"
"Zwei."
Es geht sehr schnell.
"Halt, Kinderchens", sage ich, "könnt ihr noch mal hinschauen?"
"Herr D?"
"Moment", sage ich zu dem weißen Kittel im Lautsprecher, "können Sie uns ein paar Sekunden Zeit geben?"
"Was ist, Herr Scherer?"
"Scherrer", sage ich.
"Was ist, Herr Scherrer?"
"Die Leute sollen noch mal hinschauen", sage ich.
Der Mann antwortet nicht gleich.
"Nein, Herr Scherrer, es ist nicht vorgesehen, dass Sie miteinander sprechen. Ich will unabhängige Meinungen hören."
Aber wir sind Kommilitonen und sitzen gemeinsam vor einer gemeinsamen Leinwand in einem gemeinsamen abgedunkelten Raum.
"Ich verstehe, Herr weißer Kittel, aber ..."
Das Experiment sehe nicht vor, sagt er, dass wir uns untereinander austauschen. Dass ich den Mund halten solle, sagt er nicht.
"Herr D?"
"Zwei."
Es ist nicht zu fassen. Ich kneife die Augen zusammen, ob ich mich vertan haben könnte. Nein, ein Irrtum ist ausgeschlossen: Es ist die Linie Nummer eins.
Ich stupse meinen Nachbarn in der Dunkelheit an: "Was siehst du?"
"Zwei."
"Ist was mit deinen Augen?"
"Pssst", sagt er, "ich will keinen Ärger."
Clarissa mit dem zwiefarbigen Arsch ist dran:
"Zwei."

Asch ist ein Betrug. Ein allumfassender Betrug. In einem Betrug ist alles erlaubt. Wenn mein Partner sich nicht an den Vertrag hält, dann werde auch ich mich nicht an den Vertrag halten. Das lerne ich an diesem Nachmittag. Was verbleibt, ist das Recht des Stärkeren. Wenn ich das Experiment zerstören muss, dann werde ich es zerstören.

"Herr Scherrer?"
"Herr weißer Kittel", sage ich, "ich sehe eins und wie die anderen auf zwei kommen, ist mir völlig schleierhaft."
"Ich notiere eins, Herr Scherrer. Ist das in Ihrem Sinne?"
"Notieren Sie eins, Herr Kittel, und notieren Sie auch, dass ich für zwei keinerlei Verständnis habe."
"Meine Damen und Herren, es folgt Bild Nummer 19."

Solomon E. Asch wollte den Druck der Gruppe auf das Individuum messen. Er konzipierte Experimente der Form, dass der Einzelne glaubte, er habe es mit gleichwertigen Partnern zu tun. Er maß und er registrierte, wie lange das Individuum dem Druck der Gruppe standhält. Er nahm dabei keinerlei Rücksicht auf die Gesundheit und das Wohlbefinden der Versuchsperson, die in Wirklichkeit der einzige Proband in dem Experiment war.

Sie sind alle verrückt. Sie sind vollkommen wahnsinnig. Ich verlange, dass die Striche nachgemessen werden. Abgelehnt. Ja, warum denn nicht? Das würde den Streit ein für allemal beenden. Welchen Streit? Es gebe überhaupt keinen Streit. Wie sie denn zu diesen blödsinnigen Resultate kämen? Ich solle mal in mich gehen, sagen sie, wer hier der Blöde sei. Wie können nur acht Leute gleichzeitig derartig schief liegen? Was ich sehe, das sehe ich. Meine Augen sind in Ordnung. Niemand soll mich an meinen Augen irre machen.
"Bild Nummer 35, meine Damen und Herren."
"Halt", sage ich, "ich breche das Experiment ab."
"Sie meinen, Herr Scherrer, dass Sie aussteigen wollen?"
Vielleicht würden sie mir das Geld kürzen. Vielleicht würden sie mir überhaupt nichts auszahlen. So genau habe ich den Vertrag nicht gelesen. Es ist mir gleichgültig.
"Halten Sie durch, Herr Scherrer! Lassen Sie sich nicht beirren! Nehmen Sie keine Rücksicht auf die anderen und geben Sie ihre persönliche Meinung zum Besten!"
"Nein", sage ich, "nachmessen", sage ich.
"Herr Scherrer, es geht hier um visuelle Diskriminierung, um Ihre Fähigkeit, gleich lange Linien zu erkennen."
"Nachmessen", sage ich, "oder es ist Schluss."
"Nein, Herr Scherrer."
Ich halte Ausschau nach einem Gegenstand, der als Maßstab geeignet wäre. Derweil gehen die Bilder Nummer 36 und 37 über die Leinwand. Ich ziehe mir den Gürtel aus der Hose.
"Spinnst du jetzt?"
"Nein, Clarissa-Schweinchen, ich spinne nicht. Ich will Klarheit."
Ich vermesse das Bild Nummer 38 auf der Leinwand, obwohl das völlig überflüssig ist. Es ist die dritte Linie, daran gibt es keinen Zweifel. Aber die anderen halten nichts von der Methode. Sie sehen etwas anderes. Ich verstehe es nicht.

Es kommt der Punkt, da ich einknicke.
"Ich habe den Eindruck, Herr Scherrer, dass Sie sich überhaupt nicht mehr für die Bilder interessieren."
Noch sehe ich auf die Leinwand, aber ich habe den Kopf in den Nacken gelegt und stelle die Augen nicht mehr scharf. Ich höre die Antworten der anderen. Ich ziehe irgendwelche Ziffern aus dem Ärmel, eins, zwei oder drei, ohne Bezug zu den Bildern, es ist mir egal. Später, als mir das Gemurmel zu blöd wird, was für ein komischer Kauz ich doch sei, schaue ich nur mehr die anderen an und wiederhole deren einstimmige Meinung. Wo kann diese Einstimmigkeit herkommen? Von den Bildern gewiss nicht. Ich verstehe es nicht. Ich denke an Telepathie, an ferngesteuerte Zombies. Was könnte man mit Leuten dieser Art noch alles anstellen? Könnte man sie beim Militär gebrauchen, würden sie jemanden umbringen, würden sie aus dem Fenster springen, wenn sie nicht mehr gebraucht werden? Wer sitzt am anderen Ende der Leitung? Der Kittel beschwert sich, dass ich nicht mehr auf die Leinwand schaue. Ich frage ihn nach seinem Namen. Ich will Konfrontation. Ich will Zoff. Ich gebe es auf, den Gürtel wieder in die Hose zu fädeln. Und wenn es nicht nur diese acht sind? Wenn überhaupt alle Leute ferngesteuert sind?
"Scherrer", sagt Clarissa-Schweinchen, "du bist nicht bei der Sache."
"Schweinchen", sage ich zu ihr, "mein Name ist Franz."
Vielleicht bin ich selbst der Zombie. Vielleicht werde ich gesteuert. Vielleicht sehe ich etwas, das nicht da ist. Vielleicht sehen die anderen andere Bilder als ich - und so ist es tatsächlich. Ich schenke den kleinen Ziffern 1, 2, oder 3 in der linken unteren Ecke der Bilder keine Beachtung. Von diesen Ziffern rührt die Einstimmigkeit her. Ich übersehe die Möglichkeit, dass sie sich abgesprochen haben könnten. Sie scheinen sich gegenseitig nicht zu kennen. Dass sie Schauspieler sind. Aber wer kommt schon auf so etwas? Dass sie instruiert sind, dass sie bezahlt werden dafür, die kleinen Ziffern zu lesen und sie als ihre eigene Meinung auszugeben. Ich ordne meine Welt neu, alles binnen weniger Stunden an einem einzigen Nachmittag in einem abgedunkelten Raum des psychologischen Institutes, Uniklinik Heidelberg, Bergheimer Straße 88. Ich versuche den ein oder anderen aus der Front dieser Idioten herauszubrechen, sie zu mir herüberzuziehen, flüstere mit meinem Nachbarn, beleidige Clarissa, "Bist du eigentlich blöd, oder was?", aber sie versteht mich nicht. Es gibt eine Nachbetreuung. Der Proband muss gestützt, wiederaufgebaut, eingeweiht werden in das, was man an ihm verbrochen hat. Auf den zweiten Fragebogen wird verzichtet, aber ich hätte mich ohnehin geweigert. Ich halte alles für Betrug, auch die Nachbetreuung. Die Hose sitzt. Ich könnte jemandem den Gürtel überziehen. Ich sage Ja und Amen und kann niemandem mehr ins Auge sehen und die Herrschaften bemerken nicht, dass ich gefährlich geworden bin. Gut, dass das Geld überwiesen wird, in Bar hätte ich es nicht gerne entgegengenommen.

Die Literatur zu dem Experiment des Solomon E. Asch ist umfangreich. Es ist in zahlreichen Varianten durchgeführt worden. Die Hälfte der Leute geben ihr eigenes Urteil auf und schließen sich der Meinung der Gruppe an. Die psychischen Nachwirkungen sind desaströs: Psychosen, Einweisungen in psychiatrische Anstalten, Selbstmordgedanken. Je höher die Selbsteinschätzung auf dem ersten Fragebogen, desto schlimmer die Nachwirkungen: Realitätsverlust, Beziehungslosigkeit, ein generelles Misstrauen der Umwelt gegenüber, beginnend damit, dass - wie oben beschrieben - bereits die Aufklärung über das Experiment für einen Betrug gehalten und somit der Balsam der Ehrlichkeit nicht mehr als solcher erkannt wird.

Ich selbst habe alles gut überstanden, aber ich bin ein anderer geworden. Die Ereignisse markieren das Ende meiner arglosen Jugend.

Sonntag, der erste autofreie in bundesdeutscher Geschichte, Volksfeststimmung. Volleyball auf dem Bismarckplatz. Ich habe noch nie vor einem besseren Publikum gespielt. Das Netz geht vor dem Horten quer über die Fahrbahn. An anderen Tagen ist sie die verkehrsreichste der Stadt. Das Fernsehen ist da, die Taxis müssen warten, bis der Schiedsrichter sie durchlässt. Wir heben das Netz, damit sie mit ihren gelben Schildchen nicht daran hängen bleiben. Die Leute johlen. Clarissa und ihre Kusshand. Heidelberg ist solch eine kleine Stadt. "Scherer", brüllt sie und ich schmettere den Ball, so dass er über die Sofienstraße springt und in die Hauptstraße rollt, und ich weiß nicht, ob sie mich verarschen will, oder ob es schon das ist, was sich neckt und sich auch liebt.


Eingereicht am 20. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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