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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Fünf Rosen

©Jessica Heidmann

Ich sehe die Szene noch vor mir. Nicht wie eine ablaufende Handlung, sondern wie ein Bild, das sich für immer in meine Erinnerung gebrannt hat. Die Gesichter der anderen Schüler, unseres Lehrers und das des Polizeibeamten- sogar das Tafelbild der letzten Stunde: eine Mindmap zum Thema "Freundschaft", dessen Unterpunkt "Verständnis" ich selbst erst vor wenigen Minuten in meiner zittrigen Handschrift hinzugefügt hatte und der meinen Blick gefangen hielt.
Ich weiß noch was besprochen wurde, aber die genauen Worte habe ich vergessen. In meinem Bild gibt es keine Geräusche, keine nichts sagenden Worte mehr ... nur erdrückende Stille und die eiskalte Wirklichkeit.
Sie hatten Lyonas Körper gefunden.
Sie war tot. Lyona war tot!
Es gab viele Fragen, eine endlose Anzahl bedeutungsloser Fragen. Viele davon an mich gerichtet. Immerhin war ich doch ihre beste Freundin, oder?
Ich weiß es nicht. Wir hatten so oft gestritten, dass ich daran zweifelte. Vielleicht hatte ich ihr damit beweisen wollen, dass ich wirklich ihre Freundin bin. Vielleicht bin ich es dadurch wieder geworden ...
Ich weiß nicht mehr welche Fragen gestellt wurden oder wie ich sie beantwortet habe. Ich denke mir deshalb selber mögliche Fragen aus.
Kanntet ihr euch gut?
Nein.
Hatte sie noch andere Freunde?
Nein.
Warum nicht?
Sie war nicht einfach. Manchmal hat sie tagelang kein Wort gesagt oder blieb für eine Woche verschwunden und kam weder zur Schule noch nach Hause. Sie hat nie von sich gesprochen und hat sich ebenso wenig für andere interessiert.
Was für ein Mensch war sie?
Anstrengend. Schnell aufgebracht und sehr empfindlich. Verschlossen und nicht bereit auf andere zuzugehen.
Ich halte inne. Nein, das ist nicht richtig. Ich rufe ihr Bild noch einmal in Erinnerung und versuche zu begreifen, was ich zuletzt in ihren Augen gesehen habe. Dann schreibe ich die Frage um:
Wie war sie?
Einsam.
Das Gespräch hatte wahrscheinlich wirklich so stattgefunden. Alle Fragen bis auf die letzte dürften ungefähr so gestellt worden sein aber meine Antworten waren andere. Und diese letzte Frage hatte nie jemand in dieser Form gestellt. Natürlich nicht.
Sie war die letzten Wochen nicht in der Schule gewesen. Es ging das Gerücht um, dass man sie in eine Klinik gesteckt hatte und dass man sie zwang an unserer Klassenfahrt teilzunehmen um ihre "sozialen Kontakte" zu erhalten.
Es bestand wohl keine "akute Gefahr" mehr hatten einige Mitschüler gescherzt, als unser Lehrer uns darüber informierte, dass sie mitkommen würde. Er fügte noch hinzu, dass wir sie dennoch keine Minute aus den Augen lassen sollten.
Es war nicht eine ... es waren fünf.
Fünf Minuten.
300 gezählte Sekunden.
-------------------------------
Der schwarze Sarg wird langsam in das Grab hinab gelassen und die kurze Menschenschlange vor mir gerät in Bewegung als einer nach dem anderen Blumen in das Loch wirft.
Ich spüre die Blicke auf mir ruhen. Blicke, die später von Stimmen begleitet werden. Doch bisher sind es nur Blicke. Sie werden warten bis die Beerdigung vorüber ist bevor die Vorwürfe kommen.
"Es ist deine Schuld ..."
"Du hast sie allein gelassen. Hast dem Mörder die fünf Minuten gegeben, die er brauchte um ..."
Ja, um was eigentlich? Ich habe es vergessen, weiß nur noch, dass sie einen Unfall ausschließen, weil das Leben viel zu gründlich aus ihren Körper getrieben worden war.
Und noch immer versteht niemand. Noch immer suchen sie einen unbekannten Mörder, der zufällig ein Mädchen erwischt, das seit beinahe 2 Monaten zufällig zum ersten Mal allein und daher ein leichtes Opfer war.
So etwas passiert vielleicht in Filmen aber nicht in der Wirklichkeit. Nein, die Wirklichkeit ist schlimmer.
Ja, ich bin schuld aber anders als ihr denkt.
Jetzt stehe ich vor dem Grab und werfe langsam und nacheinander fünf stachelige blutrote Rosen auf Lyonas Grab.
Fünf Rosen für die fünf Jahre, die wir uns schon kennen und in denen ich sie nie verstanden habe.
Fünf Rosen für die fünf Minuten, die ich ihr als Ausgleich dafür geschenkt habe. Fünf Minuten, die ich zitternd in der Ecke von einem Schnellimbiss verbracht habe, bei dem ich mir angeblich etwas zu essen holen wollte. Die Augen geschlossen, die Hände auf meine Ohren gepresst und innerlich doch die Sekunden zählend ... wissend, dass sie nicht mehr da sein würde, wenn ich zurückkäme.
"Du brauchst nicht mitzukommen." Was für seltsame letzte Worte. Doch zwischen uns haben sie alles geklärt. Ihr haben sie alles erklärt.
Als die letzte Rose fällt, weiß ich noch immer nicht, ob dieser Tausch es wirklich wert war.
Aber du hattest sie verdient - diese wichtigsten fünf Minuten deines Lebens.


Eingereicht am 19. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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