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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Die Entdeckung

©Doris Bewernitz

Sie steht ganz plötzlich vor ihm. Gregor hätte später nicht sagen können, wo sie herkam. Mitten in der Fußgängerzone, an einem Junitag, steht sie da, mit ihren üppigen Hüften, ihrem verschwenderischen Busen, ihrer Zigeunerhaut, bronzefarben, mit ihren unverschämt vollen Lippen, den breiten Wangenknochen und redet auf ihn ein.
Sie hat einen starken serbokroatischen Akzent und verstümmelt die deutsche Grammatik frisch und selbstsicher. Die Wörter quellen aus ihrem Mund hervor wie ihre Bauchfalten unter dem knappen schwarzen T-Shirt. Gregor kommt nicht dazu, einen klaren Gedanken zu fassen.
Er starrt die Frau an, fasziniert von ihrer Fülle, ihren weichen einladenden Formen, ihrer warmen Stimme. Er nimmt den Kontrast wahr zwischen ihr und einer blasslila vor sich hin vegetierenden Hortensie in einem Betonkasten auf der Mitte des Boulevards. Er riecht den schweren Duft der Lindenbäume rechts und links. Zarte Lichtflecken fallen lindenblattgefiltert auf die nackten Arme der Frau und Gregor sieht staunend, dass dort eine neue Farbe entsteht: bronzegrün.
Die Stimme der Frau kullert um ihn herum wie Luftbläschen aus einer Sprudelflasche, steigt glucksend empor und vermischt sich irgendwo über ihm mit dem blauen Himmel. Ihre dicken schwarzen Haare tanzen. Ihre Augen sind warm und braun wie Schokoladenpudding und Gregor möchte darin versinken.
Es ist ganz unwichtig, was sie sagt. Er hört die einzelnen Wörter nicht mehr heraus. Er spürt einen Sog, etwas uralt Gültiges in der tiefen, weiblichen Melodie ihrer Stimme.
Die ihn einspinnt wie in einen Kokon. Die ihn mitnimmt.
Bilder aus seiner Kindheit tauchen auf und schwimmen wieder davon: die braune Stute vom Opa, seine Mutter beim Knödel formen, der scharfe Duft frisch geernteter Wallnüsse, seine Oma in der blau gestreiften Leinenschürze, auf dem Schoß die Holzkaffeemühle, das Geräusch zerberstender Bohnen, Sonntagsgeruch, Freunde seines Vaters, alles Bauern, wie sie die Sau aus dem Stall ziehen, der dicke Strick, die Rufe der Männer, ihre roten verschwitzten Gesichter, die unheimlichen Schreie des verängstigten Tieres, er selbst, weit fortgelaufen vor Entsetzen, achtjährig, verweint am Dorftümpel, der alte Schäferhund, der ihn aufspürt, Kettenhundrasseln, Schweinetroggerüche, Schlachtfest im Dorf, eine kleine frisch geräucherte Leberwurst für jedes Kind, der Duft von Apfelmost, das neugeborene Kälbchen mit den weichen Lippen …
… all das ist da, steht vor ihm, aus einem anderen Land, einer anderen Zeit wieder mitgebracht, zu ihm herüber, hierher, jetzt, in diese Glitzerstadt Berlin.
Einen Moment nur hat sich der Vorhang verschoben. Gregor erschrickt, er wusste nicht, dass all das noch so nah ist. Er zwingt sich, aufzutauchen, schämt sich, hat Angst, legt seine warmen Hände in den Nacken. Was ist mit ihm los? Er reißt die Augen auf, versucht, sich zu konzentrieren.
"Macht nichts", sagt da die Frau, "kein Problem. Ich fragen jemand andere." Sie lächelt und eine Reihe kräftiger weißer Zähne blinzeln ihn an.
"Was haben Sie …", setzt Gregor an, aber er spricht nicht weiter, es ist ihm peinlich, er hat ja die ganze Zeit dagestanden, er kann sie doch jetzt nicht fragen, was sie gesagt hat. Sie schwenkt aus und setzt ihren Weg mit weichen prallen Schritten fort, ruft "Tschüs!", berührt flüchtig Gregors Arm und lacht.
Er bleibt allein zurück. Mit der Hortensie. Geht zwei Schritte mit schweren Beinen, setzt sich auf den harten Betonkasten.
Menschen gehen hin und her. Kinderwagen werden geschoben, ein älteres Paar hält sich an den Händen, zwei Halbwüchsige düsen ratternd auf ihren Skate-Boards an ihm vorbei und Gregor, seit dem vorigen Jahr in Rente, dieser Gregor, der immer dachte, dass alles mit ihm in Ordnung sei, der anderen Ratschläge gegeben hat, weiß plötzlich, dass da ein Loch ist in seinem Leben, dass etwas fehlt.
Er weiß nicht, wie er dieses Fehlende einfügen soll, dass es aber notwendig ist, unbedingt notwendig. Und er weiß auch ganz deutlich, was es ist. Er muss noch irgendwohin mit seiner Liebe. Er hat davon noch so viel.


Eingereicht am 20. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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