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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Am Tag nach Ostern

©Eva Markert

Am Tag nach Ostern machte Mona sich allein auf den Weg. Es war nicht weit: nur die Straße entlang und dann rechts.
Geduckt lief sie durch den warmen Nieselregen. Bei diesem Wetter waren nicht viele Leute unterwegs. Das Tor zum alten Friedhof stand offen. Eilig folgte sie den einsamen Wegen. Um sie herum schien alles grau und schwarz von Nässe. Das Gras hatte seine Farbe verloren. Selbst die Blumen schienen verblasst.
Je näher Mona ihrem Ziel kam, desto größer wurden ihre Schritte. Sie hatte so ein freudiges, hoffnungsvolles Gefühl. Ein bisschen wie früher vor Weihnachten, als sie noch ans Christkind glaubte. Inzwischen wusste sie natürlich, dass es das Christkind nicht gab. Und auch keinen Osterhasen. Feste würden sowieso nie mehr so sein wie früher.
***
"Was meinst du", hatte Mutti ein paar Tage vor Ostern gefragt. "sollen wir das Eierverstecken dieses Jahr ausfallen lassen?"
Mona war einverstanden. Sie konnte sich nicht vorstellen, Eier zu suchen, als ob nichts geschehen wäre.
Weil sie nicht anfangen wollte zu weinen, lief sie schnell ins Wohnzimmer. Plötzlich entdeckte sie zwei Fotos in einem Regal. Mutti musste sie hingestellt haben. Vati lachte in die Kamera. Mona erinnerte sich genau daran, wie diese Aufnahmen gemacht wurden. An seinem Geburtstag. Damals ahnte niemand, dass es sein letzter war. Auf dem einen Bild blickte er ihr direkt in die Augen. Beinahe so, als wäre er lebendig. Mona guckte schnell weg. Sie wollte das nicht sehen. Mit der Rückseite nach oben legte sie die Rahmen in eine Schublade.
Am Ostersonntag ging sie erst hinunter, als Mutti sie rief. Verwundert blieb sie in der Tür stehen. Der Tisch war wie an einem Festtag mit dem guten Geschirr gedeckt. An ihrem Platz standen Schokoladenhasen und um den Teller herum lagen viele bunt eingewickelte Ostereier. Aber das Schönste war ein prachtvolles Ei aus leuchtendroter Pappe mit einer wunderschönen weißen Spitzenschleife.
Nach dem Frühstück nahm Mona die Süßigkeiten mit in ihr Zimmer. Sie setzte sich aufs Bett und betrachtete das große Ei. Dieses kräftige Rot konnte man bestimmt schon von weitem sehen.
Auf einmal kam ihr eine Idee. Dieses Ei wollte sie Vati schenken! Sie legte es einfach auf sein Grab, und er kam nachts vom Himmel herunter und holte es ab. Warum sollte das nicht möglich sein? Vielleicht war so was gar kein Wunder, sondern geschah ganz oft! Nur dass es niemand sah.
Mona wurde richtig aufgeregt. Was könnte sie einpacken? Auf jeden Fall Eier aus Marzipan. Marzipan mochte er sehr. Und Nougat. Andererseits - diese Ostereier aß sie selbst so gern. Am liebsten behielte sie die für sich allein. Nein, sie durfte nicht geizig sein. Er sollte auch welche bekommen. Wer weiß, ob es da, wo er jetzt war, Nougat gab.
Während sie das Ei füllte, fiel ihr noch was ein: Einen Brief wollte sie ihm auch schreiben! Sie setzte sich an den Schreibtisch, holte ihr schönes hellblaues Briefpapier mit den Blumenkörbchen hervor und fing an:
    Lieber Vati!
    Wie geht es dir? Mir geht es gut.
Was sollte sie als Nächstes schreiben? Mona legte ihren Füllfederhalter hin und malte erst mal rote Herzchen an den Rand.
    Zu Ostern habe ich viele Eier gekriegt und Osterhasen.
Ja, das war gut. Und jetzt? Sie lutschte an der Füllerkappe und sah aus dem Fenster. Die Sonne schien, doch vom Rand des Himmels schob sich eine dunkle Wolkenwand heran.
"Mona! Wir wollen zum Friedhof, ehe es anfängt zu regnen!"
"Ja, gleich!" Schnell schrieb sie weiter.
    Ich muss jetzt gehen. Bitte hol das Ei ab.
    Viele Grüße
    Deine Mona
"Beeil dich!"
Hastig faltete sie den Briefbogen und steckte ihn in das Ei. "Ich komme!"
Sie sprang die Treppe hinunter. Das Ostergeschenk hatte sie in ihrem Rucksack verborgen.
Die schwarzen Wolken bedeckten inzwischen den größten Teil des Himmels. Als sie am Grab ankamen, verschwand die Sonne. Der böige Wind nahm zu.
Ein Blumenstrauß stand vertrocknet in der Grabvase, aber sie hatten einen neuen mitgebracht.
Die ersten dicken Tropfen fielen.
"Ich werfe die welken Blumen eben auf den Komposthaufen. Geh du schon vor zum Ausgang."
Mutti öffnete ihren Schirm und lief los. Der Regen wurde stärker. Rasch holte Mona das rote Ei aus dem Rucksack und legte es mitten auf das Grab.
***
Seitdem hatte sie immer wieder an ihr Geschenk gedacht. Deshalb war sie nicht mehr so traurig gewesen. Auch während sie an den Grabreihen entlang lief, stellte sie sich vor, wie Vati das Ei fand, es öffnete, ihren Brief las und sich über die Süßigkeiten freute. Sie lächelte. Gleich würde sie es sehen. Bestimmt war das Ei weg.
Der Nieselregen hörte auf. Es wurde heller. Sie begegnete dem Friedhofsgärtner, der eine leere Schubkarre vor sich herschob.
Mona bog in den schmalen Weg ein, der zu Vatis Grab führte. Sie zuckte zusammen. Da leuchtete etwas Rotes. Aber nein, das war nicht das Ei! Sie hatte nicht mehr an die Blumen gedacht!
Sie ging näher heran. Nichts! Kein Osterei. Sie lachte laut auf. Sie hatte es gewusst! Solche Wunder gab es also doch! Sofort musste sie Mutti davon erzählen! Sicher wollte sie auch gleich einen Brief schreiben. Das konnten sie nun immer tun. Und wer weiß - vielleicht bekamen sie eines Tages sogar Antwort!
Auf dem Weg zum Ausgang hüpfte sie und sang leise vor sich hin. Die Sonne kam hervor und schien richtig warm auf sie hinunter.
Ganz plötzlich blieb sie stehen. Beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren. Das Lied blieb in ihrer Brust stecken. Da lag etwas Rotes. Mona wandte sich ab. Wäre sie bloß nicht an dem Komposthaufen vorbeigegangen! Aber nun hatte sie es gesehen: Die rote Pappe war vom Regen durchweicht und die weiße Schleife schmutziggrau geworden.
Zu Hause ging sie sofort in ihr Zimmer und stellte sich ans Fenster. Die Vögel sahen aus wie kleine schwarze Punkte am Himmel. Mona schaute zu, wie die rote Abendsonne unterging und es langsam dunkel wurde. Der erste helle Stern kam zum Vorschein. Er war so fern, so unendlich weit weg.
Sie hörte Mutti im Wohnzimmer rumoren und ging zu ihr.
Die Fotos lagen noch in der Schublade, mit der Rückseite nach oben. Mona nahm sie heraus und betrachtete sie lange. Hinter ihren Augen brannte es heiß.
"Kann ich eins davon haben?", fragte sie schließlich.
"Natürlich!"
Sie suchte sich das Bild aus, auf dem Vati sie ansah, und stellte es auf ihren Schreibtisch.


Eingereicht am 19. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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