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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Zufalls Nacht. Eine Erzählung aus dem 6. Arrondissement
©Bert Kallenbach
Was für ein Mann wäre ich,
wenn ich nicht das Kind gewesen wäre,
das ich war!
(Albert Camus)
"Ich habe beschlossen diese Wohnung renovieren zu lassen!", schrie der Vermieter.
Die Alte sagte nichts mehr.
Der wochenlange Kampf hatte sie ausgelaugt. Sechsunddreißig Jahre hatte sie in diesem kleinen Zimmer in der Rue de Princesse verbracht. Unmerklich waren die Stufen der Treppe, die hoch zu ihrer kleinen Wohnung führten, schief und krumm getreten worden.
Vorerst konnte sie wohnen bleiben. Während der Dauer der Baumaßnahmen sorgte sie für Sauberkeit im Haus, indem sie den Handwerkern mit Wischlappen und Eimer nachkroch.
So entdeckte sie - auf Grund dieser bevorzugten Bewegungsart, die sie auch zunehmend in ihrer eigenen Wohnung anwandte - eines Tages, dass eine Bohle des Fußbodens direkt unter dem Fenster zum Innenhof unfachmännisch verlegt worden und lose war. Den darunter liegenden Hohlraum legte die Alte als Versteck an. Sie hatte die Absicht hier Dinge hineinzulegen, von denen sie behauptet hätte, es seien ihre Wertsachen.
Dazu kam es jedoch nicht. Im Januar 1871 starb sie beim Einzug der preußischen Truppen in Paris. Eine Lafette war zu schnell auf den Boulevard eingebogen, ins Schleudern gekommen und hatte die alte Frau erfasst.
Nicht ganz 90 Jahre später beschließt Camus, seine Frau und seine zwei Kinder mit dem Zug nach Paris zurückfahren zu lassen. Er gibt seiner Frau einige persönliche Dinge mit, unter anderem einen Umschlag, in dem sich ein Manuskript befinden könnte, und will selbst zwei Tage später mit dem Auto nachkommen.
In allen Biographien über ihn wird später stehen, dass er bei einem Autounfall südlich von Paris am 4. Januar 1960 ums Leben kam.
"Dieses Manuskript habe ich", sagte der Dieb in einem Ton gespielter Gleichgültigkeit, "noch keinem Menschen gezeigt. Niemand weiß, dass ich an diesem Buch arbeite."
Nachdem er die Frau von Camus im Zug bestohlen hatte, war ihm bis zur Ankunft in Paris noch genügend Zeit geblieben sich mit dem Inhalt der Tasche zu beschäftigen.
Aus der hintersten Ecke des Deux Magots heraus schaute er auf den Boulevard. Schneeflocken wurden gegen die angeschlagenen Scheiben getrieben. Das Licht der Scheinwerfer vorbeifahrender Autos huschte vorbei und blieb für den Bruchteil einer Sekunde am Holz der zwei chinesischen Figuren hängen, bevor es weiter über die Tische wanderte.
"Warum gerade ich?", fragte Simone. "Warum bin ich es, der Sie so etwas anvertrauen?"
Ihre Blicke trafen sich, zwischen ihnen stieg verdampfender Kaffee als feiner Nebelfaden auf. Der Dieb genoss es, dass sie begann in ihm einen Schriftsteller mit allen entsprechenden Attributen zu sehen. Er stützte sich mit der rechten Hand auf, zog an der Zigarette und spürte angenehm die Wärme, die ein riesiger schwarzer Ofen ständig in den Raum schob und verteilte.
"Weil es mir wichtig ist einem Menschen sagen zu können, wenn eines meiner Bücher fertig geworden ist und weil Sie jemand sind, der mich an einen Menschen erinnert, dem ich es auch gesagt hätte - säße er jetzt hier."
Er spielte mit einer ausgedachten geheimnisvollen Vergangenheit und lächelte gedankenverloren. Sie ergriff seine nervöse Hand, zwang sie durch sanften Druck zur Ruhe und führte sie an ihre Lippen.
Nachdem sie einen zweiten Cognac getrunken hatten, entschuldigte er sich und ging kurz zur Toilette.
Als er wieder zurückkam, saß Simone nicht mehr da. Das Manuskript war verschwunden und dort, wo es gelegen hatte, konnte man die Maserung und die von Zigarettenglut verursachten Brandflecken des Holzes erkennen. Der Dieb presste die Lippen aufeinander. Er spürte Wut über seine Dummheit aufsteigen. Gleichzeitig aber empfand er auch eine wohlige Genugtuung: der Diebstahl ehrte seinen Geist, auf dessen Qualität er in dem Gespräch mit Simone ständig angespielt hatte.
Etwa eine halbe Stunde, bevor Simone eilig mit dem Manuskript das Magots verließ, kam Monsieur Le Drezen zielstrebig aus der Metrostation St.-Germain-des-Prés geeilt.
Silvester und die Feier zum neuen Jahr hatte er bei seiner Familie in Rennes gefeiert. Ein kurzer, aber heftiger Streit am Vormittag des darauffolgenden Tages mit seiner Mutter hatte es ihm ermöglicht einen früheren Zug nach Paris zu nehmen. Noch während der Fahrt versuchte er den Ärger über seinen Wutausbruch zu rechtfertigen; ganze Generationen seiner Vorfahren ließ er auftreten, die belegen sollten, dass er genetisch bedingt und als Nachfahre eines alten Kapitänsgeschlechts überhaupt keine Chance gehabt hatte
sanftmütig zu reagieren.
Nun stand er in der Rue de Princesse, suchte vergeblich nach dem Zweitschlüssel und klingelte dann erfolglos ein paar Mal an der Wohnung seiner jungen Freundin Simone.
Schließlich gab er es auf und schlug die Richtung zum Boulevard ein. Leichtes Schneegestöber hatte eingesetzt, Flocken tanzten um das Licht der Straßenlaternen, änderten abrupt wie eine militärische Einheit im gesamten Verband die Richtung und tauchten dann ein in schwarz glänzende Pfützen, die sich im Rinnstein gebildet hatten.
Le Drezen fluchte, weil er eine Pfütze übersehen hatte. Kaltes, dreckiges Wasser spritzte auf und beschmutzte seine Hose. Vor dem Magots blieb er stehen und schaute durch die angeschlagenen Scheiben.
Er hatte richtig vermutet: Simone saß an einem der hinteren Tische. Durch Schwaden von Rauch und verdunstender Nässe hatte er sie ausgemacht. Sie trug das Kostüm, von dem sie wusste, dass es ihm gefällt, und die Schuhe, deren Vollendung für ihn darin bestanden, Ausgangspunkt der Mittelnähte schwarzer Strümpfe zu sein.
Er hatte sich schon abwenden wollen und war im Begriff die Tür aufzustoßen, als er bemerkte, dass neben Simone ein Mann saß, dessen Hand sie ergriffen hatte und zum Mund führte um sie zu küssen.
Drezen erstarrte.
Er sah, wie dieser Mann aufstand, den Tisch verließ und in Richtung Toilette ging. Simone nahm einen großen bräunlichen Umschlag, der vor ihr lag, rollte ihn, so gut es ging, und schob ihn in ihre Handtasche. Dann verließ sie sich im Gehen den Mantel über die Schultern werfend mit eiligen Schritten das Café.
Le Drezen folgte ihr.
Er achtete darauf Abstand zu halten. Simone, die in ihrem Rücken als dunkle Silhouette drohend und schweigsam die Kirche hatte, überquerte den Boulevard. Sie bog in die Rue des Ciseaux ein. Der Verkehrslärm wurde leiser, immer weniger Menschen kamen ihr entgegen. Schließlich stand sie vor dem Tor, durch das man in den Innenhof und weiter in das Hinterhaus gelangen konnte. Es war noch geöffnet und Simone ging mit raschen Schritten durch. Das Klicken ihrer Absätze prallte gegen die Wände und glitt von dort ab.
Sie öffnete die Tür zum Hinterhaus und stieg die Treppe mit den schief getretenen Stufen hoch. Im ersten Stockwerk blieb sie vor einer der drei Türen, deren dahinterliegende Räume Reisenden früher als Quartier gedient hatten, stehen und fingerte den Wohnungsschlüssel aus ihrer Handtasche. Sie öffnete die Tür, die langsam hinter ihr zufiel. Ohne sich darum zu kümmern sie zu schließen, ging Simone geradewegs auf das halb geöffnete Fenster zu, unter dem sie das Versteck gefunden hatte. Sie bückte sich, schob ein
Brett des Bodens zur Wand hin und hob es an. Dann griff sie nach dem braunen Umschlag und schob ihn in die kleine Aushöhlung, die sich im Fußboden befand. Sie deckte die Aushöhlung mit dem Brett wieder ab.
"Was tust du da?"
Le Drezen, der Simone die ganze Zeit beobachtet hatte, jedoch nur den Rücken seiner hockenden Freundin sehen konnte, ging auf sie zu. Nur mit Mühe konnte er seine brodelnde Eifersucht zurückhalten.
Simone erschrak. "Seit wann beobachtest du mich?"
Le Drezen stand nun vor ihr, packte sie an den Oberarmen und schüttelte sie.
"Lang genug, um sehen zu können, wie du dich mit diesem Mann im Magots anscheinend wunderbar verstanden hast."
Simone amüsierte sich: "Das ist doch lächerlich."
"Lächerlich?!"
Le Drezen verstärkte seinen Druck und schüttelte Simone heftiger. Diese versuchte sich herauszuwinden und genau in dem Augenblick, in dem sie größtmöglichste Anstrengungen unternahm, löste Le Drezen seinen Griff um sie besser packen zu können. Simone, unvermittelt freigekommen, prallte mit voller Wucht gegen die Kante des hölzernen Fensterrahmens. Sie sank zusammen und ihr Genick schlug zerbrechend an die steinerne Fensterbank. Zusammengekrümmt und reglos lag sie auf den Dielen. Eine Blutlache bildete sich und
tropfte durch Ritzen der Bretter in irgendeine Dunkelheit. Schneeflocken trieben an das Fenster und rannen schmelzend die Scheiben hinunter. Aus einer Wohnung tönte verzerrt die von einem Grammophon abgespielte Melodie.
Le Drezen starrte entsetzt auf Simones Körper; sein Blick wanderte zu ihren Augen, als ob er durch deren Gebrochenheit noch eine Antwort erhoffe. Dann, nach Momenten, die ihm quälend lang vorkamen und in denen er nur langsam begriff, was passiert war, drehte er sich um und rannte hinaus in den Hausflur mit der abblätternden Ölfarbe, die schief getretenen Steintreppen hinunter, durch den schwarzen Innenhof, die Rue des Ciseaux bis hin zum Boulevard. Er stürzte auf die Straße ohne auf die vorbeifahrenden Autos
zu achten.
In deren wuchtigen Kotflügeln brach sich immer wieder für den Bruchteil einer Sekunde das Licht der Straßenlaternen. Er wurde geblendet und riss die rechte Hand hoch. Das war die letzte Bewegung, die er in seinem Leben bewusst von sich wahrnahm.
Winter 1992. Ein junger Mann von etwa zwanzig Jahren kommt vom Quartier Latin den Boulevard St. Germain entlang. Er schlendert an der alten Abteikirche vorüber und betritt das Café "Les Deux Magots".
Der Westwind treibt graue Wolken die Seine flussaufwärts und der Mann freut sich auf den Café, den er nun zusammen mit einem Glas Wasser trinken wird. Direkt über ihm thront eine hölzerne Statue und von ihr scheint ein verstehendes Lächeln aus Fernost herunterzuschweben.
Der Mann trinkt aus, verlässt das Café, überquert den Boulevard und geht in seine kleine Wohnung in die Rue de Princesse. Er will den Tag ausklingen lassen, die Nacht begrüßen und setzt sich mit angezogenen Beinen unter das Fenster. Sein Blick wandert über die wenigen Möbel, die Wände und dann - mit wachsender Aufmerksamkeit - über die alten Bohlen, deren Fugen sich im Laufe der Jahrzehnte nach und nach vergrößert haben und zum Teil schon den Blick auf den darunter liegenden nackten Stein freigeben.
Von der Aktentasche, die Camus am 4. Januar 1960 im Moment seines Todes bei sich hatte, wird behauptet, sie hätte das Manuskript "Der erste Mensch" enthalten. Seltsamerweise wurde es erst 1994 veröffentlicht.
Eingereicht am 18. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.