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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Keine Kunst
©Barbara Krauß
Feuer und Rauch, die neue Dimension. Eine monströse Wolke. Bis zu jenem Tag glaubten wir, schon alles gesehen zu haben.
Rauch und Asche. Die Farben brillant. Die Auflösung des Schirms dank neuester Technik sehr gut. Welch ein dramatischer Vorspann! denkt jener Teil unseres Hirns, in dem Raum für die Kunst ist. Gleich muss die Einspielung der Darsteller folgen. Nach zwanzig Minuten die erste Werbung. Und eineinhalb Stunden später wird dieser Film doch hoffentlich gut ausgegangen sein!
Unsere Rezeptoren sind alle besetzt. Wir reagieren nicht mehr auf den Schrecken. Wenn er uns selbst nicht trifft, sind wir weltweit seine willfährigen Zeugen. Man muss sich schließlich auf dem Laufenden halten. Beim Anblick dieser ungeheuren Wolke kommt uns das Wort "Dramaturgie" in den Sinn. Irgendeiner spricht es aus.
Bis unsere Einsicht mit den Trümmern unten ankommt, dauert es Sekunden. Noch immer könnte dieses Bild eine Animation sein. Am Computer ist heute fast alles möglich. Man kann seinen Augen nicht mehr trauen. Ein Dutzend Sprichwörter wird damit redundant. Von Zeit wird indes plötzlich oft gesprochen. Nichts soll jetzt mehr so sein, wie es war. Ein abgedroschener Satz unserer Spaßgesellschaft. Diesmal soll er stimmen - keine Ahnung, wie lang.
Zeit: Jäger und Gejagte. Janusköpfig. Im Weltall lässt sie sich beugen. Auf Erden steht sie nur im Schrecken still. Behauptet man. Und merkt, dass es für den Schrecken keine Steigerung gibt, nur ein dumpfes Gefühl der Ohnmacht. Doch die ist schon wieder ein anderes Wort. Sämtliche Momente, die uns einst Schrecken waren, persiflieren sich jetzt. Erinnerungsakrobatik: Wann, je, haben wir so etwas schon einmal gesehen? Nur Kriege fallen uns ein, Naturkatastrophen. Alle gesehenen Kriege, Naturkatastrophen, gebündelt
in diesen Sekunden. (Selber Bildschirm, gute Auflösung. Keine Ahnung, welches Wetter da herrschte. Drinnen, bei uns, war es warm.)
Wir starren auf den Schirm. Die Nachmittagssonne fällt ungünstig auf den Apparat. Zu dieser Zeit sehen wir sonst eher selten fern. Vielleicht sollte man die Rollläden herunterlassen, nur ein kleines Stück, wie wenn Ferien wären.
Das Wort Dramaturgie will uns nicht aus dem Kopf. Sollte das alles, da, wirklich wahr sein? Fast sind wir versucht, den Apparat zu berühren - nach dem Ende unserer Kindheit nun wieder einmal, zum ersten Mal.
Nietzsche träumte von einem Garten. Von einer "wirklichen Arbeit, welche Zeit kostet und Mühe macht, ohne den Kopf anzustrengen". Auch er begann an einem Septembertag, einhundertzweiundzwanzig Jahre zuvor. Aus körperlichen Gründen gab er nach drei Wochen auf. Es wird nicht gesagt, welches Wetter damals herrschte. Es wird wohl ein unspektakulärer Herbsttag gewesen sein.
Niemand rät einem Laien, im Herbst mit dem Gärtnern zu beginnen. Auch wenn es vernünftig scheint. Man sollte im Frühjahr beginnen, wenn schnell der Erfolg kommt. Radieschen im zeitigen März, die keimen schnell. Auch wenn dann bald die Einsicht kommt, dass man den Boden hätte vorbereiten sollen.
Was lehrt uns das? Nichts. Außer dass für den Misserfolg nie die richtige Zeit ist.
Ob es das Paradies ist, Menschen zu töten? Wie überhaupt das Paradies beschaffen ist? Freundlich zumeist. Warm. Ein Ort der Stille und des Schweigens. Oder kalt, schwarze Gruft. Wo schneidend der Wind weht. Wo man sich, obschon körperlos, seiner Nacktheit bewusst wird. Ein Ausgeliefertsein an ... Woran? An alles Denkbare? Alles Undenkbare? Es wird ein Ort ohne Fragezeichen sein. Alles wird klar sein. Dort wird man uns Gewissheit geben, ob getötet werden darf für das Paradies.
Die Kinder spielen Nord- und Südturm. In der richtigen Reihenfolge brechen sie zusammen. Wut gegen die Wut. Kampf gegen den Kampf! Nur die klügsten von ihnen reagieren mit Angst. Für die anderen ist auch die Angst ein Spiel. Der Tod ein Spiel. Und ihre Gewehre, Patronen, sind echt, sind nicht echt, sind doch echt! Hass auf den Hass. Und ich geb's dir! Und brennende Flaggen. Keine Frage von Längen- und Breitengrad. Keine Frage von Hautfarbe und Religion. Überall sind Kinder die Kämpfer von morgen. Bis die Waffen
echt sind. Und jeder sich wünscht, alles wäre ein Spiel.
Die Künstler schweigen. Soviel Schrecken passt nicht in einen treffenden Satz. Auch die Leinwände werden nicht ausreichen, das Gesehene zu bannen. Guernica-Formate. Oder gar keine. Wo die Wirklichkeit die Fiktion übertrumpft, werden die Seiten noch lange weiß bleiben. Die Pinsel sauber. Da sollten auch die Komponisten schweigen. Die Schreie der Sterbenden sind nicht Kunst. Der tosende Einsturz: Keine Kunst! Es wird lange dauern, ehe aus dem Gesehenen dereinst Kunst werden kann: Wenn dann noch Raum sein kann für
einen zweiten (tröstenden) Gedanken.
Wie banal unser Wortschatz ist. Kein Giftschrank für die Apokalypse: Worte des maßlosen Entsetzens, auszusprechen: Dann. Die meisten von uns werden etwas Belangloses gesagt haben: Das darf doch nicht wahr sein! Das kann ich nicht glauben! Auch von Gott wird die Rede gewesen sein, zunächst in der Wendung (also ohne Bedeutung): "O my god!" Dazu diese Aufnahme, Amateurvideo, leicht verwackelt. Die absurde Penetration.
Kein Mensch hätte sich ausmalen mögen, was geschähe, wenn dereinst ein Flugzeug in diese wie Wasser glänzende Fassade stürzte. Vielleicht doch: Es hätte unbeschadet wieder auftauchen können. Das eine so unbegreiflich wie das andere. Also ein Albtraum. Die Wolke verhieß soviel Leichtigkeit. Ein Schweben. Lange ... Lange träumten die Menschen darum auch, es müssten doch Überlebende in den Trümmern zu finden sein. Ein paar hundert zumindest.
Samstagabend. Dunkle Dorfstraße. Wenige Laternen. Aus sternenklarem Himmel plötzlich tanzende Lichtpunkte. Was, wenn das jetzt die Antwort ist? - Auf welche Frage?
Suchscheinwerfer! Es kann nur so sein! Wer kommt jetzt, wen zu holen? Wohin fliehen, wenn das die Rache ist? - Rache wofür?
Ein Junge auf dem Fahrrad. Flieht. Wendet. Fragt bestürzt, was das denn sei? Nur eine Diskothek, Kind. Der Skybeamer. Man sieht sein Licht kilometerweit. Abtanzen, du verstehst! Unser Leben geht weiter. "Danke", entschuldigt sich das Kind, "fast hatte ich Angst".
Wäre Nietzsche jetzt zum Graben in den Garten gegangen? Um nicht denken zu müssen? Er hätte festgestellt, dass harte Arbeit das Denken befördert. - Vielleicht hat er es gemerkt und gab darum auf.
Alltag in unseren zentralbeheizten Wohnungen. Grüße kommen per E-Mail. Unser Computer erzählt uns: Sie haben Post. Die Geräte lassen sich immer leichter bedienen, per Tastendruck, per Mausklick, bald ganz von selbst. Auch unsere Heizung lässt sich dressieren über ein kleines Kästchen. Wir können sie fragen, wie es ihr geht. Die Elektronik gibt ungeniert Auskunft. Virtuelle und reale Welten verwischen. Unser Gehirn sortiert noch gelegentlich. Meistens nicht mehr. Kriege finden am Bildschirm statt. Haben wir genug
gesehen, schalten wir ab. Nur bei eingetretenem Schmerz registriert das Gehirn: Dies ist die Wirklichkeit! Achtung! Keine Fiktion!
Wie viele mochten sich gekniffen haben, am 11. September?
Wüste. Hitze und Sand. Nachts die Kälte. Der Winter kann hier den Tod bedeuten. Es braucht keine Elektronik für diese Auskunft. Die Menschen in Sandalen. Mit schmutzigen Füßen. Näher am Schmerz (vermuten wir). Die, die näher am Schmerz sind, werden weniger zu verlieren haben, bilden wir uns ein und meinen, Fanatismus damit schon verstanden zu haben. Zur Abwechslung: Werbung! Damit es nicht so ernst ist.
Je kleiner die Welt wird, desto mehr ist der Rat der Experten gefragt. Es lässt sich ohne weiteres nicht mehr erkennen, ob der Nachbar auch Mensch ist.
Schwarze Haare, lange Bärte. Sehen sie nicht alle gleich aus? Die Gewänder fadenscheinig, häufig sandfarben. Damit wir sie in ihren Wüsten und Bergen nicht zu fassen kriegen. Trägt einer einen Anzug, kommt er uns zivilisiert vor. Er wird uns täuschen wollen.
Der soziokulturelle Hintergrund muss auf den Tisch. Die vergangenen Kriege. Die Kriege, die um der Kriege willen geführt wurden. Auge um Auge um Auge ... Erst wenn diese Bilanz aufgeht, darf der Frieden sich einnisten. Doch Gott ist kein Kaufmann.
Auf unseren Bildschirmen wird gelacht. Je schwieriger die Lage, desto mehr wird gelacht. Unsere Kinder werden Bundestagsdebatten bald für eine neue Art von Comedy-Show halten. Oder für Kunst. Weil so viele schwarz gekleidet sind.
In unserem fernen Krieg sterben Menschen. Menschen sind Männer, Frauen und Kinder. Experten erklären uns, warum das gerecht ist. Auge um Auge um Auge ... Immer mehr Soll- und Habenposten. Die Bilanz bläht sich weiter. Jede Aktion eröffnet Unterkonten. Die müssen alle erst abgeschlossen sein. Rechnungsabgrenzungsposten aus vergangenen Kriegen. An Bilanzierung ist noch längst nicht zu denken. Der Mensch hat gerne etwas in petto. Solange muss der Frieden sich gedulden.
Eines Tages werden wir vergessen haben, wozu ein Frieden gut ist. Vielleicht schickt Gott uns dann zum Graben in den Garten.
Eingereicht am 18. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.