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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Ida Hofer und ihre Erfahrung in der Stadt
©Jo
Es war einer dieser Dienstagnachmittage im Sommer, an denen das gleißende Licht der Sonne die Geräusche der Stadt zu verzerren scheint. Das Gehupe der Autos, Motorenbrummen, Kindergeschrei. Das Gebimmel und Gerumpel der alten Straßenbahn Richtung Harthausplatz. Diese Komposition aus stereotypen urbanen Akustikelementen erzeugte in Frau Ida Hofers Nackenbereich ein unangenehmes Kribbeln. Wie es oft zustande kommt, wenn ein bremsender Zug dieses grelle Kreischen über die Bahnsteige schleudert. Noch nie zuvor hatte
Ida diesen Klangteppich so bewusst wahrgenommen. Sie stand ganz still, fast steif, am Ufer eines kompakten Stromes von Menschengewimmel und wartete auf die Ausgabe ihrer Viererserie Passphotos, die sie soeben hinter dem ergrauten Filzvorhang des Automaten in der Willi-Brandt-Passage hatte schießen lassen. Ihre Augen waren geschlossen, damit sie sich besser auf die Geräusche der Stadt konzentrieren konnte.
Plötzlich wurde ihr geistiges Dahingleiten von einer leichten Woge faulen Eiergeruchs, der von der Fixierlösung des Automaten stammte, unterbrochen. Mit einem Schlag sprangen ihre Lider nach oben und die kurzzeitige Unschärfe wurde, wie automatisch, durch Fokussieren auf die kleine rechteckige Öffnung in Bauchnabelhöhe korrigiert. Ida nahm die aneinanderhängenden Photos heraus und stellte mit Erstaunen fest, dass es gar nicht sie war, die da in vierfacher Ausführung abgebildet war. Sofort verstreute sie ein paar
kontrollierende Blicke in verschiedene Richtungen um festzustellen, ob sich der Besitzer der Photos vielleicht irgendwo in der Nähe des Automaten aufhielte. Doch sie sah niemanden, der sich durch eventuellen körpersprachlichen Ausdruck zu den Photos bekannte, weshalb sich Ida wieder dem kurzen Papierband in ihrer Hand zuwendete. Es war ein Mann, vielleicht Mitte dreißig, mit einem, wie ihr schien, herkömmlichen Gesicht, so herkömmlich, dass sie die Photos gleich wieder in die Öffnung steckte. Ja, das Gesicht
kam ihr so langweilig vor, dass ihr anfängliches Erstaunen plötzlich verschwunden war und durch die einfache Erklärung ersetzt wurde, dass ihre Photos wahrscheinlich gleich kommen würden. Ohne sich weitere Gedanken zu machen, lehnte sie sich mit dem Rücken gegen den Automaten und wartete, nun der Menschenmasse zugewandt, auf die Bestätigung ihrer Erklärung. Wieder schloss sie die Augen und wieder begannen sie die vom brennenden Schein der Sonne verzerrten Geräusche davonzutragen, als wäre sie auf einen fahrenden
Zug aufgesprungen, der sich alsbald vom Gleis abhebt und gen Himmel fliegt. Der Stadtlärm wurde zur Komposition eines Orchesters, bei dem jedes Mitglied mit seinem eigenen merkwürdigen Instrument spielte, was es wollte, ohne Notenschema oder gleichmäßige Rhythmik darauf herumhämmerte, -tutete und -schepperte. Ein fast unerträgliches heterogenes Gemisch aus sich gegenseitig abstoßenden Tönen erzeugte ein unangenehmes Stechen in Idas Kopf, welches sie nicht genau lokalisieren konnte. Doch sie konnte oder wollte
- das wusste sie nicht so genau - den leichten Schmerzen nicht entfliehen. Sie war wie gefangen, machtlos den wirren Akustiken der Chaosmusiker ausgesetzt, bis ihr einfiel, die Augen zu öffnen. Das Orchester war sofort verschwunden und sie sah jetzt das unscharfe Bild der umherwimmelnden Menschenmasse.
Der anfängliche Strom war zu einem großen See voller nervöser Lichtspiegelungen geworden, die ziellos und mit dauernden, plötzlichen Richtungswechseln umherirrten. Sie sah einzelne Sonnenstrahlen, die an der Oberfläche abprallten, wobei sich ihre Spitzen verbogen, als würde man Speere gegen eine Wand aus Stahl werfen. Mit jedem Abpraller wurde das Stechen in ihrem Kopf stärker und bald hatten sich die vielen Geräuschen in einen dumpfen Bordun verwandelt, der dem Druck des von dem am Himmel lodernden Feuerball
ausgehenden Lichts versuchte standzuhalten. Die anfänglich umherwirbelnden unzähligen Lichtpunkte wurden größer, bekamen Fläche und begannen sich gegenseitig zu bedrängen, als hätten sie ein Revier zu verteidigen. Manchmal wurde Ida von einem dieser Lichtflecken angerempelt, worauf ein tieftoniges Wallen durch ihren Körper ging, das sich in ihrem Kopf auflöste und die splitterartigen Schmerzen kurzzeitig verschwinden ließ. Bald war der See vollständig von Lichtflecken bedeckt, die wegen Platzmangel unfähig waren,
sich weiter zu bewegen und alle Eindrücke schienen sich auf eine atemlose Statik geeinigt zu haben.
Ida wollte hineinspringen in diesen stillen See aus Licht und Ton, sie wollte darin versinken und ersticken, sie wollte sich darin ertränken. Es zog sie eine unerklärbare Kraft an, sich in den Tiefen dieses Ozeans zu verlieren. Und, unfähig auch nur zu versuchen, gegen diese Anziehung anzukämpfen, ließ sie sich fallen und sobald sie von dem Gewässer verschlungen war, wurde alles dunkel und es trat absolute Stille ein, alles war verschluckt worden, alles.
Sie war in einem Raum, so dunkel, dass sie ihre eigenen Hände vor den Augen nicht sehen konnte. Nach einer Zeit der Orientierungslosigkeit hörte sie plötzlich ein regelmäßiges dumpfes Klopfen, welches sie zunächst als Schritte Interpretierte. Bald merkte sie jedoch, dass diese Schritte gar kein Geräusch sondern ein Gefühl waren, dass sie bald an ihrer linken Schulter lokalisieren konnte. Sobald ihr dies eingefallen war, sprangen ihre Augen auf. Die Menschenmassen waren verschwunden und die Kandelaber schon entzündet.
Vor ihr kauerte der Mann, den sie gleich als jenen auf den Photos erkannte, tippte ihr auf die linke Schulter, hielt ihr ein kurzes Papierband hin und sagte, mit einem unterdrückten Lächeln auf den Lippen: "Ich schätze, das sind Ihre Photos."
Eingereicht am 18. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.