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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Schwalbenflug

©Bernd Kurt Goetz

Luise deutet hinauf in den zweiten Stock des Klinikhauses. Dort, wo das Schwalbennest zu sehen ist, sagt sie, in dem Zimmer ist meine Mutter gestorben. Sie konnte, berichtet Luise, in ihren letzten Tagen aus dem Fenster schauen und die Schwalben beobachten.
Luise hat die Vögel auch aus der Zimmerperspektive gesehen, als sie neben ihrer Mutter saß und deren Tod erlebte. Ich bin sehr froh, sagt sie, dass ich dabei gewesen, als sie starb.
Es wird schwer werden, entgegne ich, das Gesicht der Toten zu verdrängen.
Wenn dort nicht die Schwalben ein Nest gebaut hätten, wüsste ich nicht zu beschreiben, in welchem Zimmer meine Mutter gestorben ist.
Schwalben schauen aus, als würden sie fein geschnittene Anzüge tragen, die sowohl zu Hochzeiten passend sind als auch zu Beerdigungen. Schwalben wirken sportlich, vornehm modisch und doch nicht overdressed. Es herrscht ein guter Mix.
Ich denke über Schwalben nach und erinnere mich an Begegnungen mit ihnen.
Was habe ich in meinem Leben auf die Schwalben geschaut, wenn ich mit dem Fahrrad unterwegs gewesen bin. Fliegen sie hoch die Schwalben, dann komme ich trocken nach Haus, aber gleiten sie tiefer und tiefer, schießen beinahe wie Pfeile quer über die Straße, dann naht bald Regen. Wenn die Schwalben tief fliegen, dann ist dies zu erklären, dass die Insekten, welche sie verzehren, sich infolge des atmosphärischen Drucks näher zum Erdboden begeben. Der Brotkorb der Schwalben hängt tief, wenn sich Regen und Wind ankündigen, und er hängt hoch droben, wenn sich eine Schönwetterlage stabilisiert. Tief fliegende Schwalben sind mir eine Aufforderung, schneller zu radeln, um nach Hause zu gelangen. Früher und heute auch noch.
Ich singe auch gerne das Lied "Machen wir's den Schwalben nach, bau'n wir uns ein Nest" aus der Operette "Die Csardasfürstin", obgleich ich Melodien nicht genügend fixieren kann. Dieses Lied hat sich irgendwann eingekrallt in mein Hirn.
Eine Schwalbe, weiß ich, macht noch keinen Sommer, lautet eine Redewendung, deren ständige Wiederkehr fast schmerzt.
Ein einst sich jährlich wiederholendes Ereignis schält sich in mein Denken zurück: Das Schwalbennest im Schlafzimmer meiner Eltern.
Im Schlafzimmer meiner Eltern hing eine Lampe, die aus einer fast flachen aber weit ausladenden bräunlichen Glasschale gebildet wurde. Darein baute eines Tages ein Schwalbenpärchen sein Nest. Ein sehr komfortables Nest, welches über eine elektrische Heizung verfügte, die einsetzte, wenn man das Licht einschaltete. Wir selbst genossen den damaligen Luxus eines Kachelofens.
Solange die Schwalben in unseren Breiten lebten, schlossen meine Eltern nicht das Fenster. Die Schwalben kehrten mehrere Jahre wieder. Mein Vater verwandte sich besonders für die Schwalben. Denn wenn sich meine Eltern wegen dieses Nestes im Schlafzimmer stritten, verteidigte mein Vater die Vögel, denn er musste nicht die Bettbezüge und den Raum reinigen. Ich bin in der Nähe von Schwalben aufgewachsen.
Wie oft hatte ich mir vorgenommen, meine Mutter, als sie schon sehr apathisch im Pflegeheim herumsaß, über diese Schwalben im Schlafzimmer zu befragen, aber immer wieder vergaß ich dies, überwältigt vom Anblick derjenigen, die dem Tod entgegen wartete. Mein Gott, was alles habe ich meine Mutter nicht gefragt, was mir nun aus der Geschichte der Familie fehlt. Meine Mutter konnte auch immer weniger auf Fragen antworten, die mir meine Eltern einstens schon mehrfach beantwortet hatten, aber mein Desinteresse hatte es nicht zugelassen, die Dinge zu speichern. Wie schmerzhaft man an einander vorbeiredet, merkt man erst, wenn der fehlt, an dem man gewohnt ist vorbeizureden.
Als wir die Mutter von Luise zu Grabe tragen, stellen wir am Abend fest: Auf den Tag genau vor 30 Jahren heirateten wir in diesem Ort. Eine Lebensphase vollendet sich. Wir beerdigen dort, wo wir einst die Ehe schlossen, die wir schon lange draußen in der Welt wieder aufgelöst hatten.
Die Schwalben, die im Schlafzimmer meiner Eltern brüteten, nisteten vor dem Sterbezimmer meiner einstigen Schwiegermutter. Meine Eltern beobachteten die Schwalben, wenn sie still nebeneinander im Ehebett lagen, und Luises Mutter beobachtete die Schwalben, als sie wusste, dass diese Vögel zu den letzten Dingen zählen, die sie wahrnehmen würde.
Wenige Tage später nach der Beerdigung ruft mich Luise an. Sie ist noch aufgeregt. Sie saß am Abend in ihrem Wohnzimmer, als eine Schwalbe durch die geöffnete Balkontür einschwebte und ruhig und ohne Hektik einige Runden über Tisch, Stühle, Computer und Fernsehgerät drehte, bevor sie wieder die Flugschneise ins Freie hinaus fand. Diese Schwalbe, sagt Luise etwas atemlos, schickte meine Mutter. Es ist alles in Ordnung. Wir haben sie richtig beerdigt. Alles ist in ihrem Sinn gewesen.
Ja, es scheint dann alles in Ordnung zu sein, sage ich. Wann schon fliegt ein Vogel in eine Wohnung und benimmt sich so, als wäre dies kein Grund, in Panik zu verfallen.
Wenn ich nachts wieder aufgeschreckt werde vom Gesicht meiner toten Mutter, das ich nicht vergessen kann, sagt Luise, das ich einfach nicht vergessen kann, werde ich mich bemühen, an die Schwalbe zu denken.
Es ist besser an die Schwalbe zu denken, bestätige ich.
Unsere Eltern alle sind tot, die letzte Vertreterin beerdigten wir an unserem Hochzeitstag, wir leben noch, und die Schwalben fliegen weiter. Wenn sich Regen ankündigt, fliegen sie sehr tief, fast an der Erde entlang, aber wenn sich eine Schönwetterlage stabilisiert, müssen wir weit nach oben schauen, um die Schwalben zu sehen. Wenn es sehr kalt ist, müssen wir gänzlich auf Schwalben verzichten. Und unterwegs sind die Schwalben immer im tadellosen Outfit und in einer Flughaltung, die Achtung abverlangt.
Doch, das weiß ich nun, Schwalben berichten nicht nur, wohin das Wetter tendiert. Sie zeichnen auch letzte menschliche Gesten in den Raum.
Wenn man auf die Dinge zu achten anfängt, die wiederkehren, schließt sich ein Kreis, aus dem es kein Entrinnen mehr gibt. Eine Schwalbe macht zwar keinen Sommer, aber viele Schwalben signalisieren, dass nicht nur ein Sommer irgendwann endet.
Ich bin ein Stück Schwalbenflug, sage ich zu Luise, als wir wieder telefonieren.
Mach dich nicht lustig, antwortet sie, und ich spüre, wie das Gesicht ihrer toten Mutter aus ihrer Bilderwelt zu verschwinden beginnt.
Die Schwalbe siegte.


Eingereicht am 17. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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