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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Lovers lane

©Gundula Thors

Die Fenster und die Haustüren der Häuserreihe sind braun lasiert. Alle gleich. An den Küchenfenstern hängen halb hohe Gardinen, die Stangen sind knapp unterhalb der Sichthöhe angebracht. Petra kniet auf einem Stuhl am Fenster und reckt den Hals. Es ist ihr zwölfter Geburtstag. Gleich werden ihre Gäste kommen. Das hofft sie. Seit sie an einer Schule in einem anderen Stadtteil ist, hat sie wieder Freundinnen.
Die Wohn-Esszimmer der Reihenhäuser sind L-förmig gebaut, mit je einem großen Fenster zu den schmalen rückwärtigen Gärten. Petras Mutter hat eine Yuccapalme in das Fenster gestellt als Sichtschutz, aber Petra hat trotzdem Angst, dass die Nachbarn hineinsehen können. Sie ist sich ziemlich sicher, dass das so ist. Manche der Männer grinsen, die meisten der Frauen grüßen gar nicht. Ihr Vater sagt, sie solle sich nicht darum kümmern, was die Nachbarn denken. In seinem Haus könne er machen, was er wolle. Die Mutter will nie darüber sprechen, betont mit erhöhter Stimme, das sei bei manchen Eheleuten nun mal so.
Petra glaubt nicht, dass das so ist, und sie hat Angst um ihre Geburtstagsfeier. An der Haustür hängen Luftballons mit Tiergesichtern und bunte Girlanden. Sie hat Spiele vorbereitet, und auf dem Tisch stehen Schokoküsse, eine Smartie-Torte und Wackelpudding in verschiedenen Farben. Es gibt auch tolle, teure Gewinne. Die müssen sein. Nicht zum Angeben. Das nicht. Später soll es Spaghetti geben und hinterher Eis.
Mama hat aufgeräumt. Den Fußballkrempel weg. Die Fahnen und Wimpel, die Plakate, die fleckige Mönchengladbach-Decke vom Sofa hat sie in die Abstellkammer gestopft. Wegen Petras Geburtstag. Sie hat sich nur die Feier gewünscht, ohne ihren Vater, und das Wohnzimmer sollte wie ein normales Wohnzimmer aussehen. Sonst hatte sie sich nichts gewünscht.
Vielleicht würden sogar zwei Jungs kommen. Florian hat zugesagt, und er wird auch seinen Freund Benjamin mitbringen. Petra murmelt ein kleines Stoßgebet und reckt den Hals noch höher über die Gardinenstange. Sie zerrt an ihrem neuen geringelten Rippenpulli, der heute Mittag, als sie aus der Schule kam, hübsch verpackt auf dem Tisch lag.
Ihre Wangen brennen rot. Papa ist geschäftlich in einer anderen Stadt hat Mama gesagt, er kommt erst abends zurück, wenn alle Sportsendungen im Fernsehen vorbei sind. "Bitte", flüstert Petra, "lass ihn erst ganz spät wieder kommen." Ihre Hand ballt sich zusammen, "lass ihn einen Unfall haben mit seinem blöden geliehenen Wagen, der gar nicht zu uns passt, lass ihn gegen einen Baum knallen mit seinem heißen Günter-Netzer-Schlitten!"
Sie hackt dem Mann auf dem Foto wieder die Zähne einzeln aus. Mit der Schirmspitze. Ich sehe es vor mir, obwohl sie viel zu weit entfernt von mir ist. Ich sehe ihre wässrig blauen Augen, ihr Haar, ruppig stumpf geschnitten, ihren unförmigen Körper. Jedes Mal, wenn sie mit dem Schirm ausholt, schreit sie Tor!
Auf der kleinen Anhöhe im Park, sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld: Dosen, Plastikflaschen, Chiptüten und Verpackungsgerümpel liegen herum. Während der letzten Tage ist es besonders schlimm: Europameisterschaft!
Zeitungen mit Fotos der Spieler und der Kommentatoren fliegen herum. Da hackt Petra jetzt hinein. Ich kann mir vorstellen, wer dort wieder abgebildet ist. Über zwanzig Jahre nach ihrem Geburtstagsfest quält sie dieses Gesicht noch immer. Mir ist heute überhaupt nicht danach zumute, mir wieder Petras Geschichte anzuhören. Diesen verzweifelten Hass. Ich tue so, als würde ich sie nicht bemerken. Mache einen Bogen um die Anhöhe.
"Zähne hat dieser Kerl, wie eine ganze Plattenbausiedlung. Dieses riesige, alles verschlingende Maul", sagte sie immer wieder, ohne zu erklären, ob sie Günter Netzer oder ihren Vater meinte, und malte sich mit dem Finger dick fleischige Lippen ins Gesicht. Als sie mir ihre Geschichte zum ersten Mal erzählte, hervorpresste, war ich entsetzt und gleichzeitig von einer eigentümlichen Faszination gebannt, aber mittlerweile, so leid sie mir tut, will ich es nicht mehr hören. Eine Zeit lang dachte ich, es sei der Park, dieses seltsame Biotop angefüllt mit Großstadtschicksalen, dieser Mikrokosmos, in dem sich auf wundersame Weise all die Freuden und Verwerfungen des Makrokosmos Welt wiederfinden. Allmählich aber frage ich mich, ob es nicht an mir liegt, dass ausgerechnet ich ständig in die Schicksale der hier auftauchenden Menschen hineingezogen werde.
Immer wieder machte sie mir vor, wie so ein großer Mund, wie wulstige Lippen schlürfen können, schmatzen und lecken.
"Weiber vernaschen!" Sie schüttelte sich. Schon ihrem Vater beim essen zuzusehen, muss eine Tortur für sie gewesen sein. "Er sieht diesem Günter Netzer wirklich ähnlich, das hat mein Vater sich nicht eingebildet, das stimmt. Diese eckig breite Stirn, die glatten, an den Schädel geklebten langen Haare. Ja, da war eine große Ähnlichkeit", murmelte Petra, "und mein Vater war ungemein stolz darauf."
Jedes Mal, wenn sie sich daran erinnerte, liefen ihr Tränen bis in die Mundwinkel, ohne dass sie es zu bemerken schien.
"Günter Netzer, ob der wirklich so ist, wie mein Vater?" Das fragte sie mich mehrfach, obwohl ich ihr immer wieder erklärt hatte, dass mich Fußball nicht interessiere. Aber, das gebe ich zu, diesen Netzer, wenn er im TV interviewt wird, diesen Menschen schaue ich mir seitdem genau an.
Damals, als sie mir diese Frage stellte, ging es ihr etwas besser, immerhin gut genug, um ihren Hass ansatzweise zu reflektieren, die verdrehte Rollenzuschreibung zu begreifen und in Frage zu stellen. Normalerweise waren Günter Netzer und ihr Vater für sie untrennbar zu einer Person verschmolzen. Und das beunruhigte mich.
Hatte sie den Ex-Fußballer jemals kennen gelernt? Kopfschütteln. "Zu den Spielen ist Papa immer alleine gefahren. Genauso angezogen, dieselbe Frisur, mit demselben Wagen wie sein Idol ist er losgerast. Mit lautem Motorengeröhre, das die ganze Nachbarschaft aufgeschreckt hat. Manchmal wurde er im Fernsehen interviewt. Als Netzerdouble. Die Sportreporter witzelten, ob er zu dem Sportwagen denn auch die passende weibliche Begleitung hätte. Wenn so etwas gezeigt wurde", Petra schluckte, "ist meine Mutter immer ganz blass geworden."
Petra hörte das Gekicher der Mädchen, konnte rechtzeitig vom Stuhl steigen, bevor sie am Küchenfenster vorbeikamen. Richtige Freundinnen waren die Klassenkameradinnen noch nicht. Aber sie behandelten Petra alle ganz nett. Es war ein wunderbares Gefühl. Petra ging erst seit ein paar Wochen auf die neue Schule. Weit weg von zu Hause. Befreit von Spott und Hohn. Endlich. Sie hoffte, dass ihr Vater seit dem Schulwechsel in keiner der Sportsendungen aufgetaucht war. Sie hatte jeden Bericht angesehen, mit zu Angstschlitzen verengten Augen. Ging es um den HSV, hielt sie den Atem an. Günter Netzer managte den Hamburger Fußballverein. Jetzt brauchte ihr Vater nicht einmal die Stadt zu verlassen, um sein vergöttertes Ebenbild zu sehen. Ferrari-fahrender Weiberheld. Sogar eine Diskothek hatte er. Die hieß Lovers Lane. Diesen Namen zerkaute Petras Vater wieder und wieder mit brunftigem Grunzen: "Lovers Lane, oh Mann! Na, Günter, hast du wieder heiße Tussen aufgerissen, die werden dir da doch reihenweise wie die Drinks auf dem Tablett serviert. Gratis, versteht sich."
Petras Vater sprach niemals über ihn, sondern immer mit ihm, so, als wäre sein Fußballheld leibhaftig da. Nach Spielen des HSV schrie er schon im Hineinkommen nach der Mutter: "Na, du geile Maus, soll ich dir den Netzer machen? Mal sehen, wie viele Tore ich heute bei dir reinschieße." Dann schob er sie ins mit Fußballdevotionalien voll gestopfte Wohnzimmer auf das Sofa mit der Vereinsdecke. Seine Körperflüssigkeiten, die er beim Günterspielen verspritzte, nannte er stolz grinsend Sportsflecken.
Ganz vorsichtig beginnt Petra sich zu freuen. Die Party scheint allen zu gefallen. Ihre Gäste haben sich zwar ein bisschen zu neugierig umgeschaut, aber sollen sie doch, heute sieht alles ganz passabel aus. Sogar die Jungs sind gekommen. Benjamin. Den wagt sie kaum anzusehen, weil sie jedes Mal Angst hat, rot dabei zu werden. Der Kuchen mit den Smarties war lustig, sie haben sich gegenseitig die bunten Dinger auf die Nasen gepappt, sich kringelig gelacht dabei. Mama ist in der Küche und wäscht ab. Jetzt spielen sie Reise nach Jerusalem. Die Stühle stehen aufgereiht unter dem Fenster mit der Yuccapalme. Petra blinzelt hinüber zu den tollen Gewinnen, die werden Eindruck machen. An den Päckchen sind kleine geheime Zeichen, damit auch jeder der Gäste das Richtige bekommt. Ein weißes Monchichi, das Petra selbst gerne gehabt hätte, ist auch dabei. Benjamin zieht allerdings eher lustlos am Schleifenband, schaut erst auf den Plastikbecher mit grünem Slimyglibber, dann mit einem fragenden Blick zu Florian. Der zuckt unentschlossen mit den Schultern. Sie stecken die Köpfe zusammen und wispern. Plötzlich ist es ganz still. Die Mädchen haben aufgehört zu reden und zu lachen. Sie scheinen auf etwas zu warten.
Petra wird unruhig, bekommt feuchte Hände. Dann gibt sie sich einen Ruck und fragt, ob ihm der Gewinn nicht gefalle. "Du kannst auch etwas anderes haben", sie dreht sich weg von den Jungs und sortiert die Päckchen.
"Ja?", Benjamins Stimme schwankt ein wenig, "hast du vielleicht etwas mit - mit einem Günter Netzer Autogramm?"
"Wo dein Vater doch", Florian spricht ganz schnell, mit haspelnden Silben, "ich meine, der hat doch bestimmt eine riesige Sammlung.
Petra denkt nicht, so fühlt es sich also an, wenn man kein Blut mehr im Kopf hat, sie denkt überhaupt nicht. Sie sagt nur: "Klar, ich schaue mal nach, ob ich etwas finde."
Im Hinausgehen hört sie wie die Mädchen flüstern. Die haben es also auch gewusst. In der Abstellkammer greift sie ein paar Autogrammkarten, zwei Vereinswimpel und ein Trikot.
"Toll, das dürfen wir haben? Sicher?" Benjamin langt zögernd nach dem Trikot, traut sich nicht, es zu nehmen.
Feige, verlogene, scheinheilige Schweine seid ihr!, rast es durch Petras Kopf. Allesamt. Aber sie steht ganz ruhig, fragt, ob noch jemand etwas zu trinken möchte. Was ihre Gäste antworteten, weiß sie nicht mehr, wahrscheinlich hat sie es überhaupt nicht gehört.
Die Stimmen im Flur hörte sie auch nicht, aber heute, wenn sie davon erzählt, wieder und wieder, weiß sie genau, was ihr Vater von sich gegeben hat als er unerwartet früh nach Hause kam. Er wird das Gleiche getan und gesagt haben wie immer, wenn er länger weg gewesen war. Mit schmatzenden Lippen. "Komm du geiles Stück, Elfmeterschießen." Oder so ähnlich. Wenn er sich schon im Flur die Kleidung vom Körper riss, seine Frau aufs Sofa zerrte, stieß er immer solche Worte hervor. Den Geburtstag seiner Tochter hatte er vergessen. Er tat das, was er immer tat.
Die Geburttagsgäste drängen zurück in das kurze Ende von dem L-förmigen Zimmer, um nicht sehen zu müssen, was in dem anderen Teil des Raumes vor sich geht. Sie stehen erstarrt, wagen kaum zu atmen. Nur Petra bewegt sich. Sie zieht eine der Stahlstangen, an denen ein Vereinswimpel baumelt, aus dem Holzsockel und geht in Richtung Sofa. Ganz langsam. Ganz ruhig.
Wenn sie bei diesem Punkt des Erinnerns angelangt ist, hört sie auf zu weinen, ihre blassblauen Augen werden milchig weiß. Dann streicht sie sich ungewöhnlich zärtlich durch das ruppig geschnittene Haar und verstummt.


Eingereicht am 17. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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