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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Anna M.
©Sabine Raml
Wie Anna M. zum ersten Mal den Schlüsseldienst hat rufen müssen. Wie sie gezittert hat bei dem Gedanken, die Linsensuppe könne auf dem heißen Herd überkochen und sich ihren Weg durch die hell ausgelegte Wohnung suchen. Nichts als Linsen, sogar unter der Haustür, und die Nachbarn unter ihr, die leider namenlosen, müssten beim Vermieter einen Linsenschaden melden. Wie ein dicker, rotgesichtiger Mann Anna M. gerettet hat, wie sie in ihre Küche gerannt und die wie durch ein Wunder nur leicht vor sich hin köchelnde
Suppe förmlich vom Herd gerissen hat. Und der dicke, rotgesichtige Mann hat ohne mit der Wimper zu zucken achtzig Euro kassiert und dann, als Anna M. erstaunt bemerkt hat, dass das einen Stundenlohn von etwa vierhundert Euro ergebe, pfeifend von dannen gezogen war. Ihre Schlüssel, welche bis dato unachtsam mal hier, mal dort gelegen hatten, trug Anna M. fortan immer in der Kittelschürze mit sich, da konnte so viel Suppe auf dem Herd stehen wie wollte. Und wie es das Schicksal von Anna M. wollte, dass sie bereits
drei Tage später wieder vor ihrer verschlossenen Tür stand und der Kittel fein säuberlich drinnen über dem Küchenstuhl hing. Wie alles Fluchen nichts half. Wie die Leute im Haus schon tuschelten, als erneut der rote Wagen des Schlüsseldienstes vorfuhr. Was bin ich nur für eine schusselige, alte Frau, dachte Anna M. bei sich und die Schamesröte kroch langsam ihren faltigen Hals hinauf, als ihr ein junger Mann seine kalte Hand hinstreckte.
"Ole", stellte er sich vor und grinste schief.
Seine Augenbrauen waren so hell wie sein Haar, die Farbe seiner Augen erinnerte Anna M. an das Meer oder den Himmel. Ein schöner Mann, dachte sie, und sie hielt sich den Bauch, der plötzlich schmerzte. Eine Minute dauerte es, bis Ole das Schloss geöffnet hatte, er kassierte nur vierzig statt der achtzig Euro und Anna M. strahlte und lud ihn spontan zu einem Teller Linsensuppe ein.
"Die koche ich fast jeden Tag", meinte sie beinah entschuldigend, "ich weiß, das ist altmodisch und dumm, aber in meinem Alter verträgt der Magen nicht mehr allzu viel. Verstehen Sie das, Ole?"
Und Ole verstand und nickte und löffelte gierig die heiße Suppe. Nach dem Essen nahm er einen tiefen Zug von der Zigarette, die Anna M. ihm angeboten hatte, teure Zigaretten aus der Schweiz, die ihr Mann Johann zu rauchen pflegte. Dazu einen Kräuterschnaps.
"Für die Verdauung." Anna M. verschluckte sich prompt, weil das immer ihr verstorbener Mann gesagt hatte.
Als Ole eine gute Stunde später wieder gegangen war, bemerkte Anna M. verwundert, dass sie seit langer Zeit wieder die Melodie ihres Lieblingsliedes vor sich hinsummte.
Ole kommt regelmäßig. Anna M. hat sich seinetwegen ein Handy zugelegt und die Nummer des Schlüsseldienstes gespeichert. Sie ruft ihn an und er kommt und sagt ihren Namen so, wie ihn sonst niemand ausspricht: "Wertes Fräulein Anna."
Und das werte Fräulein Anna lächelt, wie sie zuletzt als junges Mädchen gelächelt hat, und manchmal errötet sie sogar, wenn er sie mit seinen blauen Meerhimmelaugen zu lange ansieht. Ole redet nicht viel, er schweigt geduldig, während Anna M. vom Krieg erzählt, den sie nur aus Erzählungen kennt, und vom Leben als Ehefrau und Mutter, das sie beinah vergessen hat. Manchmal wiederholt sie sich, das merkt sie selber. Es ist ihr unangenehm, wohlmöglich langweilt sie ihren Gast. Ole schüttelt energisch den Kopf, wenn
sie ihn darauf anspricht, dabei sieht er aus wie jemand, den Anna M. vor langer Zeit gekannt hat. Diesen Gedanken will sie nicht weiterdenken müssen und so erzählt sie rasch weiter und schaut dabei aus dem Küchenfenster auf die vorbeiziehenden Menschenmassen. Ole stürzt sich auf die Zigaretten und den Kräuterschnaps, sobald er den letzten Löffel Linsen gegessen hat. Die vierzig Euro hat er schon lange auf achtzig erhöht. Wegen dem Alten, hat er bedauernd erklärt und hinzugefügt, dass der keinen Spaß versteht.
Der Tag rückt näher, an dem es soweit sein wird, denkt Anna M., wenn sie den schönen Ole betrachtet, doch sie weiß nicht genau, was sie damit meint.
Schritte hallen durch den Hausflur, es ist nicht sein Gang.
"Wo ist Ole?", fragt Anna M. einen, der aussieht, als wohne er auf der Straße. Sein langes, ungewaschenes Haar hängt ihm so ins Gesicht, dass sie nur ein halbes Auge von ihm erkennt, ein halbes Rehauge, viel zu schön für das wilde Drumherum.
"Ole kann heute nicht", murmelt der Wilde mit tiefer Stimme, "na, ausgesperrt?"
Anna M. spürt ihr Herz klopfen. "Nein, nein, sehen Sie, hier, mein Schlüssel." Umständlich kramt sie ihn aus ihrer Kittelschürze und hält ihn triumphierend in die Höhe.
Der Wilde mustert mit seinem halben Rehauge streng erst den Schlüssel, dann Anna M. "Wieso rufen Sie den Schlüsseldienst, wenn Sie sich nicht ausgesperrt haben?"
Darauf weiß Anna M. keine Antwort.
Der Wilde schüttelt bedauernd den Kopf. "Das Geld müssen Sie natürlich trotzdem zahlen."
"Natürlich."
Ihre Finger zittern, als sie den Schlüssel im Schloss umdreht. Sie nimmt das bereitgelegte Geld und reicht es dem Wilden.
"Wollen Sie vielleicht einen Teller Suppe mit mir essen? Ich habe frische Linsen auf dem Herd."
Der Wilde verneint angewidert und schaut unschlüssig auf seine Uhr.
"Okay, ich bin dann wieder weg", sagt er und dann hört sie seine schlurfenden Schritte die Treppe runterlaufen. Nichts als Stille. Kein einziges Geräusch im ganzen Haus.
Anna M. schläft unruhig in der Nacht. Sie träumt. Im Traum sieht sie Ole bei sich am Küchentisch sitzen, von Zeit zu Zeit lächelt er ihr zu, während er heiße Suppe löffelt. Löffel für Löffel folgt sie mit den Augen in seinen Mund. Erst, als es schon zu spät ist, als sie ihn nicht mehr rechtzeitig warnen kann, erkennt sie, dass er Schlüssel schluckt. Nichts als Schlüssel in dieser Suppe. Anna M. wird von ihrem eigenen Schrei wach. Bis auf das Rauschen der Wasserrohre alles ruhig.
Im Morgenlicht tanzen kleine Staubkörnchen. Ole steht da, wo er immer gestanden hat, hinter ihm zwei Kripobeamte.
"Danke fürs Öffnen", sagt der ältere von ihnen in Oles Nacken, doch der bleibt regungslos stehen, als hätte er es nicht gehört. Er spürt, wie sich etwas auf sein Herz legt. Minutenlang stehen sie stumm vor Anna M, die so mit dem Kopf auf einem Teller liegt, dass man nur ihren weißen Hinterkopf sehen kann. Ole ist froh, dass ihm ihr Gesicht erspart bleibt. Dass er nicht in ihre leeren Augen schauen muss. Vor Anna M. eine Schüssel, auf der eine feine Schimmelschicht liegt. gegenüber ein unbenutzter, blütenweißer
Teller. Daneben, fein säuberlich, drei Geldscheine, eine Schachtel Zigaretten, ein Schnapsglas. Und neben der faltigen Hand von Anna M. ein Schlüssel, den Ole nur zu gut kennt. Zu spät bemerkt er, dass er sich ergeben muss, alles landet auf dem hellen Boden und vermischt sich mit dem Gestank verdorbener Linsen. Unschlüssig blickt Ole auf sein Erbrochenes, dann auf Anna M. Die Hand, die sich ihm von hinten auf die Schulter legt, ist kalt, sein Körper zuckt ein wenig unter der unerwarteten Berührung zusammen.
Leise schließt er die Haustür hinter sich, so als wolle er Anna M. nicht wecken. Wie ein Dieb schleicht er die Treppen hinunter, tritt auf die noch menschenleere Straße. Schon bald wird die Stadt erwachen und mit ihr seine Bewohner, denkt er, und läuft so schnell er kann.
Eingereicht am 17. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
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