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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
Der Lottoschein
©Franz Nikolaus Bäcker
Max' Leben und er selbst wurde von dem jämmerlichen Adjektiv "klein" beherrscht. Im Turnunterricht der Grundschule stand er in der Stirnreihe an letzter Stelle, beim Bundesheer marschierte er beim Exerzieren über den Kasernenhof in der hintersten Reihe und vor dem Traualtar ließ er sich extra Lederschuhe mit Plateausohlen anfertigen, um seiner Frau keinen Zentimeter nachzustehen. Wie er es hasste, wenn sie ihn im nächtlichen Ringkampf um Erregung und Entspannung "du kleiner Racker" nannte.
Und er mühte sich wirklich ab, seinen Mann zu stellen. Max wohnte in einer Kleinstadt in der Nähe von Wien, fuhr einen japanischen Kleinwagen und arbeitete in bei einer kleinen Spedition als Buchhalter in der Lohnverrechnung, wo er selbstverständlich mit kleinen Zahlen bilanzierte. Was würde er geben, einmal mit sieben- oder achtstelligen Zahlen jonglieren zu dürfen. Aber dazu müsste er nach Wien in die Großstadt zu den großen Betrieben und dieser Sprung war doch etwas zu weit für seine kurzen Beine und sein
kleinmütiges Herz. In forschen Tagträumen stellte er sich vor, in einer dieser riesigen Banken in der Kärntner Straße oder Am Hof zu arbeiten, wo Zahlen Dimensionen annahmen, die einen die nichtige Kleinigkeit seines eigenen Gehaltes in all seiner Lächerlichkeit vor Augen führten. In der Mittagspause würde er in einem dunklen feinen Anzug am Graben flanieren, sich eine Riesenportion Eis beim Italiener bestellen und den hübschen Frauen in ihren bunten Sommerkleidern nachpfeifen. Er würde glücklicher Bestandteil
dieser großen Welt und zufrieden sein.
Sonja behauptete immer, dunkle Sachen würden ihm nicht stehen. Sie ließen ihn noch unscheinbarer wirken. Darum suchte sie ihm bei den Schlussverkäufen stets Sakkos in Braun- oder Weinrottönen - keinesfalls Schwarzes oder Graues. Eigentlich konnte er Pepita-Muster nicht ausstehen, aber Sonja zuliebe trug er seine Kleinkariertheit auch äußerlich mit sich herum.
Max saß also in seinem kleinen stickigen Büro, das er sich mit einer Sekretärin halbtags teilte und verblätterte ihren Terminkalender, veränderte notierte Telefonnummern, indem er eine Zahl einfügte und verstellte im Hauptmenü ihres Computerbildschirms die Helligkeit und die Bildposition. Dieser psychologische Kleinkrieg war sein Höhepunkt für diesen Tag. Am Montag würde sie ihn um Hilfe bitten müssen, weil sie sich in technischen Dingen so gar nicht auskannte. Sie würde ihn eines Blickes würdigen und noch dazu
ein, wenn auch nur zwanghaftes Lächeln schenken müssen. Und Max würde sich salopp über ihre Schulter zum Bildschirm beugen, in ihrem Ausschnitt spähen, mit geblähten Nüstern ihren Duft nach Vanille und Zigarettenrauch inhalieren, sich mit seinen dünnen Lippen an ihrem weichen Nacken festsaugen, ihre drallen Busen mit beiden Händen fest anpacken und ... Nein, das würde er nicht tun, und er wusste es. Max würde nicht einmal einen Blick in ihren Ausschnitt werfen können, weil Nora, die Sekretärin immer einen ausreichenden
Sicherheitsabstand zu ihm hielt, als hätte er eine ansteckende Krankheit. Sie würde sich eine Zigarette anzünden, beim Fenster hinaussehen und sich nicht weiter dafür interessieren, wie gekonnt er die Menüführung zur Behebung des Problems bedienen würde. Wenn sie einen guten Tag hatte, würde sie ihm vielleicht einen Platz auf ihrem Drehsessel anbieten. Immerhin würde er dann einen Moment lang die Wärme ihres knackigen Hinterns spüren können.
Die Tür ging auf und der Chef ertappte Max wie er, mit dem Radiergummiende seines Bleistifts in der Nase, dasaß und seinen Gedanken nachhing. "Bringen Sie mir die Juni-Abrechnung von Herbert, unserem Chauffeur. Er behauptet, seine Überstundenabrechnung stimme nicht. Und verletzen Sie sich nicht bei Ihrer Schreibtischakrobatik. Der nächste HNO-Arzt sitzt in Wien."
Erschrocken fuhr Max hoch, schnappte sich den grauen Beneordner aus dem Aktenschrank und suchte die verlangte Gehaltsabrechnung. Der Chef war ein zynisches Arschloch und launenhaft noch dazu. Mit Häme stellte er seine Verachtung für seine Mitarbeiter und deren Gefühle zur Schau. An manchen Tagen kam er ins Büro, klopfte ihm auf die Schulter und spendierte generös eine Münze für den Kaffeeautomaten. Das waren diese Tage, wo Max dann zwinkernd in Richtung Nora über die zusammengestellten Schreibtische seinen Kopf
hob und ihr kichernd zuraunte, dass die Frau Chefin den Chef letzte Nacht "drüber gelassen hat", weil er so gut bei Laune ist. Nora verdrehte dann angewidert die Augen und schnitt eine Grimasse, die Max an den Gesichtsausdruck seiner Gummipuppe aus Single-Tagen erinnerte.
Die meisten Tage aber kam der Chef mit einem Murren zum Gruß ins Büro, machte blöde Witze über die Zusammenstellung von Hemd und Krawatte, für die Sonja verantwortlich zeichnete, und herrschte Max an, noch mal die Abgaben an die Sozialversicherung durchzugehen. Seine Standardzitate waren: Ein Buchhalter muss funktionieren wie ein Schweizer Uhrwerk, oder, wenn man in der Wirtschaft überleben will, muss man streng und richtig kalkulieren.
Max ging mit der geforderten Abrechnung zu dem feudalen Büro eines Juniorchefs, dessen Vater ihm zwar keine Manieren beibringen konnte, dafür aber ein einbringliches Transportunternehmen und damit eine lebenslängliche monetäre Sorgenfreiheit hinterließ, trat ein, ohne anzuklopfen und knallte dem Verdatterten die Abrechnung auf den Tisch.
"Jetzt werden Sie mir einmal zuhören, Sie verkappter Leuteschinder! Ich habe es satt, mich wegen jeder Kleinigkeit von Ihnen anrotzen zu lassen. Sie können sich die Abrechnung klein zusammenrollen und in ihren Unternehmerarsch stecken. Ab sofort werden Sie mich an jeder illegalen Transaktion prozentuell beteiligen, ansonsten werde ich mich mit der Steuerbehörde unterhalten müssen. Und noch etwas, wenn Sie Ihre schmierigen Pranken nicht von den süßen Pobacken unserer Nora fernhalten, muss ich wohl eine kleine
Unterredung mit Ihrer Frau Gemahlin führen. Unter uns gesagt, Sie sind wirklich nicht zu beneiden. Selten habe ich so eine abstoßend hässliche Frauenperson gesehen. Und eins noch, überdenken Sie ihr Outfit. Sie laufen ja herum wie ein Berufsjugendlicher."
Das hat Max natürlich nicht gesagt, aber er hätte es gerne. Er wollte gerade an die angelehnte Tür klopfen, als ihn der Chef schon ungeduldig zum Eintreten aufforderte. Max schnappte nach Luft wie ein Fisch am Haken, um seine Rechtfertigung zu formulieren, wurde aber sogleich brüsk abgewürgt. "Legen Sie die Abrechnung her. Ich werde sie mir später vornehmen." Wen meinte der Chef damit - das Papier oder den Verfasser? Der Chef konnte es sich leisten, Zweideutiges im Raum stehen zu lassen. Im Hintergrund
erklang die Mundharmonika aus Morricones "Lied vom Tod". Und er, Max, stand mit wackeligen Füßen auf den Schultern seines kleinmütigen Lebens mit der Schlinge um den Hals.
"Das ist dann alles, oder wollen Sie Wurzeln schlagen!" Die Stentorstimme des Chefs brachte ihn wieder mit beiden Beinen auf die Erde, die sich gleich wieselflink in Bewegung setzten, um aus der schwelenden Gefahrenzone zu gelangen. Max musste wieder einmal klein beigeben und schlucken. Ein roter Faden, der sich von den Anfängen seiner Kindheit bis hier her schlängelte. Mit Schaudern dachte er an die Grausamkeit gleichaltriger Kinder, die er damals als Freunde wähnte. An einem Weiher, der von einem
Seitenarm der Donau gespeist wurde und als Badeparadies früherer Jahre galt, bevor die Autobahn alles gleich machte, vergnügte sich die Jugend, um die heißen Sommertage etwas erträglicher zu halten. Und eines Tages durfte er mit ihnen mitgehen. Aber nur um den halben Weiher leer zu saufen, weil sie ihn garstig schreiend umringten und abwechselnd mit dem Kopf unter Wasser zu drücken. Dabei zählten sie ihn an, wie einen Preisboxer, der angeschlagen zwischen den Seilen hing. Seitdem mied Max das tiefe Nass wie der
Teufel das Weihwasser und durfte sich zu der belächelten Minderheit der Nichtschwimmer zählen. Sonja trieb ihn zum Wahnsinn, wenn sie bei ihren wenigen Besuchen ins städtische Hallenbad unaufhörlich lautstarke, peinliche Wie-lerne-ich-schwimmen-Anleitungen gab. Es reichte schon, an Land im Strom der kleinen Fische mitschwimmen zu müssen, um nicht von den großen Haien gefressen zu werden. Der gleichnamige Animationsfilm begeisterte Max ebenso wie sein Vorgänger "Nemo", was seine Frau zu pikiertem Kopfschütteln
verleitete. Während er im Saal 2 zwischen quengelnden Kleinkindern und ihren genervten Müttern saß und lustlos am mitgebrachten Studentenfutter knabberte, vergnügte sich Sonja im Hauptsaal mit einer Megapackung Popcorns bei einer dieser hochtrabenden Literaturverfilmungen. Sie war ja auch nach ihrer eigenen Aussage in der Kunst- und Medienbranche tätig und ständig am Puls der Zeit, was moderne Literatur anging. Eigentlich arbeitete Sonja in einer Buchhandlung in Simmering als Verkäuferin und ihr favorisiertes
Genre waren Ratgeber für Lebenshilfe und hier vor allem Frauenbücher. In ihren Regalen standen Bücher wie "Die Wolfsfrau", "Die wilde Frau", "Wie viele Männer braucht die Frau", "Gute Mädchen tun's im Bett - böse überall" etc. etc. Max nannte sie die Anthologie des Grauens. Apropos Grauen: Früher erinnerte ihn Sonja an eine Amazone, heute verglich er sie mehr mit einer von den Gorgonen (derer Schwesternschaft die bekannteste Medusa war), oder gleich mit allen dreien.
Wie schon gesagt, an Max war alles klein, bis auf seinen Vornamen. Seine Eltern tauften ihn zwar mit frommen Wünschen, aber das Schicksal verkehrte sich ins Gegenteil. Darum nannte ihn Sonja nur Mäxchen und sein bestes Stück nannte sie kleines Mäxchen. Eine Verniedlichung die einen von der Natur schon so gestraften Menschen den endgültigen Keulenschlag verpasste. Da halfen auch nicht stapelweise Bücher über Seelen-Sex, Tantra-Sex, Kamasutra-Sex, oder Stinknormalen-Sex, die Sonja euphorisch anschleppte und deren
Tipps und Ratschläge auch gleich eifrig ausprobiert wurden. Die grobe Einrenkung des Chiropraktikers nach einer heftigen Kamasutra-Einlage war Max noch in schmerzhafter Erinnerung.
Max ging die letzten Minuten seiner Dienstzeit im Büro auf und ab wie ein verhaltensgestörter Tanzbär es in seinem Käfig tut und überlegte seine Wochenendplanung. Am Nachhauseweg sollte er von der Trafik einen Lottoschein und ein Päckchen Gauloises für "seine Sonne" mitnehmen. Am Abend stand die Verfilmung eines Romans von John Irving auf dem TV-Programm, bei dem Max nach dem ersten Drittel wegsacken wird und er sich vorgenommen hatte, demonstrativ lautstark zu schnarchen. Am Samstag wollte er Kleinkunst
im Kulturhaus der Stadt genießen. Es war ein Liedermacher angesagt, dessen derbe Texte gegen Frauen, Liebe und Emanzipation unterdrückte Männerherzen höher schlagen ließen. Max hörte schon Sonjas Schelte: Primitiv und kleingeistig, was anderes war auch nicht zu erwarten. Das war es ihm Wert. Noch dazu, wo sie ihn zu dem Liederabend begleiten musste, da sich am Sonntag ihre Eltern zum Kaffeekränzchen angemeldet hatten und er bei den hitzigen Vorverhandlungen nur unter dieser Prämisse zustimmte. Ansonsten hätte
er seine Kleinbildkamera gezückt und wäre durch die Donau-Au auf Foto-Safari gegangen.
Max stand also in der Trafik und zeigte wie immer auf die gewünschten Zigaretten an der Wand hinter der dicken Trafikantin, da er sich bei der Aussprache der französischen Marke keine Blöße geben wollte und verlangte einen ganzen Quicktipp mit Joker. Beides war für ihn hinausgeworfenes Geld. Kleingläubig wie er war, hielt ihn die Erfolgschance beim Lotto von 1:8.000.000 ab, an Fortunas Füllhorn mitnaschen zu wollen. Dabei war das vom Lottofieber gespeiste Füllhorn in erster Linie für den Finanzminister bestimmt.
Max gewann jede Woche, weil er nämlich nicht mitspielte. Er schüttete sein ganzes Kleingeld auf die Theke und sortierte quälend lange herum, bis die Geschäftsinhaberin mit ihren fleischigen Fingern unterstützend eingriff. Ungeduldige Kunden maulten bereits im Hinterhalt und in Mäxchens Bauchgegend breitete sich eine wohlige Wärme aus, was auf ein Leuchtfeuer des Gefühls der Macht schließen lässt. Er bekam 40 Cent, einen Sakkoknopf und ein Glücksschweinchen zurück, grüßte mit einem breiten Käsekuchen-Grinser und
empfahl sich. Unter dem Abfallkorb neben dem Eingang lag ein rosa Stück Papier und da Max, wenn auch kleinformatig so doch ein ordentlicher Mensch war, bückte er sich, um den Abfall dahin zu geben, wo er hingehörte. Es war ein Lottoschein, und als er schon seine Hand über dem Korb hielt, fiel ihm das Datum der Ziehung ins Auge. Das Datum der kommenden Sonntagsziehung war darauf ausgewiesen. Sein Kleinhirn befahl der Hand nicht loszulassen, sondern den Arm einzuklappen und den Schein genau zu beäugen. Es war ein
einziger mickriger Tipp darauf. Noch dazu ohne Joker-Teilnahme. Max suchte die Straße nach einem potentiellen Verlierer ab, aber er war der Einzige. Abwägend überlegte er, ob er ihn in die Trafik zurückbringen sollte. Dabei trippelte er am Stand und starrte den Schein an, als würde ein Schimpanse die Bedienungsanleitung eines Videorekorders studieren. Leute kamen aus der Trafik und wunderten sich über den beim Mistkübel Herumlungernden mit dem entrückten Gesichtsausdruck. Kleindenkende haben es so an sich, bei
Problemstellungen den Weg des geringsten Widerstandes oder des kleinstmöglichen Aufwandes zu gehen, also steckte Max die Spielquittung ein und trottete heimwärts.
Das Wochenende verlief so wie er es sich vorgestellt hatte. Zwischen den Fixpunkten verbrachte er die meiste Zeit damit die Züge seiner Märklin-Kleinbahn mit geschwellter Brust auf ihrem kreisrunden Weg durch Tunnels, über Brücken und durch Bahnhöfe zu beobachten. Sein Lebenswerk bestand aus grünen Hügeln aus Pappmaché, automatischen Schrankenanlagen und liebevoll bemalten Plastikmenschen vor ihren Plastikhäusern, als stille Bewunderer der vorbeischlängelnden Eisenbahn. Sein ganzer Stolz war aber eine alte Wasserdampf
speiende Dampflokomotive. Früher brachte ihm Sonja sogar das Essen in den Keller, wenn er sich in diesen faszinierenden Stunden des Spiels vergaß. Jetzt kam sie nicht einmal mehr zum Staubsaugen in den Hobbyraum. Schlimmer noch, sie zeigte keinerlei Interesse mehr für seine neuen Errungenschaften und Landschaftsschöpfungen.
Und wie im Fluge solche Wochenenden für Arbeitstätige eben vergehen, saßen beide am Sonntag kurz vor halb acht abends vor der Glotze und verfolgten die Lottoziehung. Beide aufgrund unbotmäßiger Hoffnungen. Sie, wegen ihrem Traum von Reichtum und er wegen der feschen Moderatorin mit diesen sinnlichen malvenfarbenen Lippen und dem Glückseligkeit versprechenden strahlenden Lächeln. Max trank seinen täglichen Fencheltee zur Entblähung und Darmentgiftung als die letzte Zahl gezogen wurde. Er hielt an seiner Verschwörungstheorie
fest, dass diese Ziehungen von der Lottogesellschaft manipuliert werden konnten, weil in letzter Zeit so viele Jackpots entstanden, um noch mehr Spieler anzulocken. 1, 6, 12, 28, 37 und 41. Sonja gab ihr gewohnt enttäuschtes Grunzen von sich, strich wütend ihren Spielschein durch und verschrieb sich in einem neuen Anlauf mit vollster Konzentration ihrer letzten Hoffnung, der Joker-Ausspielung. Der Fencheltee rumorte in Max' Gedärmen. Als er brütend am Klosett saß und sich mit einem Kreuzworträtsel die Zeit vertrieb,
kam es zwischen regelmäßigen Pressungen und eilig aufgeschriebenen horizontalen und vertikalen Schnörkeleien zu einer Epiphanie. Einstelliges Zahlenwort mit fünf Buchstaben: sechs. 1, 6, 12, 28, 37, 41 - diese Zahlen kamen ihm nur allzu bekannt vor. 1, 6, 12, 28, 37, 41 - wie ein Mantra sprach er diese Zahlenwörter wieder und wieder aus. Wo war nur der verdammte Schein? Von einer ungesunden Hast getrieben, brach er sein Geschäft abrupt ab und torkelte wie ein Betrunkener mit halb herunter gelassenen Beinkleidern
in den begehbaren Wandschrank. Mit zitternder Hand langte er in die hintere Tasche der Hose, die er am Freitag getragen hatte, und zog das gefaltete Papier vorsichtig heraus als wäre es kontaminiert. Kleinweis mit feuchter Stirn und pochendem Herzen als hätte er es mit einem Daumenexpander zu tun drückte er die beiden Papierhälften auseinander. 1. Tipp: 1, 6, 12, 28, 37, 41. Mit einem fledermausartigen Quietscher fiel er rücklings in den Korbsessel und fixierte die Zahlen. Einen Augenblick fürchtete er, seine
Pumpe würde vor Aufregung aussetzen. Das wäre ein Ende, das seinem Duktus entsprochen hätte: Im Leben nicht ernst genommen und im Tod verlacht. Die Summe der Zahlen ergab 130. 1 war eine binäre Zahl. 37 und 41 waren Primzahlen. 6 und 28 waren perfekte Zahlen. Eine perfekte Zahl ist die Summe der Zahlen, durch die sie sich teilen lässt. 6 lässt sich durch 1, 2 und 3 teilen und ist sogleich die Summe davon. Bei 28 waren es die Zahlen 1, 2, 4, 7 und 14. Unmengen von Glückshormonen und Adrenalin, die durch den zuckenden
und vibrierenden Körper von Max schossen, verursachten offensichtlich eine Dysfunktion im Stirnlappen des Endhirns.
Mit der Zahl 12 konnte er gar nichts anfangen. Sie passte auch nicht in ein arithmetisches Muster. Außer dass er mit zwölf erstmals die Erfahrung machte, dass aus seinem kleinen Mäxchen nicht nur Urin floss.
Er drückte den Schein wie ein kostbares Kleinod an seine Brust und hyperventilierte als wäre er im Zielauslauf des Wien-Marathons. Er hatte einen Sechser. Unvorstellbar und verrückt, aber er war jetzt reich. Reich sein bedeutete unabhängig, frei und mächtig zu sein. Elitäre Menschen waren reich. Großartige und berühmte Menschen waren reich. Und er war jetzt einer von ihnen. Kaum begann sich sein Tagtraum in den schönsten Farben auszumalen, zogen irgendwo hinten am Horizont riesige Leuchtbuchstaben auf, die das
harmonische Bild verunstalteten: S-O-N-J-A - Sonja. Er würde ihr einfach nichts sagen. Soll sie doch in dieser feuchten Bude mit ihren Büchern, mit ihrem geschmacklosen Schweinsbraten und ihren schäbigen Topfpflanzen versauern. Max stellte sich genüsslich vor, wie er am nächsten Morgen seinem Chef maliziös die Kündigung auf den Tisch knallen würde. Seiner Kollegin Nora würde er die Quittung einer Internetbuchung für einen Flug für zwei nach Griechenland, nein nach Spanien, ach was, auf eine Insel in der Karibik
seinetwegen, per e-mail senden und ihre erstaunte Reaktion mit einem lässigen und weltmännischen Gesichtsausdruck à la James Bond erwarten. Max versuchte schon mal zu üben, zog die Mundwinkel ein wenig zu einem Lächeln hoch und probierte die linke Augenbraue zu heben. Unwillkürlich ging die zweite Braue ebenso in die Höhe und damit hatte er eher Ähnlichkeit mit einem Stan Laurel denn eines Pierce Brosnans.
Die kläffende Stimme seiner Frau, die im Türrahmen stand, holte Max wieder in die nördliche Hemisphäre zurück: "Was machst du da eigentlich. Onanierst du jetzt schon am helllichten Tage, wie?"
Von einer Woge der Peinlichkeit und Scham überrascht, wurde er sich gewahr, immer noch in seinen Boxershorts mit heruntergelassener Hose dazusitzen. Hastig sanierte er seinen textilen Fauxpas begleitet von kleinlauten unverständlichen Wortsilben. Max war irritiert und verunsichert zugleich. Warum wusste sie nur ...? Hatte sie vielleicht die Magazine in seinem Hobbyraum gefunden? Um seine Frau zu beruhigen und ihre Gedanken auf andere Bahnen zu lenken offenbarte er sich: "Schatz! Schau dir diesen Lottoschein
an. Die Zahlen stimmen überein. Es ist ein Sechser!" Er wedelte stolz mit dem rosa Papier wie ein junger Hund mit seinem Schwanz vor ihrer Nase, bis sie es ihm aus der Hand riss. Ihre Augen wurden groß wie Teller und rote Farbe schoss ihr kübelweiß ins Gesicht. Ein Schwall hoher Töne aus einem rasanten Wechsel zwischen Brust- und Kopfstimme, wie es Alpen- oder Berberfrauen tun, zirkulierte ohrenbetäubend durch den Wandschrank. Ungestüm fiel sie ihm um den Hals und tanzte ausgelassen etwas zwischen Boogie
und Polonaise. Eher wohl den Veitstanz. In diesem Moment wusste er um den irreversiblen Fehler, den er mit seiner Verkündung begangen hatte. Schluss mit Kündigung. Aus und vorbei mit karibischen Inseln. Over and out mit Nora. This is the end my only friend.
Es sprudelte nur so aus ihr heraus. Ihre Ziele und Pläne, ihre Anschaffungen, ihre künftige Stellung in der Gesellschaft. Eine Welle des Grauens schwappte über den wie eine löcherige Luftmatratze eingehenden Max. Was wird wohl Sonjas beste Freundin morgen für ein Gesicht machen, wenn sie es ihr brühwarm erzählen wird. Und er solle es nur ja seinem Chef sagen, damit wenigstens auf diese Art der Respekt für ihn sichergestellt werden konnte. Es war ein mächtiger Tsunami der donnernd heranbrauste und alles zu zerstören
drohte. Er musste dem ganzen Einhalt gebieten. Der Weltkugel einen Arschtritt verpassen, um die Welle wieder aufs offene Meer zurück zu treiben. Oder zumindest Atlas in den Hintern zwicken damit er ins Straucheln gerät.
"Ein Problem haben wir", verriet er unheilschwanger. "Der Schein gehört nicht mir."
"Was heißt, der Schein gehört nicht dir?", kreischte sie als hätte er damit den Kragen ihres neuen Nerzmantels abmontiert und ihr die Louis-Vitton-Tasche gemopst.
"Ich habe ihn gefunden!"
"Na und, wer weiß schon, wer der rechtmäßige Besitzer ist." Perle für Perle rollte von ihrer Kette.
"Der rechtmäßige Besitzer. Höchstwahrscheinlich wird er schon bei der Lotto-Gesellschaft angerufen haben."
"Blödsinn. Was soll er denen schon sagen." Weinerlich weichte sich jetzt auch noch das feine Leder ihrer italienischen Designerschuhe auf.
"Er wird ihnen seinen Tipp durchgeben. Es war ja nur ein Tipp auf dem Schein und solche Tipps sind zumeist gezielt gewählt. Und er wird ihnen sagen, dass jemand den Schein unrechtmäßig an sich genommen hat."
Stille. Schniefen. Rasselnder Atem. Countdown. Zero. Ignition.
"Du jämmerlicher Schlappschwanz. Dein ganzes Leben hast du dich kampflos ergeben und jetzt wo wir endlich, ich meine du, eine einmalige Chance hast, willst du schon wieder kneifen. Mir ist so was von kotzübel. Deine ewigen Kleinlichkeiten, dein kleinmaßstäbliches Verhalten. Du bist und bleibst ein Versager."
Max stand zögerlich auf und blickte den Schein lange und genau an, als würde er das Kleingedruckte lesen.
Sonja spürte einen Aufwind und versuchte noch das Steuer des ramponierten Flugzeugs bei dem ein Motor im Wegbrechen war, hoch zu reißen.
"Wenn du jetzt zum Telefonhörer greifst, dann werde ich nie wieder ein Wort mit dir reden!"
Für Max war dies das Signal zum Anlegen seines Fallschirmes. Er ging in den Vorraum, wählte die Vermittlung und ließ sich die Nummer der Lotto-Gesellschaft geben. Zum ersten Mal erwies sich Max seines Namens würdig und zeigte Größe. Auch wenn manche sagen werden, dass es die größte Dummheit seines Lebens war. Aufregung
Eingereicht am 17. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.