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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Auf den Hund gekommen

©Franz Nikolaus Bäcker

Der beschlagene Spiegel im Badezimmer zeigte ihm verschwommen, aber doch schonungslos, sein vor Ärger entstelltes Gesicht. Dieses Ding ist für nichts gut, dachte Marcel und schnaubte verächtlich: Unbequem zuschnürend, chauvinistisch geckenhaft, sinnlos modisch - kurz die Erfindung von einem, dessen Schwanz nicht genug zur Geltung kam. Ob aufgrund seiner Länge oder seines übersteigerten Geltungsbedürfnisses sei dahingestellt. Die Widerspenstigkeit der Krawatte brachte ihn schier zur Verzweiflung, da hauchte ihm von hinten eine erotische Stimme mit schulmeisterndem Unterton ins Ohr, dass für das Gelingen seines Unterfanges geschickte, erfahrungsreiche Hände von Nöten seien, die solche herunterhängenden Sachen zur Raison bringen könnten. Der Druck ihrer drallen Brüste brachte sein Blut in Wallung. Wohlige Lethargie überkam ihn. Langsam spürte er, wie sich ihre Knospen verhärteten und in seinen Rücken bohrten. Aufdringlich und fordernd. Karin bemerkte natürlich die Wirkung und genoss die Macht ihres Handelns.
Hastig eilte Marcel die Stiegen hinunter. Sein Taxi war weg und jetzt musste er sich ein neues suchen. Er würde wieder zu spät ins Büro kommen und es war das zweite Mal in den letzten zehn Tagen. Es musste am Frühling liegen. Sieben Jahre war er schon mit Karin zusammen und war immer noch verliebt bis über beide Ohren. Naturgemäß nahmen beide Sex als eine schon gewohnte, aber doch reizvolle und sehr befriedigende Sache hin. Im Taxi dachte Marcel an die vielen Höhe und Tiefen die sie in ihrer Beziehung schon durchgemacht hatten. Jede überstandene Krise schweißte sie noch mehr zusammen und jeder Höhepunkt wurde zum Gipfelsieg. Die Schmetterlinge im Bauch waren zwar schon ausgeflogen, dafür zählten nunmehr andere Werte wie Vertrauen, Abgeklärtheit und Reife. Was sind schon kribbelnde Flügelschläge im Bauch gegen köstlich zubereitete Rindsrouladen mit anschließendem Dessert. Liebe geht bekanntlich durch den Magen! Ja, sie schwammen auf einer Welle und es lief gut. Sie beredeten alles, fuhren noch gemeinsam ohne irgendwelchen befreundeten Pärchen auf Urlaub, hatten dieselben Interessen und konnten sich noch gut riechen. Bei diesem Gedanken schnupperte er schelmisch an seinem Mittelfinger.
Der Vormittag im Büro war die Hölle. Anstandspauke vom Chef, misslungener Verkaufsdeal und Computerabsturz. Genug um der schnöden Arbeitswelt den Rücken zuzukehren. Marcel verbrachte die Mittagspause im Stadtzentrum am Graben. Setzte sich unter eine riesige, Schatten spendende Topfpalme auf eine Bank und inhalierte mit aufgeblähten Lungen und Nüstern dieses anmutige Flair. Es war als wäre die ganze Luft voller Endorphine. Sie schwirrten umher wie Liebesmücken, pieksten diese und jene, stachen unter der Haut wie Hafer und brannten unter den Fingernägeln. Vor Marcels geistigem Auge gingen die Frauen mit frechem Augenaufschlag an einem vorüber, hoben zur Begrüßung keck ihre Röcke und streckten den allersüßesten Hintern entgegen. Die Herren der Schöpfung rannten alle mit offenem Hosenstall durch die Gegend. Eine Welt der Freizügigkeit offenbarte sich ihm. Was würde man nicht alles tun, wenn ...? Hormongesteuerte Zeit, mein Hypothalamus spielt verrückt, dachte sich Marcel und holte sich kopfschüttelnd in die Realität zurück. Er war glücklich und das bisschen Gucken wird doch noch erlaubt sein. Auch in einer glücklichen Beziehung. Gedanken sind schließlich geheim und tun niemand weh. Es geht nichts über gepflegte, rasierte Beine. Dabei fiel ihm ein, dass Karin von sich aus ihren Intimbereich rasiert hatte. Ansonsten musste er immer drängen und betteln oder es selbst in die Hand nehmen. Muss wohl am Frühling liegen. Er hörte das Blut in sich rauschen wie eine tosende Brandung. Sie ist schon eine geile Katze, meine Karin. Da können sich alle verstecken. Obwohl die Buch schmökernde Brünette gegenüber auf der Sitzbank auch nicht ohne ist. Marcel versuchte die Farbe ihrer Unterhose zu erspähen, als sie die Beine übereinander schlug. Verdammt hart ein Penis zu sein. Verstohlen kicherte er, kicherte wie ein kleiner Hobbit über seinen eigenen Scherz.
Der Nachmittag war eine öde Fortsetzung des Vormittages und Marcel gelangte wieder einmal zu der Erkenntnis, dass der Mensch nicht zum Arbeiten geboren ist. Was gebe es nicht für schöne Beschäftigungen, sein Leben auszufüllen. An vielfältigen Interessen und Hobbys fehlte es ihm nicht, nur an der Finanzierung solcher. Er schnappte sich das Telefon und rief innerhalb von fünfzehn Minuten zwei Pärchen zusammen, um für eine gemeinsame gesellige Abendgestaltung zu werben. Da keiner anderweitig seine Termine verplant hatte, waren sie sofort hellauf begeistert. Ines und Peter, Franziska und Gernot sollten ihn mit dem Taxi von der Firma abholen. Sie wollten Karin mit Sekt, Rotwein und Knabbergebäck überraschen. Marcel dachte an Gruppensex. Aber nur insgeheim. Nie im Leben würde er sich getrauen, diese Fantasie in die Tat umzusetzen. Bei den vorstehenden (er sagte immer "neugierigen") Zähnen von Ines würden leidenschaftliche Küsse schnell beim Zahnarzt landen und Franziska hatte zu große Füße. Er stellte sich schmunzelnd vor, wie er morgens aufwachen würde und sein erster schlaftrunkener Blick würde ihren hinter der Decke hervorragenden überdimensionalen Füßen gelten. Obwohl er Füße und Zehen liebte. Sie zu liebkosen, in den Zwischenräumen zu lecken, nur zu schauen - aber zierlich müssten sie sein. Wenn er so verglich, was launige Männergespräche unter Alkoholeinfluss mit Peter und Gernot zu Tage brachten, dann schätzte er seine Beziehung zu Karin umso mehr. Peters Vorspiel bestand aus einem Pornofilm, weil normales Vorspiel ihn nicht mehr richtig anheizen konnte und Gernot sprach lässig aus: "Ohne Gebläse geht gar nichts mehr!" Marcel glaubte an die natürliche, erfrischende und immer wieder erregende Libido mit seiner Partnerin. Sie waren auf dem richtigen Weg. Alles war gut dosiert und eingeteilt: Eifersucht - nicht zu einschränkend, jedoch schmeichelnd; Geschlechtsverkehr - keine Zirkusakte (dreimal am Tag aufgerechnet auf statistische sieben Jahre einer durchschnittlichen Beziehung ergibt 7666 mal Beischlaf mit derselben Frau!); aber doch regelmäßig dreimal die Woche (Rhythmus braucht der Mensch!); Zärtlich- und Aufmerksamkeiten - ein ständiger, ausgewogener Wechsel von Geben und Nehmen. Marcel hatte jegliche Theorie intus. Wofür sonst studierte er jeden Kinsey- und Hite-Report, oder ähnliche Fachliteratur.
Er sah auf die Uhr: 17.15 Uhr. Karin war jetzt sicher mit Baghira, ihrem schwarzen Labrador, Gassi. Sie waren meistens eine Stunde unterwegs. Das Taxi stand schon unten und Marcel beeilte sich, den Computer herunterzufahren und seinen Kram zusammenzupacken. Im Taxi wurde er von seinen Freunden euphorisch willkommen geheißen, was beim Taxilenker abfällige Blicke hervorrief. Im Zentrum blieben sie beim Feinkostladen kurz stehen und Marcel besorgte die vorbestellten belegten Brötchen. Die Stimmung war ausgelassen und besonders Gernot war nicht zu bremsen. Ein Wortwitz löste das andere Bonmot ab. Marcel hatte den Eindruck, als wäre Gernot schon ein wenig angeheitert. In der Sperberstraße stiegen sie aus und erkauften sich den Respekt des Taxilenkers mit generösem Trinkgeld zurück. Als Marcel die Wohnungstür aufschloss, hörte er spirituelle Musik aus dem Wohnzimmer. Sie hatte wohl wieder vergessen, die Anlage abzudrehen. Artig zogen sich alle im Vorraum ihre Schuhe aus. Marcel tänzelte, das Tablett mit den Brötchen ausbalancierend, an seinen Freunden vorbei ins Wohnzimmer. Er wollte es vorerst in der Küche abstellen und gab leise die Anweisung den mitgebrachten Sekt und Wein in den Kühlschrank einzustellen, doch mitten im Satz stockte er. Marcel traute seinen Augen nicht. Er glaubte sich in einem schlechten Film. Der Raum begann sich zu drehen, der Boden schwankte wie ein Schiffdeck im Sturm. Salzsäulenstarre - Sündenfall - Raserei - Atemnot - Kataplexie.
Karin saß nackt mit geschlossenen Augen und völlig entspannt auf der Couch und Baghira leckte eifrig die in ihrem Schoß aufgeschmierte Haselnusscreme ab. Sie bemerkte ihre Gäste nicht gleich. Nach und nach blickten alle geschockt zur Tür herein. Erst als das Tablett zu Boden fiel und die Brötchen den schönen Berberteppich versauten, schreckte sie auf. Sie schoss in die Höhe wie von einer Spiralfeder katapultiert, verdeckte mit einer Hand beschämt ihre Brüste, mit der anderen den mit Nutella verunzierten, aber schmackhaft gemachten Intimbereich und lief ins Bad, wo sie sich einsperrte, um diesen teils empörten, hämischen und begehrlichen zu entfliehen.
Als erster fand Gernot seine wenn auch zynischen Worte wieder: "Wow! Sie ist total auf den Hund gekommen. Ein Hund müsste man sein ..." Für diese Meldung hätte Marcel ihn gerne umgebracht, seinen Kopf mit dem Silbertablett zu Brei geschlagen, mit der Schirmspitze aufgespießt oder mit der Gabel erstochen, aber er fühlte sich selber wie erschlagen und es war ihm speiübel. Als Baghira sich dann noch heißhungrig auf die Brötchen stürzte und aus dem Bad lautes Schluchzen zu hören war, sprang Marcel auf, rannte in die Küche, erbrach sich in der Spüle. Nie wieder würde er sie mit dem Mund befriedigen wollen. Nicht einmal in die Nähe kommen. Er drehte den Wasserhahn auf und kühlte sein Gesicht mit kaltem Wasser. Konnte man so etwas reinwaschen? Wenn Marcel im Streitgespräch mit Karin verbal entgleiste, dann verlangte sie zumeist Wiedergutmachung mit dem Spruch: Was Schlechtes mit den Lippen gesagt wurde, muss mit den Lippen auch wieder gut gemacht werden. Ihre Anspielung auf Cunnilingus funktionierte und er war gerne bußbereit. Doch das alles war nun in peinliche Ferne gerückt. Marcel schleppte sich wie ein die Wüste durchwandelnder Eremit zur Badezimmertür und setzte sich unter schwerer Last auf den Fußboden. Die gemeinsamen Freunde waren noch einige Minuten unschlüssig in der Diele herumgestanden, entschlossen sich dann aber, einen leisen und unspektakulären Abgang zu machen. Marcel stellte sich die beiden Pärchen vor, wie sie unten auf der Straße einen Lachanfall bekamen und sich belustigt das Maul zerrissen. Er schämte sich und zugleich war er zornig über seine Scham. Karins Schluchzen verstummte allmählich. Sie holte tief Luft und es war einen Moment still. "Du fragst dich sicher, warum ich dir so etwas antue, und ich kann dir keinen plausiblen Grund nennen. Wenn du jetzt gehst, sollst du aber eines wissen: Ich liebe dich und es tut mir unendlich Leid!" Marcel trieb es die Tränen in die Augen. Er fragte sich, ob man mit solch einem Makel leben konnte. Baghira rollte sich neben ihm voll gefressen und zufrieden zusammen. Sie würden fortziehen müssen - weg von dem Bekannten- und Freundeskreis - weg von Gespött und Fingerzeig - und den Hund ins Tierheim geben - seine Anwesenheit konnte er jetzt nicht mehr ertragen - entartet wie sein Frauerl - vielleicht sollte man Karin auch in ein Heim sperren. Das Wasser der Brause war zu hören. Sie wusch die verräterischen Spuren des Eklats von sich ab, aber restlos sauber wurde sie dennoch nicht. Der Schandfleck hatte sich tief eingebrannt.
Karin entschied sich für den Hund. Der Stachel saß zu tief und war die Beziehung nach diesem Ereignis nicht mehr zu retten. Sie zog weg aufs Land. Aus den Augen aus dem Sinn. Aber die Geschichte hat sich wie ein Lauffeuer verbreitet und wurde zu einer Legende. Und alle, die diese Legende weitererzählen, haben sie von jemandem gehört, der irgendwen aus dieser Geschichte kannte und diese wiederum von diesem gehört hat. Und natürlich ist sie wahr.


Eingereicht am 17. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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