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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Traumreise

©Patricia Eilert

Nach 30 Jahren wohne ich wieder in der Stadt, in der ich groß geworden bin und bis zu meinem Abitur gelebt habe. Ein ambivalentes Gefühl, muss ich mir eingestehen, seltsam fremd und seltsam vertraut. Ich hatte bei der Ausschreibung für den Posten der Leiterin der Traumforschungsabteilung an der Uni den Sieg davon getragen. Ich war begeistert und unerhört aufgeregt.
Das Gebiet des Traums ist nämlich schon immer meine Leidenschaft gewesen, einmal in beruflich-wissenschaftlicher Hinsicht und auch in privater. Hier konnte ich nach Herzenslust meine persönlichen Experimente anstellen.
Mein Studienkollege Dave, mit dem ich über all die Jahre einen regelmäßigen Briefkontakt gepflegt hatte, war weitgehend an meiner Einstellung beteiligt gewesen. Er hatte mich vorgeschlagen und ohne einen umständlichen bürokratischen Dienstweg einhalten zu müssen, war ich als geeignet befunden worden. Und so freute ich mich außerdem riesig auf ein Wiedersehen und auf die Zusammenarbeit mit ihm. Dave ist, was man ein Traummedium nennen kann, was auch immer man darunter versteht. Er kann in seinen Träumen willentlich reisen und sogar andere Menschen in ihrem Traum besuchen und mit ihnen zusammen den Verlauf der Träume beeinflussen. Wie er das macht, weiß er selber nicht genau. Er beherrscht dies bereits seit seiner Kindheit. Kein Wunder, dass ich begierig darauf bin, Seite an Seite mit ihm zu arbeiten.
Ich nehme das Telefonbuch zur Hand und blättere scheinbar absichtslos darin herum. Ich bleibe beim Buchstaben M hängen. Und dann habe ich ihren Namen auch schon gefunden. Katrin Munz, die Mutter meines ersten Freundes. Ich war zwei Jahre mit ihrem Sohn Oliver zusammen gewesen, bis ich dann nach meinem Abitur die Beziehung aus verschiedenen Gründen beendete und ins Ausland ging.
Katrin Munz war mir im Gedächtnis geblieben als eine sprudelnde, schöpferische, ideenreiche Person. Sie war derzeit eine passionierte Schriftstellerin und ich hatte sie sehr bewundert. Ihr Erfolg hatte schon früh Wellen geschlagen und sie war sehr viel auf Vortragsreisen unterwegs gewesen. Oliver hatte damals meine Begeisterung für seine Mutter nicht im Geringsten geteilt. Im Gegenteil, wenn ich zurückdenke, hatte er sich eigentlich vehement gegen den Erfolg seiner Mutter verschlossen. Aber ich war damals viel zu jung gewesen, um diese Auffälligkeit in seinem Verhalten näher zu untersuchen.
Mechanisch wähle ich ihre Nummer. Das Freizeichen ertönt und dann meldet sich eine weibliche neutral klingende Stimme: "Hier bei Munz."
"Ich möchte gern mit Frau Munz sprechen", sage ich.
"Frau Munz liegt im Stadtkrankenhaus", klärt mich die nun eher monoton als neutral klingende Stimme auf. "Sie ist sehr krank."
"Oh", antworte ich erschüttert. "Kann man sie besuchen?"
"Zimmer 403, dritter Stock.", sagt die Stimme prompt und der Hörer wird aufgelegt.
Zwei Stunden später öffne ich behutsam die Tür zum Zimmer 403. Mein Blick fällt als Erstes auf zwei wächserne Hände, die reglos auf der Bettdecke liegen. Dann trifft mein Blick Katrins Gesicht. Bleich, schmal und zart liegt es in den wuchtigen Kissen. Sie sieht mich aus müden Augen, die sich jedoch das intensive Blau bewahrt haben, an. Ich trete zu ihr und will mich in Erinnerung rufen. Sie winkt mit dem rechten Zeigefinger fast unmerklich ab. "Ich kenne dich noch, meine Liebe. Wie schön, dass ich dich nochmals sehen darf", flüstert sie.
Dann tauschen wir das Wesentliche unserer Leben aus. Ich erzähle ihr, dass ich an der Uni der Stadt einen guten Job bekommen hätte, und sie tätschelt meine Hand. "Es ist gut, im Alter zu seinen Wurzeln zurück zu kehren", sagt sie leise. Nachdem sie mir erzählt hat, dass sie an Knochenkrebs leidet und nur noch wenig Zeit zu leben hat, verrät sie mir den Kernpunkt ihres Leids.
Oliver hat vor Jahren den Kontakt zu ihr völlig abgebrochen und auch die beiden anderen Kinder, Natalie und Jens, die schon immer unter seinem Einfluss gestanden hatten, von ihr fern gehalten.
"Er hat es nie überwunden, dass ich mehr Zeit in meine Schriftstellerkarriere investierte als in die Familie", sagt sie und ihr Gesicht verzieht sich schmerzhaft. "Er ist streng mit mir zu Gericht gegangen. Aber vielleicht habe ich es ja verdient. Es tut nur so furchtbar weh. Ich vermisse sie so sehr und meine ungestillte Sehnsucht lässt mich nicht sterben."
Ich bin erschüttert. Ich nehme mir fest vor, alles dafür zu tun, vor Katrins Tod eine Familienzusammenführung zu arrangieren. Sie darf einfach nicht sterben, ohne sich von ihren Lieben zu verabschieden. Das wäre mehr als unmenschlich, finde ich und spüre Empörung und Entrüstung in mir aufsteigen.
Als Erstes nehme ich mir vor, Oliver aufzusuchen, um ihn umzustimmen. Jetzt, wo seine Mutter in den letzten Zügen liegt, kann er doch nicht so hart und unnachgiebig bleiben, zumal es mir unverständlich ist, wie er so einen Ausschluss überhaupt vollziehen konnte. Was hatte ihn nur so verletzt?
Oliver freut sich sehr, nach so vielen Jahren von mir zu hören. Er ist inzwischen ein viel beschäftigter Geschäftsmann geworden mit einer eigenen Firma und hat so gut wie keine Zeit. Aber er scheint doch neugierig zu sein näher zu erfahren, was aus mir geworden ist und so lädt er mich für den folgenden Tag zum Lunch ein.
Ich bin etwas erschrocken, als ich ihn sehe. Aus dem einst schlanken, sportlichen Jungen ist ein untersetzter, etwas rotgesichtiger Mann mit schütterem Haar geworden, der den Eindruck macht, ständig unter Dampf zu stehen.
Wir unterhalten uns eine Zeitlang über belanglose Dinge und als ich das Thema auf seine Mutter bringe und ihm sagen will, wie es um sie steht, weicht er sofort aus. Als ich nochmals nachhake, blockt er mit zurückgehaltener Aggressivität total ab. Sein Gesicht wird fast zu Stein.
Ich erkenne instinktiv, dass über ein normales Gespräch bei ihm nichts zu machen ist.
Ich spreche mit Dave und frage ihn, ob er mir über den Traum helfen könne.
Zu meiner Freude und Erleichterung ist er sofort interessiert und zu einem Versuch bereit.
"Frage sie nach einem Schlüsselerlebnis", sagt er. "Sonst finde ich nur schwer Zugang."
"Was verstehst du unter Schlüsselerlebnis", frage ich irritiert.
"Versuche aus Katrin etwas heraus zu bekommen, was Aufschluss darüber geben könnte, warum Oliver die Liebe zu seiner Mutter mit solch einer Vehemenz verleugnet. Ich brauche einen für Olivers Unterbewusstsein sinnvollen Zugang."
Ich statte Katrin einen weiteren Besuch ab. Ich tue es gern.
Es gelingt mir, einige interessante Informationen von ihr zu bekommen.
"Er hat die Natur und Pferde über alles geliebt, mein Oliver", flüstert sie.
Ich sehe sie erstaunt an, denn das hatte ich zur Zeit unserer Freundschaft mit ihm nicht bemerkt. Er war eher übermäßig ehrgeizig und auf Erfolg aus gewesen und hatte es ja auch geschafft, ein angesehener, wenn auch hektischer und gestresster Geschäftsmann zu werden.
"Das war vor deiner Zeit, bis zum Alter von fünfzehn. Er war ein absoluter Pferdenarr und eigentlich nur in der Natur glücklich. Da schenkte ich ihm sein eigenes Pferd."
Ich sehe Katrin erwartungsvoll an. Auch davon war mir damals nie etwas zu Ohren gekommen. Ich hatte ihn mit 16 Jahren kennen gelernt. Und während unserer Beziehung hatte er dies nie auch nur mit einer Silbe erwähnt.
"Wie du weißt, hatte ich schon früh Erfolg mit meiner Schriftstellerei und war viel unterwegs", fährt Katrin erklärend mit ihrer brüchigen Stimme fort.
Ich nicke. Das erinnere ich recht gut und auch, dass ich ihr bewegtes Leben und ihren spritzigen Geist immer bewundert habe. Sie war eben nie wie die anderen Hausfrauen und Mütter gewesen, die nur wie die Glucken zu Hause hockten.
"Als ich ihm dieses schöne Pferd schenkte, war Oliver natürlich sehr froh, aber ich nahm damals auch einen dunklen Schatten wahr, der über sein Gesicht huschte. Und erst Jahre später habe ich verstanden, was dieser bedeutete. Oliver hing sehr an mir und konnte nicht genug Zeit mit mir verbringen. Und als er sein Pferd bekam, musste er gedacht haben, dass ich es ihm als Ersatz für ein Zusammensein mit mir unterschieben wollte, dass ich ihn sozusagen durch das Pferd beschäftigt und abgelenkt wissen wollte Und in der Tat gab es kurz darauf eine solche Nachfrage nach meiner Person, dass ich wirklich keine Zeit mehr für die Kinder hatte."
Sie macht erschöpft eine Pause.
"Dann hat er seine Liebe zur Natur und zu Pferden also total verdrängt und sich in seine Karriere gestürzt?", frage ich betroffen. Denn die mangelnde Naturliebe, die ich damals bei ihm vermutete und der krankhafte Ehrgeiz nach Image und Bedeutsamkeit waren meine Hauptargumente gewesen, um die Beziehung zu beenden, bevor ich dann für dreißig Jahre ins Ausland ging.
Katrin nickt traurig. "Das hat er. Auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin haben wir sein Pferd nach einigen Wochen an den Reitstall verkauft und er hat allem, was damit verbunden war, demonstrativ den Rücken zugekehrt."
Sie seufzt. Tränen treten in ihre Augen und sie bittet darum, allein sein zu dürfen. Ich ziehe mich zutiefst berührt zurück.
Ich teile Dave mit, was ich erreicht habe. Er nickt und meint, das würde ihm weiterhelfen. Ich schärfe ihm ein, dass die Zeit aufgrund von Katrins Zustand dränge und Dave nickt wieder. "Ich werde umgehend sehen, was ich erreichen kann."
Und dann passiert folgendes. Als ob das Leben uns mit günstigen Umständen unterstützen wollte, annulliert Olivers Sekretärin die Verabredung, die ich mit ihm am nächsten Tag zum Lunch habe, indem sie mir mitteilt, dass er sich bei einem Sturz auf dem nächtlichen Glatteins ein Bein gebrochen hat und in einer Klinik liegt. Es handelt sich nicht um das Stadtkrankenhaus, in dem Katrin liegt, sondern um eine kleine Privatklinik mitten im Grünen am Stadtrand.
Da liegt er, mit einem an einem Haken aufgehängten vergipsten Bein, Telefone und Akten türmen sich um ihn herum auf und er spielt weiterhin den unersetzbaren Geschäftsmann. Die Situation wirkt grotesk Ich bleibe nur kurz, bemerke jedoch, dass der Blick aus seinem Fenster genau auf eine Wiese trifft, auf der ausgerechnet einige Pferde grasen. Ich schüttele unmerklich den Kopf ob dieser Synchronizität zu Katrins Erzählung.
"Das könnte doch hilfreich sein und eine Wende bei Oliver begünstigen, was meinst du?", frage ich Dave am Telefon.
"Das ist unsere Chance", erwidert er knapp.
Am folgenden Morgen liefert mir Dave seinen Traumbericht. "Als ich in Olivers Traum eintrat, stand er sehnsuchtsvoll vor der Wiese und beobachtete die Pferde. Obwohl er diesen während des Tages sicher keine bewusste Aufmerksamkeit geschenkt hatte, musste sein Unterbewusstsein diese Eindrücke gespeichert haben. Bei der Vorgeschichte, die du mir von ihm erzählt hast, hatte ich auf diese Wirkung gehofft und ich lag richtig. Ich nahm die Gestalt eines fünfzehnjährigen Jungen an und begab mich in dieser Traumgestalt auf die Wiese, indem ich ein wunderschönes Pferd am Zügel führte. Ich tätschelte und liebkoste es mit Zärtlichkeit, trabte mit ihm einige Runden vor Olivers Augen im Kreis herum und bot seiner Wahrnehmung die absolute Einheit zwischen Pferd und Reiter. Ich ließ mir Zeit, kümmerte mich aber nicht im Geringsten um ihn, ja ich gab vor, ihn völlig zu ignorieren.
Plötzlich sah ich, dass Oliver sich von seinem Beobachtungsposten losriss und auf mich zustürmte. "Wer bist du, Junge?", wollte er wissen und sah mich dabei unsicher an. "Ein Pferdenarr", antwortete ich lachend und übermütig.
"Das sieht man doch, oder?" Ich beobachtete, wie Oliver einen Moment erstarrte. Und dann wechselte seine Gestalt zwischen seiner jetzigen und der des fünfzehnjährigen Jungen, der er mal war, flackernd hin und her. Wie du weißt, passieren solche Effekte häufig im Traum. Das Zusammentreffen mit mir und dem Pferd beutelte ihn zutiefst. Mit Zurückhaltung und Ehrfurcht streichelte er über die Mähne des Pferdes. "Soll ich Ihnen mal was zeigen, Herr?", rief ich herausfordernd. Und da ich mich in einem Traum befand, begann ich die ungeheuerlichsten Kunststücke und Akrobatiken auf dem Pferderücken zu vollführen Ich genoss es wirklich, über die normalen Grenzen hinaus zu gehen.
Ich merkte, wie Olivers verdrängte Sehnsucht aufbrach. Tränen liefen ihm über die Wangen. Ich hielt ihm die Zügel hin und forderte ihn auf zu reiten.
Er stammelte, er hätte mit fünfzehn Jahren selber ein Pferd gehabt und seitdem nie mehr eines angerührt. "Nun, dann reiten Sie schon", wiederholte ich meine Einladung.
Er begann, mit einer ungewöhnlichen Andacht auf mein Pferd zu steigen, doch statt loszureiten rutschte er wieder hinunter. Tränen stürzten unentwegt aus seinen Augen. "Ich kann es nicht, Junge", rief er. "Ich muss erst einen fast unverzeihlichen Fehler wieder gutmachen." Und dann lief er auch schon zurück über die Wiese schnurstracks in sein Bett hinein. Ich rief ihm eindringlich nach: "Ja, mein Herr, machen Sie ihren Fehler wieder gut und kommen Sie dann wieder zurück. Ich warte auf Sie." Mit dieser Aufforderung wollte ich gewährleisten, dass sein Tagesbewusstsein dieses Ereignis erinnerte. Mal sehen, ob es geklappt hat."
Wie auf ein geheimes Zeichen hin klingelt in diesem Augenblick mein Handy.
Ich erkenne, dass es die Nummer des Krankenhauses ist, in dem Oliver stationiert ist. Ich hatte der Oberschwester oberflächlich ein paar Zusammenhänge erklärt und ihr eingeschärft, mich unverzüglich anzurufen, falls sich etwas Ungewöhnliches mit Oliver ereignen sollte. Ich melde mich und vernehme ihre aufgeregt sprudelnde Stimme, die einige Minuten auf mich niederprasselt. Herr Dr. Munz hätte heute Morgen weinend und schluchzend in seinem Zimmer gelegen und veranlasst, dass alle Akten, Zeitungen und Telefone entfernt würden. Er wolle einen freien Blick auf die Pferde draußen haben. "Und dann hat er mir aufgetragen, sofort seinen Bruder und seine Schwester ins Krankenhaus zu bestellen. Er hätte eine wichtige Mitteilung zu machen. Schwester Mathilde, hat er mir unter Tränen verkündet, ich habe heute Nacht ein Schlüsselerlebnis gehabt. Ich habe etwas begriffen. Verstehen Sie, was ich meine? Natürlich habe ich rein gar nichts verstanden. Vielleicht können Sie mehr damit anfangen."
Schwester Mathilde ringt förmlich nach Luft, so schnell hat sie gesprochen. Ich bedanke mich bei ihr, nachdem ich versichert habe, ich könne sehr viel mit ihrer Information anfangen und würde es ihr später genauer erklären. Dann falle ich dem ahnungslosen Dave spontan um den Hals.
"Stell dir vor, er hat sich erinnert", rufe ich enthusiastisch. "Dave, deine Traumaktion hat Erfolg gehabt." Und jetzt erzähle ich ihm, worüber Schwester Mathilde soeben berichtet hat.
Dave strahlt. "Das ist ja wunderbar."
Jetzt bin ich allerdings aufs Äußerste gespannt, was als nächstes passieren wird. Ich verzichte zunächst darauf, Katrin zu besuchen. Ich will diesen Prozess jetzt auf keinen Fall stören. Aber schon am Abend bekomme ich einen Anruf von Oliver.
"Ich möchte dir danken", sagt er mit Tränen erstickter Stimme. "Ich habe - ich meine, wir haben uns mit unserer Mutter wieder versöhnt und ich habe sie in mein Krankenhaus umlegen lassen. Ob du es glaubst oder nicht, sie liegt bei mir auf dem Zimmer. Ich glaube, du bist der Auslöser für das Wunderbare gewesen, was in mir geschehen ist Schließlich hast du neulich beim Lunch das Thema auf meine arme Mutter gebracht. Ich war mir durchaus bewusst, dass ich dich brutal abblockte. Aber seit Jahren hat keiner mehr gewagt, in meiner Anwesenheit über meine Mutter zu sprechen. Aber dieser plötzliche Unfall und dann dieser Schlüsseltraum, den ich hatte. Das muss alles damit zusammenhängen. Also, Mama, die anderen und ich erwarten dich morgen Nachmittag hier."
Ich kann einfach nicht schlafen. Um Mitternacht rufe ich Dave nochmals an.
"Sorry, aber Ich muss einfach mit jemandem reden. Das geht mir alles zu nah."
Wir treffen uns in einem kleinen Nachtcafe in der Nähe und beleuchten alles nochmals eingehend.
"Bisher war deine Traumkunst für mich mehr oder weniger eine intellektuelle Sache", gestehe ich ihm, "aber das hier mit Oliver ist mir unter die Haut gegangen. Das ist ja wirklich ausbaufähig, Dave."
Er winkt bescheiden ab. "Ja, mal sehen, vielleicht können wir es hin und wieder konstruktiv einsetzen. Und vielleicht können wir deine eigene Leidenschaft in dieser Hinsicht noch ankurbeln."
Er zwinkert mir zu. Ich weiß, was er meint. Ich selbst soll mich auf dem Traumgebiet in dieser Hinsicht aktiv beteiligen.
Am nächsten Nachmittag will ich Katrin mit ihren Kindern und Enkelkindern auf Schwester Mathildes Station in Olivers Zimmer treffen. Bevor ich ins Zimmer trete, hält mich Schwester Mathilde am Ärmel zurück. "Dieser Dr. Krings bringt bei uns alles durcheinander, sag ich ihnen. Eine sterbende Frau in der männlichen Chirurgie. Das übertrifft doch alles." Sie zögert einen Moment. Dann fragt sie scheu: "Was ist eigentlich so ein Schlüsselerlebnis genau? Er spricht ständig davon."
Ich sehe sie erstaunt an und erkläre ihr, dass es etwas ist, was eine tiefe Einsicht hervorruft und dem Leben unter Umständen eine ganz neue Richtung verleiht.
Sie nickt nachdenklich. "So etwas in der Art habe ich mir gedacht." Sie tritt zurück, um mich ins Zimmer zu lassen und ich höre noch, wie sie murmelt: "Ich glaube, so etwas bräuchte ich auch dringend."
Ich öffne leise die Tür und verharre einen Moment auf der Schwelle, um das Gesamtbild, was sich mir da bietet, aufnehmen zu können, bevor es in Fragmente zerfallen würde.
Katrin ist erstaunlich aufgeblüht. Oliver humpelt mit seinem Gipsbein ununterbrochen um ihr Bett herum, küsst mal ihre Hände, mal ihr Gesicht.
"Wenn ich nächste Woche hier herauskomme, Mutter, nehme ich dich mit zu uns. Da bekommst du ein schönes Zimmer und den ganzen Tag ist mindestens einer von uns bei dir."
Jens und Natalie strahlen. Ich sehe ihnen ihr Glück und die tiefe Erleichterung an, endlich den Fluch, der ihre Mutter so viele Jahre aus ihrem Leben verbannt hatte, aufgehoben zu haben. Außerdem sind noch eine mir fremde Frau und zwei halbwüchsige Jungen da, die alles mit Interesse verfolgen und immer wieder zwischen ihrer Großmutter und Oliver hin und herblicken. Es müssen Olivers Frau und seine Söhne sein.
Ich trete vollends ein und werde freudig begrüßt. Nachdem ich Kathrin zugezwinkert habe, während ich mich für einen Kuss zu ihr hinunterbeuge, stellt mir Oliver seine Frau und seine beiden Jungen vor. Jens und Natalies Anhang war mit Rücksicht auf Katrins körperlichen Zustand zunächst nicht mitgekommen.
"Alles Schritt für Schritt", lacht Oliver unter Tränen. "Und kümmere dich nicht um mein weinerliches Verhalten. Es stürzt einfach aus mir heraus."
Ich bin erneut berührt. Dieser beinharte Oliver weint in der Öffentlichkeit. Ich freue mich für ihn und für Katrin.
Die Familie hat - natürlich wie gewöhnlich unter Anleitung von Oliver - Pläne mit Catherine. Die besten Ärzte sollen gerufen werden. An nichts soll es Katrin fehlen. Sie wollen nichts unversucht lassen, um sie gesund zu machen.
Am nächsten Tag bekomme ich Kontakt zu Elke, Olivers Frau. Wir treffen uns auf dem Krankenhausgang. Sie wirkt etwas eingeschüchtert und ich kann an ihrem Gesicht sehen, dass sie schwierige Jahre hinter sich haben musste. Sie drückt in einer aufwallenden Zuneigung meine Hand.
"Ich glaube", sagt sie, "Sie haben diese Transformation bei Oliver ins Rollen gebracht. Ich bin ja so froh. Er hat uns das Leben zur Hölle gemacht, weil er seine Gefühle zu seiner Mutter dermaßen abgetötet hatte. Es ging alles zu Lasten der Familie."
Ich nicke mitfühlend. Das kann ich mir vorstellen. "Ich habe eigentlich nicht viel gemacht", versuche ich zu erklären. "Es hat sich so ergeben. Ich denke, Oliver stand einfach kurz vor dem Platzen. Und vielleicht war mein Erscheinen nur das Zünglein an der Waage."
Sie drückt nochmals inbrünstig meine Hand. Ich versichere ihr, dass ich dankbar sei, Zeuge dieses Prozesses sein zu dürfen. "Was könnte ergreifender sein als einen Menschen zu erleben, der zu seiner Wahrheit zurückkehrt, nachdem er jahrelang in seinem selbst errichteten Gefängnis sich und anderen das Leben schwer gemacht hat?"
Doch Katrin zieht es vor zu gehen. Am Abend vor der Übersiedlung in Olivers Haus schläft sie ruhig und glücklich in den Armen ihres Ältesten ein. Jetzt ist sie bereit loszulassen. Es gibt keinen Grund, länger zu verweilen.


Eingereicht am 16. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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