Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich beobachtet werde.
Ich hielt den Blick angestrengt auf das Buch gerichtet. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass mir eine junge Frau gegenübersaß. Kurzer dunkelroter Rock, wohlgeformte, leicht gebräunte Beine.
Ich spürte, dass sie mich noch immer beobachtete, starrte auf die Zeilen, die allmählich vor meinen Augen verschwammen. Ich atmete tief durch, wartete bis sich mein Herzschlag beruhigt hatte. Ich fasste allen Mut zusammen und schaute ihr ins Gesicht.
Sie hatte große Augen. Große, dunkle Augen. Wunderschöne Augen. Traurige Augen.
Stumm begegneten sich unsere Blicke.
Verzweifelt suchte ich nach Worten.
Sie senkte den Kopf und schaute auf ihre Hände, die sie gefaltet im Schoß hielt.
Ich starrte sie unverwandt an. Immer noch suchte ich nach Worten. Aber ich wusste, dass es längst zu spät war.
An der Haltestelle "Wagengasse" sprang sie auf, schenkte mir einen grußlosen, traurigen Blick und hastete aus dem Bus.
Ich schaute ihr nach, wie sie mit gesenktem Blick Richtung Steinstraße lief.
Das Bild dieser faszinierenden Frau ließ mich nicht mehr los.
Ich war unruhig, rastlos, versuchte mich abzulenken, aber es gelang mir nicht. Ich ging früh zu Bett und versuchte das Geschehene zu ordnen.
Ich war wie üblich mit der Linie 17 von der Arbeit nach Hause gefahren, aber eine halbe Stunde später als sonst. Sogleich hatte ich mich in meine Lektüre vertieft, den Fahrgästen keine Beachtung geschenkt. Als ich sie bemerkte, hatte der Bus bereits das Jägerhaus passiert. Wahrscheinlich war sie auf dem Universitätscampus zugestiegen.
Bestimmt war sie eine Studentin. Sie war wohl neu an der Uni, das Sommersemester hatte gerade begonnen. Ich überlegte, was sie studieren mochte. Germanistik oder Fremdsprachen, vielleicht auch Jura oder Biologie. Nein, wohl doch eher was mit Sprachen.
Ich versuchte ihr Bild zusammenzusetzen. Die großen dunklen traurigen Augen. Die schmale Nase. Der volle Mund. Das braun glänzende lange glatte Haar. Das schmale, leicht kantige Gesicht. Je länger ich die Einzelteile zusammenfügte, umso deutlicher spürte ich, dass ich noch nie im Leben ein schöneres Gesicht gesehen hatte. Ich musste sie unbedingt wieder sehen.
Wieder spüre ich es ganz deutlich: Ich werde beobachtet. Ich drehe mich um. Ein Schleier. Oder ist es ein Nebel? Ein Gesicht. Konturen verwischt. Große, traurige Augen. Grell geschminkte Lippen formen tonlose Worte in einer fremden Sprache. Der dunkelrote Rock reicht nur knapp über die Scham. Feuerrot lackierte Fingernägel ziehen den Saum zurück. Die Schenkel öffnen sich. Eine mächtige Kraft zieht mich zwischen die gespreizten Beine. Ein Abgrund. Ich falle. Ich falle. Ich falle.
Ich schnellte hoch. Um mich herum war alles dunkel. Mein Herz pochte, Schweiß perlte auf meiner Stirn. Ein Blitz durchzuckte meine Wirbelsäule. Erst als ich die warme feucht-klebrige Masse zwischen meinen Beinen spürte, wurde mir bewusst, dass ich geträumt hatte.
Am nächsten Tag hatte ich nur einen Gedanken. Ich musste sie wieder sehen. Ich konnte den Feierabend kaum erwarten. Ich fuhr, wie am Vortag, eine halbe Stunde später als üblich mit der Linie 17 von der Arbeit nach Hause. Ich hoffte, ich würde die unbekannte Schöne treffen. Aber sie kam nicht.
Auch an den folgenden Tagen hatte ich kein Glück. Die Gedanken wurden immer bohrender. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. In der Nacht rissen mich Strudel der Erregung in den Abgrund. Am Arbeitsplatz konnte ich mich auf nichts konzentrieren.
Ich nahm eine Woche Urlaub. Ich musste sie finden. Von morgens bis abends fuhr ich die Strecke ab. Systematisch durchkämmte ich die Umgebung der Steinstraße. Stundenlang durchstreifte ich den Universitätscampus. In der Mittagszeit observierte ich die Mensa. Ich durchsuchte Hörsäle und Seminarräume. Ohne Erfolg.
Und dann sah ich sie doch. Es war Freitagnachmittag. Ich saß in der Linie 17, war traurig, dass die unbekannte Schöne auch heute nicht zugestiegen war. Neben mir hatte eine Studentin Platz genommen, die mir schon öfter aufgefallen war. Ihre Bücher und Notizhefte waren in kyrillischer Schrift geschrieben. Irgendwann hatte ich das Wort "MOCKBá" identifiziert. Von da an war sie für mich "die russische Studentin". Als sie an der Wagengasse ausstieg, sah ich, wie sie jemandem freudig zuwinkte. Es war die unbekannte Schöne! Die beiden eilten aufeinander zu und umarmten sich herzlich. Ich schnellte hoch. Zu spät! Der Bus war schon losgefahren. Ich brüllte "Halt! Haaalt!!! Haaalt, verdammt noch mal!", aber Busfahrer fuhr stur weiter. An der nächsten Haltestelle stürmte ich aus dem Bus und rannte zurück. Fieberhaft suchte ich die Gegend ab, aber ich konnte sie nicht finden.
Der kurze Augenblick des Wiedersehens hatte mir neue Hoffnung gegeben. Den ganzen Abend grübelte ich über das Zusammentreffen der beiden Frauen nach. Kein Zweifel, die unbekannte Schöne hatte an der Bushaltestelle auf die russische Studentin gewartet und die beiden kannten sich sehr gut. Meine unbekannte Schöne war offenbar auch eine russische Studentin. Plötzlich packte mich eine Unruhe. Die andere hatte lange blond gefärbte Haare und war stets grell geschminkt und aufreizend gekleidet. Wenn ich sie sah, musste ich immer an Russenmafia, Mädchenhandel und Edelbordelle denken. Ich war mir sicher, dass sie ihr Studium in diesem Milieu verdiente. Aber meine Schöne war ganz anders! Sie war unschuldig, sie war rein. Eine traurige Unschuld, eine Heilige, eine Göttin.
An den folgenden Tagen durchsuchte ich die Gegend um die Wagengasse und die Steinstraße akribisch. Wo immer ich auf einem Namensschild einen osteuropäisch klingenden Namen entdeckte, fragte ich nach der unbekannten Schönen, erntete Köpfschütteln, Unverständnis, Neugierde, Hilfsbereitschaft. Aber ich fand keine Spur.
Die Hoffnung schlug um in tiefe Traurigkeit. Meine Arbeit erledigte ich wie ein Automat. Die Abende verbrachte ich zu Hause. Ich schrieb. Schrieb Briefe. Schrieb lange Briefe und Gedichte und adressierte sie "An das russische Mädchen". Wochen vergingen. Der Strudel der Traurigkeit riss mich tiefer und tiefer. Nur die Briefe gaben mir einen Halt. Wenn ich schrieb, war ich bei ihr. In den Briefen waren wir eins, die Worte das Band unserer Liebe. Ich lebte für die Stunden, in denen meine Zeilen das Band um mich und mein russisches Mädchen schlangen.
Ich lebte schon ganz in der Welt meiner Liebesworte, als ich sie unerwartet wieder sah. Ich stand im Supermarkt in der langen Kassenschlange, da sah ich wie sie draußen vorbeilief. Ich kämpfte mich durch die wütende Menge. Als ich auf der Straße ankam, war keine Spur von ihr zu sehen. Ich spürte eine freudige Erregung. Mich durchspülte mich eine Woge der Hoffnung, ein Hochgefühl des Glücks. Ich hoffte es, ich spürte es, ich wusste es: Ich würde sie bald wieder sehen.
Ich war so hoffnungsfroh, dass ich mich am frühen Abend entschloss, mal wieder in die Meerbuschstraße zu fahren. Mit der Straßenbahn fuhr ich zum Schlossberg und ging die kurze Strecke zu Fuß.
Die Alte, klein, dick, tausend Falten im Gesicht, empfing mich gut gelaunt wie immer.
"Ah, du bist's. Du warst aber schon lange nicht mehr bei uns. Du hast doch nicht etwa eine Frau gefunden?"
"Nein, leider nicht ... noch nicht ... oder vielleicht doch ..."
"Was ist denn mit dir los? Du bist ja ganz ... ach, egal ... komm rein. Bei uns kriegst du immer was du suchst. Hast du einen bestimmten Wunsch? Die Veronique?"
"Nein, erst mal schaun, wer alles da ist."
Sie führte mich durch den schmalen Gang.
"Da, nimm Platz, ich hole die Mädchen. Es sind auch zwei neue da."
Ich ließ mich in das mächtige Ledersofa sinken und rückte mein Jackett zurecht. Lehnte ich mich entspannt zurück.
Ich musste nicht lange warten. Die Mädchen kamen herein. Hinter dem Vorhang nur schemenhaft zu erkennen. Es waren sechs. Als sie sich formiert hatten, wurde der hauchzarte Schleier zurückgezogen.
Ich erkannte sie sofort.
Sie war die dritte von links.
Ein dumpfer Schmerz presste meine Brust zusammen. Mir stockte der Atem. Meine Finger krallten in das kühle Leder.
Die Mädchen stellten sich der Reihe nach vor. Bilder rasten an mir vorbei. Haut. Nackte Haut. Helle Haut. Dunkle Haut. Blondes Haar. Dunkles Haar. Lackstiefel. Hochhackige Schuhe. Leder. Latex. Peitsche. Blanke Busen. String-Tanga. Feste Pobacken. Rasierte Schamlippen. Wortfetzen wirbelten durch meinen Kopf. Patricia ... auch anal ... Mona ... SM ... Natascha ... Veronique ... beidseitig Französisch ... Sue Lin ... anschmiegsam, gefügig ... Sarah ... auch Extras ... Natascha ... Natascha ... Natascha ...
Ein Moment lang war alles schwarz.
Dann sah ich nur noch sie. Ihr Gesicht. Ihre Augen. Ihre großen, traurigen Augen. Ich starrte sie an. Sie hielt meinen Blick.
Ein Glücksgefühl durchströmte mich. Ich war am Ziel. Ich hatte sie gefunden. Natascha! Natascha! Meine Natascha!
Ich löste den Blick, wandte mich zu dem Thai-Mädchen, lächelte sie an und sagte mit brüchiger Stimme: "Wir beide."
Während die fernöstliche Schönheit überrascht auf mich zukam, glaubte ich ein wehmütiges aber freundliches Lächeln auf Nataschas Gesicht erkennen zu können.