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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Rock'n Roll

©Lieselore Warmeling

"Was hast du denn wieder für Grillen im Kopf"?
Mutter sah mich missbilligend an und beschloss dann wohl, mich meinen ehrgeizigen Träumen zu überlassen.
Sie hatte große Wäsche und so was pflegte im Jahre des Heils 1948 den ganzen Haushalt durcheinander zu bringen.
Es gab an diesen Tagen kalte Küche - wenn überhaupt - und Mutter sagte unmissverständlich, "wer was zu essen haben will, soll sich gefälligst selber was machen oder hungern." Basta!
Aus dem Vollen lebten wir auch nach der Währungsreform noch nicht, es war also reichlich unverschämt von mir, aus dem Kühlfass im Keller die Butter fingerdick aufs Brot zu schmieren, aber ich war stinksauer und gedachte, zumindest kulinarisch keine Verzichtshaltung an den Tag zu legen.
Ansonsten würde ich wohl heute doch auf der Verliererliste erscheinen, denn ich war erst vierzehn und beim Tanz in den Mai nicht zugelassen.
Sechzehn musste man sein, wie meine Schwester Marlene, die würde am heutigen Abend zum ersten Mal zum Sommerfest gehen, begleitet von meinen ätzenden Sprüchen, die sie aber völlig kalt ließen.
"Ich würde da gar nicht auftauchen an deiner Stelle du lahme Ente", sagte ich erbittert, "wenn die dich tanzen sehen, bieten sie dir aus reinem Mitleid zwei Krücken an"
"Halt die Klappe Baby!" Marlene drehte sich in ihrem hellblauen Organzarock vor dem Spiegel hin und her und warf ihre roten Locken elegant über die Schulter.
"Und blau passt überhaupt nicht zu deinen Haaren du räudiger Fuchs." Ich war finster entschlossen, Marlene vor ihrem Abgang noch ein paar schwesterliche Breitseiten zu verpassen. "Fall nur nicht beim Rock'n Roll über deine unegalen Füße, mit den Quadratlatschen kriegst du den richtigen Schwung sowieso nicht hin, die Preisrichter werden dich disqualifizieren, sobald du den ersten Schritt gemacht hast."
Ich hatte mein Pulver verschossen und Marlene war völlig unbeeindruckt.
Mit erhobenen Armen drehte sie sich wirbelnd durchs Zimmer und sang: "Ich werde tanzen, tanzen, tanzen in die herrliche Sommernacht."
Ja, so sahs aus, sie würde tanzen und ich?
Ich war doch viel besser als sie.
Rock'n Roll meine Spezialität und Marlenes Babyspeck hatte bei mir nie eine Chance gehabt, ich war fit und topp, aber ... vierzehn.
Mist verdammter!
Was war dagegen eine Stulle mit fingerdicker Butter? Ein kärgliches Trostpflaster, ich kaute missmutig an meiner Schnitte und tat mir nur noch Leid.
Mir würde schon wieder als Trainingspartner nur Horst von nebenan bleiben und der ging mir auch bald von der Fahne.
Er war nicht im gleichen Tempo gewachsen wie ich und wenn er auch ein vorzüglicher Rock'n Roller war, die Hebefiguren fielen ihm immer schwerer und er begann sogar unter meinem Fliegengewicht zu keuchen wie eine Dampflok mit Ventilschaden.
Außerdem hatte seine Mutter darauf bestanden, dass er sich die Mähne stutzen ließ, sie passe nicht zum Berufsbild eines angehenden Beamten sagte sie.
Ich dagegen fand, der brave Scheitel hatte aus Horst auch äußerlich den Langweiler gemacht, der er meiner Meinung nach schon immer war. Mein Rat, es mit einem Bürstenhaarschnitt zu versuchen, der sei der letzte Schrei in der amerikanisch besetzten Zone, stieß auf Ablehnung.
Horst war so innovativ wie ein Küchensieb und meinen Einwand ein Rock'n Roller mit Beamtenfrisur sei ein Anachronismus, pflegte er lakonisch damit zu kontern, dass mit mir als Partnerin ohnehin keiner auf ihn achten würde. Nun, das änderte sich, als er mich zum ersten Mal fallen ließ und ich mir die Kehrseite für drei Wochen verstauchte.
Seitdem tanzte Horst lieber Boogie und ich war unablässig auf der Suche nach einem passenden neuen Partner. Leider vergeblich, denn was sich da anbot war unterste Schiene und ich immerhin die Nummer EINS im Rock'n Roll Club.
Nur nützte mir das gar nichts, zum Sommerfest war ich aus Altersgründen nicht zugelassen und kam mir vor wie ein Rennpferd, das man nicht an den Start lassen wollte.
Aber dabei sein würde ich trotzdem, daran konnte mich keiner hindern. Ich würde diese kleinliche Bande austricksen, das stand fest.
Schon eine Stunde nach Marlenes triumphalen Abgang zum Fest des Jahres ging ich ostentativ gähnend auf mein Zimmer und gab Mutter den obligatorischen Gute-Nacht-Kuss.
Sie sah mich zwar erstaunt an, war aber so mit ihrer Bügelarbeit beschäftigt, dass sie nicht weiter auf mich achtete.
Hastig kleidete ich mich um, stieg in meine nagelneuen Jeans, ein Geschenk aus dem Carepaket meiner Tante Jean in Dallas/Texas und zog nach kurzer Prüfung den dazu passenden engen Rolli von Marlene an.
Ein Kleidungsstück, das Mutter verboten hatte, weil es ziemlich provozierend - wie sie fand - Marlenes Brüste hervorhob. Na ja, immerhin betonte es bei mir nur das, was einmal Brüste zu werden versprachen.
Den blonden Pferdeschwanz hochgebunden und ich war fertig.
Leider nicht zum Rock'n Roll Festival, aber zum Klettern wars auch nicht übel.
Der Schützenplatz, auf dem der Maitanz stattfand, war direkt hinter unserem Haus, nur das Wäldchen lag dazwischen, eine eher baumbewachsene Wiese.
Ich vermied den bevölkerten Weg zum Festzelt, das mich ohnehin nicht interessierte, denn der Tanzwettbewerb würde auf dem so genannten RING stattfinden, eine weite Tanzfläche vor dem Zelt. Vorsichtig schlich ich durch das hohe Gras, umging die Ordner, die unerwünschte Nichtzahler fernhalten sollten und kletterte schnell auf eine Tanne mit niederhängenden Ästen.
Von hier aus hatte ich den perfekten Blick auf die Tanzfläche.
Die Veranstaltung war in vollem Gange. Noch wurden die gängigen Tänze der reiferen Jugend, Tango, Walzer, Foxtrott getanzt und darin war Marlene eine Wucht.
Sie sah toll aus, vor mir selber konnte ich das ja nun zugeben. Ihre rote Mähne war der Blickfang des Abends.
Aber was war das? Das konnte doch nicht wahr sein. Alex war ihr Partner, mein Alex, auch wenn er das nicht wusste, denn er hätte es kaum toll gefunden, der Traumprinz einer Vierzehnjährigen zu sein.
Er war der Rock'n Roller des Bezirkes, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und immerhin schon achtzehn.
Das absolute Idol meiner Jungmädchenträume.
Er und Marlene Tango tanzend, sie an ihn geschmiegt wie die Wurst an ihre Pelle.
Es zerriss mich fast vor Eifersucht.
Sie würde ihm den Abend versauen.
Sobald die Band zu rocken begann, war meine Schwester die Loserin des Abends.
Sie tanzte Rock'n Roll wie eine Schlafwandlerin und sie war zu üppig um ihrem Partner besonders gewagte Hebefiguren zu erlauben.
Das konnte nur ins Auge gehen, auch wenn Alex so ziemlich der Einzige war, der sie stemmen konnte.
Und da wars auch schon so weit.
Die Band drehte auf, und wie.
Verzweifelt rutschte ich auf meinem luftigen Sitz hin und her, ich litt Höllenqualen.
Aber nicht nur ich. Das bisher beste Tanzpaar des Abends geriet in Bedrängnis.
Alex konnte mit dieser Partnerin seine Tanzeinfälle nicht durchziehen, sie blockierte ihn regelrecht.
Und ich saß auf meiner Tanne, unfähig einzugreifen.
Erahnte jeden seiner Schritte bereits in seiner Entstehung und warf meine Beine in wildem, begeisterten Schwung hoch.
Zu hoch, denn ich verlor das Gleichgewicht und stürzte in einem Regen abgebrochener Äste und Tannennadeln auf den Rand der Tanzfläche.
Die Band hatte das Malheur nicht mitgekriegt, sie spielte unverdrossen weiter und ich saß auf meinem Jeanshintern und sah unglaublich töricht aus.
Und jetzt erwies sich, dass Blut dicker ist als Wasser.
Später war mir zwar nicht mehr so ganz klar, wer hier wen gerettet hat, aber Marlene reagierte zuerst.
Mit einem Satz war sie bei mir und riss mich hoch.
Nicht, um mich von der Tanzfläche zu entfernen, nein, sie stieß mich in die Arme von Alex und zischte: "Jetzt zeig was Du kannst, los."
Alex sah total perplex aus, aber dazu hatte er nur ein paar Sekunden Zeit, denn ich hob meinen Arm und er fasste instinktiv zu.
Ein paar Schritte und er erkannte seine Chance.
Ich tanzte, ich tanzte den Rock'n Roll meines Lebens.
Ich wirbelte, sprang, steppte, jeder Schritt saß.
Mit traumwandlerischer Sicherheit landete ich in den Armen meines Partners, der mich hochwarf, auffing, durch seine Beine schleuderte, als habe er nie etwas anderes getan.
Wir waren füreinander geschaffen, tänzerisch und optisch das Idealpaar.
Die anderen Tänzer hatten uns längst Platz gemacht.
Wir hatten plötzlich Raum für unsere immer gewagter werdenden Figuren.
Ich sah nichts außer diesem Tänzer, der mich ergänzte, mich antrieb, mich auffing, immer dort stand, wo ich ihn erwartete und mich federleicht in die nächste Schrittfolge schleuderte.
Als die Band mit einem wilden Trommelwirbel endete, riss Alex mich ein letztes Mal so hoch, dass meine Beine senkrecht in der Luft standen und ließ mich dann unendlich sanft in die letzte Drehung gleiten.
Tosender Beifall, und ich, atemlos, glücklich, berauscht, stürzte mich in die Arme von Alex und wartete auf seinen Kuss.
Der kam dann auch, aber ... züchtig auf die Stirn. "Klasse gemacht, Kleine", sagte er und ich fiel aus dem Himmel der Erwachsenen in die Kleinmädchenrolle zurück, schmerzhaft aber unabänderlich.
Dennoch wurde diese Maiennacht zu einem Start für mich.
Im Sommer des Jahres 1948 wurde ich Alex' Tanzpartnerin auf allen Events zu denen er antrat.
Und im Mai des Jahres 1953, genau fünf Jahre nach unserem sturzähnlichen Kennenlernen stürzten wir uns in die Ehe.
Wir tanzen noch immer zusammen, wenngleich auch nicht mehr Rock'n Roll.


Eingereicht am 15. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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