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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Phobisch

©Stefanie Dettmers

Sie werden mir nichts tun. Das kann ich mir tausendfach einreden und trotzdem habe ich vor den Biestern Angst. Ich weiß nicht einmal, was sie sind - Bienen, Wespen, sicher keine Hornissen, die sind wohl viel größer - aber sie wohnen hier auf unserem Balkon und klettern aus der riesigen, gebrochenen Mauerfuge zwischen unserem und dem Nachbarhaus. Letztes Jahr haben sie noch im Rahmen unseres Wohnzimmerfensters gelebt. Vielleicht ist er ihnen zu eng geworden und sie sind in die Fuge gezogen. Oder sie haben während ihres Winterschlafs gehört, wie wir planten, die Öffnungen im Fensterrahmen, die ihre Schlupflöcher waren, zuzuschmieren mit Silikon.
Ein dämlicher Therapieversuch ist das hier draußen die Biester auszusitzen.
Ich brauche bloß ihr Summen zu hören und gerate in Panik. Wenn die Nachbarn das sehen!
"Bleib sitzen! Die tun doch nichts!" Muttis kluger Rat.
Alles klar, soweit okay, aber sie schwirren hier herum und sie sind laut!
Ich hätte schon misstrauisch werden sollen, als wir einzogen: diese Reste auf dem Balkon an der Hauswand, die aussehen wie ein altes Wespennest … Aber wegen so was lehnt man doch keine Wohnung ab! Nein, dann schon eher, weil sie viel zu eng ist oder weil die Nachbarn nervig sind.
Die fliegenden Biester haben mir noch nie etwas getan - ich habe immer gesagt, ich wäre zu schnell für sie - und trotzdem habe ich diese scheiß Angst vor ihnen. Sie sehen nicht einmal besonders eklig aus, eigentlich ganz süß, so orange und pelzig.
Warum also wohnen die bei uns? Hier gibt's genug Wohnungen. Aber vielleicht nur einen Spalt? Schon wieder eine - soll das jetzt den ganzen Sommer so weiter gehen? Aufstehen, nach drinnen rennen, nachsehen, ob die Luft wieder rein ist.
Der kleine Junge, der unten vorm Nachbarhaus seinen Eltern hilft Land umzugraben, beobachtet meine Fluchtversuche schon geraume Zeit. Was sind das für Blicke? Seine Eltern sehen ja ganz normal aus, freundlich. Aber was graben die da eigentlich? Das Stück Land liegt vor ihrem Gartenzaun, gehört ihnen folglich gar nicht. Sie sägen die Wurzeln der Bäume durch, die dort einmal gewachsen sind. Den letzten haben sie gerade gestern erst gefällt.
Der ganze Boden scheint durchdrungen von Wurzelwerk.
Es werden unten immer mehr Kinder und immer häufiger drängen mich Bienen-Wespen vom Balkon. Da, das kleine Mädchen starrt auch schon herauf!
Ja, starrt nur, die komische Frau läuft vor Insekten weg!
Aber die Eltern sehen ganz normal aus.
Jede Bewegung aus den Augenwinkeln lässt mich zusammenzucken. Meine Haare, die Kordel meiner Kapuzenjacke, die der Wind bewegt. Wolken, Sonne, Wolken, ich glaube die Bienen machen mich kirre. Schon als kleines Mädchen bin ich vor ihnen weggelaufen und habe zugesehen wie die anderen gestochen wurden.
Immer nur die anderen. Ich war schneller, oder?
"Nein! Nein!", kreischen die Kinder vor dem Nachbarhaus. Auch sie sind schnell. Je mehr es geworden sind, desto schneller scheint sich der Boden zu öffnen.
Wenn ich die Bienen nur summen höre, ist es nicht ganz so schlimm, dann kann ich sitzen bleiben. Gut einen halben Meter von der Fuge entfernt, ich sollte meinen Mut bewundern! Die Kinder da unten sollten mal sehen, was ich hier aussitze! Stattdessen versammeln sie sich um das ausgehobene Areal. "Jetzt weggehen!" - "Einen Schritt zurück!" - "Nein, du kannst es nicht freilassen, ich tue das!"
Das Summen wird lauter, ich kann den Kindern kaum mehr zuhören. Und mit einem Mal liegt ein Geruch wie Verwesung in der Luft - die Bauern düngen sicher …
Es ist unglaublich, wie besessen die kleinen Bälger auf den Boden einschlagen! Ihre Hände durchtrennen das Wurzelgeflecht als bestünde es bloß aus dünnen Bindfäden. Komische Kinder, müssen neu zugezogen sein, habe ich sie hier schon einmal gesehen? Eines reißt an dem Trieb eines jungen Baumes, es zerrt den kleinen Stängel hin und her. Miststück!
Ich sehe bestimmt bescheuert, aus wie ich auf dem Balkon herumhusche um den summenden Viechern auszuweichen, durch die Brüstung kann man mich genau sehen. Überall auf dem Balkon ist dieses komische Zeug auf den Backsteinen!
Als hätte hier jemand einmal etwas sehr stümperhaft entfernt.
"Hör auf, Blödmann! Wenn du nicht vorsichtig bist, ist es kaputt!"
Die Rückstände geben den Backsteinen eine seltsame bläuliche Farbe, als ob dort etwas aufgesessen hätte, als ob der ganze Balkon einmal ihr Bau gewesen wäre. Das Summen? Das Summen wird lauter! Und immer mehr Wolken! Wenn es regnet werden die Viecher verschwinden und ich auch. Es riecht schon danach … nach Regen … Oder?
Nein! Die Kinder! Sie haben etwas angeschnitten! Die letzten Wurzeln schnellen zurück, der Vater versucht zu fliehen, aber die peitschenden Stränge fegen ihn zur Seite, begraben ihn unter uraltem Wurzelwerk. Der Wind nimmt zu, die Wolken werden dichter, es wird dunkel - alles treibt mich zur Balkontür.
Aber da sind die Bienen! Eine solide Front aus Bienen, sie starren mich an wie ein Mann. Es gibt keinen Fluchtweg mehr! Ein Sprung über die Balkonbrüstung wäre mein Tod. Sie summen, sie haben mir noch nie etwas getan, nie!
Meine Hände krampfen sich um das kühle Metall der Brüstung. Die Kinder stieren in die klaffende Wunde des aufgerissenen Bodens. Mit ihren Schaufeln schlagen sie einen bizarren Rhythmus. Da kommt etwas durch das Tor, das sie geöffnet haben. Einer dünnen Rauchsäule gleich kriechen Hände aus der Öffnung. Ein Tor, das versiegelt war, das die Natur mit Bäumen überwuchert hat, damit niemand es öffnet. Aber diese Kinder hatten es getan!
Etwas unsagbar Böses schiebt sich aus dem Boden und hinter mir summt es lauter, fordernd. Ich muss etwas tun, eigentlich will ich nach drinnen, aber wie kann ich das noch, jetzt, da sich draußen die Hölle auftut?
Etwas berührt mich - die Bienen! Es ist so dunkel, dass die dunklen Partien ihrer Leiber mit dem grauen Licht verschmelzen. Die Panik tut mir körperlich weh. Es gibt keinen Ausweg, sie sind so dicht hinter mir, nur der Sprung, der Sprung in den Tod!
Aber sie haben mir noch nie etwas getan! Alle anderen waren gestochen worden! Ich werde schneller sein. Ich springe. Die Kinder sehen zu mir auf.
Ein prächtiges Schauspiel, ihr Bälger?
Aber ich sterbe nicht, die Bienen sind plötzlich unter mir, ein strudelnder Kreis aus surrenden Leibern. Sie tragen mich empor. Wen die Bienen schon immer verschont haben, den lassen sie nicht sterben!
Die Stimmen der Kinder sind erregt. "Holt sie da runter! Das darf nicht passieren! Wir haben die Bienen doch vertrieben!"
Aber die Wespen nicht! Ich stehe auf meinem Wespenteppich und ich weiß, dass sie Tiere den Boden versiegeln können, wenn ich es ihnen befehle. Der Wind versucht sie auseinander zu treiben, ich halte sie zusammen, Kraft durchströmt mich, das Mauerwerk hinter mir glüht blau-violett, damit blende ich die Kinder.
Ihre Mutter! Wo kommt sie her? Warum habe ich nicht auf die Mutter geachtet?
Ihre Hände halten ein wirbelndes Windrad. Mit aller Macht schleudert sie es mir entgegen und ich bin zu entsetzt um es abzuwehren. Es durchdringt meine Schulter, reißt Fetzen aus meiner Haut auf dem Weg zurück zu seiner Meisterin.
Der Boden unter mir ist eine blutende Wunde, die eine Kreatur hervorwürgt, die nicht für diese Welt geschaffen ist, die alles vernichten wird, verbrennen, töten… Und die Mutter hebt die Hand, das Rad rast noch einmal auf mich zu.
"Helft mir!", kreische ich und diesmal sind die Wespen schneller. Eine Wand aus schwarz-gelben Leibern schießt vor mir auf. Die Zacken des Rades bohren sich hinein, verletzen einige der Tiere, aber durchdringen können sie sie nicht.
Ich lenke die Wespen über das Loch, die Frau versucht dem Ding zu helfen, die Kinder schlagen noch schneller ihren Rhythmus. So rufe ich das blau-violette Leuchten zu mir. Es glüht zwischen meinen Fingerkuppen als der Wespenteppich sich öffnet. Die Kreatur greift nach mir. Ich bündle das Licht, das Summen wird allmächtig und ich schleudere den blau-violetten Ball mit aller Kraft, die ich habe.
Kreischen löst sich aus den Kehlen der Kinder, die Mutter springt zurück, aber das Licht erreicht sie alle. Ich kanalisiere es in den Schlund des Bodens. Das Unding greift nach allem, dessen es habhaft werden kann, nach der Frau, den Kindern. In einem verzweifelten Versuch zu erstarken reißt es sie alle mit sich hinab, das Licht schleudert es zurück. Ihm zu entkommen ist nicht mehr möglich. Die Wespen sammeln sich dicht an dicht, sinken auf das Loch hinab wie ein Tuch, das der Wind trägt, sie verschmelzen zu einer Masse aus Erdreich und Wurzelwerk.
Ein Stück entfernt breche ich in die Knie. Vor mir entwinden sich Bäume dem Boden wachsen im Zeitraffertempo empor. Neun Kinder - neun Bäume. Jetzt versiegeln sie das Böse, das sie befreien wollten. Nun ist es vorbei.
Erst eine Stunde später erhebe ich mich von meinen schmerzenden Knien und die Leute auf der Straße hören auf mich anzustarren.
"Geht es Ihnen gut?"
Ich nickte, klopfe Erdreich von meinen Knien und schleppe mich zurück zur Wohnung, hinauf in den dritten Stock.
Ich habe immer noch Angst vor Wespen und ich bin auch noch immer schneller als sie. Aber ich weiß jetzt, warum wir hier wohnen sie und ich, in der engen Wohnung mit den nervenden Nachbarn. Und wen sie schon immer verschont haben, dem tun sie auch nichts.


Eingereicht am 15. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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