Er stand auf.
Er legte sich wieder hin.
Nach einer Weile überlegte er es sich anders, stand doch auf, suchte nach seiner Jacke.
Er wollte rausgehen.
Sein Magen meldete sich.
Dumpf erinnerte er sich, dass er hätte einkaufen gehen sollen.
Blick in den Kühlschrank.
Leere.
Er war geübt in Selbstdisziplin, er würde keine Mahlzeit brauchen.
Sex.
Er dachte oft und gerne an Sex, fast könnte man sagen, es bereitete ihm Freude, daran zu denken.
Er trat an das Fenster in der Küche.
Es zog, Altbau.
Durch das vergilbte Glas sah er den Regen auf dem Trottoir auftreffen.
Da huschte ein Regenschirm über die Strasse.
Weg war das erhaschte Bild der Bewegung.
Wer wohl unter diesem Regenschirm war? Ein Erwachsener? Vielleicht ein Kind?
Ein Kind vermutlich.
Bei der Schnelligkeit und dem Laufweg war davon auszugehen.
Er war Physiker gewesen.
Damals.
Damals in seinem behüteten Leben,
wo der Staubsauger noch hinter der Tür stand und die Tageszeitung neben dem Sofa lag.
Der Hund brachte sie.
Er hatte es sich abgewöhnt, sich für die Weltnachrichten zu interessieren.
Er hasste Literatur.
Tote Buchstaben.
Es fand sich kein einziges Buch in seiner 2-Zimmer-Wohnung im dritten Stock.
Er entdeckte eine halb abgestandene Flasche Bier.
Er trank.
Sein Name,
manchmal musste er ihn laut vorsagen, um ihn nicht zu vergessen.
Frank.
Frank und frei.
Welch Ironie.
Anfangs erwiderte er den Gruß des Briefträgers, wenn er ihn im Hausflur traf.
Dieses überflüssige Zeremoniell des Austausches von Höflichkeiten hatte er sich jetzt abgewöhnt.
Es war gleichgültig, unbedeutend, ob es passierte oder nicht.
Sein Schwarz-Weiß-Fernseher war schon seit einem Monat kaputt.
Man konnte sagen, bisher hatte er es nicht einmal bemerkt.
Gestern war ihm etwas passiert,
er wunderte sich, dass er das heute noch wusste.
Marie-Luise Kaschnitz.
Der Name war einfach da,
es war beim Aufwachen geschehen.
Er konnte sich keinen Reim daraus machen.
Müßig, darüber nachzudenken.
Er hatte den Plan, hinaus zu gehen, aufgegeben.
٭٭٭
Er stand auf.
Er wusste, er hatte einen Termin.
Er wusste nur nicht, welcher Wochentag heute war.
Mit schlurfendem Gang ging er in die Küche, zog die Küchenschublade auf, blätterte in seinem Terminkalender.
14h Cafe Brucknerbäck.
Jeden Mittwoch hatte er diesen Termin.
Er traf sich zu einem Kaffee.
Sie spielten Schach.
Sie spielten immer Schach.
3 Partien, damit es einen Verlierer gab.
Frühstück?
Brot gab es nicht.
Schluck Wasser.
Musste genügen.
Zwei Bilder hingen in seiner ansonsten schlichten Wohnung.
Eine Kopie von Munchs "The Scream"
und eine Kopie des Selbstporträt Dürers.
Nachdem er das benutzte Glas in die Spüle gestellt hatte, schlurfte er ins Bad, rasierte sich.
Er war penibel, was dieses morgendliche Zeremoniell betraf.
Er hatte seit langem die Tageszeitung abbestellt. Eines Tages wurde ihm aber irrtümlich ein Exemplar in seinen Briefkasten gesteckt.
Er benutzte Paketband, um den Briefkasten vor unliebsamer Post wie dieser dingfest zu machen.
Er trug sich auch eine Zeit lang mit dem Gedanken, den Nachbarshund zu vergiften, der jedes Mal freudig bellend sein Herrchen begrüßte.
Es kotzte ihn an.
Ein Telefon hatte er nicht.
Wozu auch?
Pünktlich um 13.30h verließ er das Haus.
Er war auf dem Weg zum Marktplatz, wo er seinen Schachkollegen treffen sollte.
An der Haltestelle Pestalozziallee wartete er an einer roten Ampel.
Die Fußgänger um ihn herum beachtete er nicht.
Punkt 13.58h kam er beim Cafe an, ging hinein, setzte sich an seinen gewohnten, hinteren Ecktisch.
Das Spiel war schon aufgebaut, sein Gegenüber hatte sich schon einen Kaffee bestellt.
Er nahm eine Tasse Tee und ein Stück Linzertorte.
Nicht, dass er sie wegen des Geschmacks rausgesucht hätte, die Bestellung war Bestandteil des Rituals.
Er begann mit der spanischen Eröffnung.
Kaum der Notiz wert, dass er mit dieser jedes seiner Schachspiele begann.
Er merkte bald, dass er nach dem bisherigen Schachverlauf Vorteile am Brett besaß.
Sein Läufer noch auf E4,
es überkam ihn ein leichtes Zittern der Hand, als er die Spielfigur zog.
Er kümmerte sich nicht weiter darum.
Es zog langsam heran.
Konzentration auf das Spiel,
was machte der Gegenüber?
Ah, den Bauern ein Feld vor, auf G4.
Pulsieren der Adern,
trockene Kehle,
stand der weiße Turm vorher nicht auf B6?
Zug des Läufers auf D7.
Hustenanfall.
Ziehen seines Taschentuches.
Die Dame auf D5.
Zielloses Umrühren im Tee.
Fahrige Bewegungen.
Konter mit dem Turm auf D8.
Was war auf einmal?
Was war los?
Ziehen der Dame auf B3 auf sicheres Terrain.
Da brach der Widerstand zusammen.
Aus war es.
Wie eine Welle schwappte es über ihn hinweg, durchflutet von den verdrängten Gefühlen, der Kopf zum Platzen gespannt, Kribbeln in Armen und Beinen.
Was war das?
Er begann die Kontrolle über sich zu verlieren.
- Nein, nein, nein -
Er schwitzte.
Flimmern vor den Augen.
Blut schoss ihm in den Kopf.
Er musste sich am Tisch festhalten.
Pochende, grelle Gefühlsfetzen durchzuckten sein Gehirn, Einen Stich versetzte es ihm, wie eine Faust in der Magengegend, Konzentration auf die Außenwelt verschlossen, Kampf mit sich selbst.
Er kannte es.
Das merkte er schon bei dem ersten Heranziehen, er wusste den Grund des Ausbruchs seiner mühsam unterdrückten Gefühle, Wieder und wieder holte es ihn ein.
Nein, er wollte es immer noch nicht wahrhaben.
Er hatte sich für dieses Leben entschieden, er floh.
In riesigen Lettern stand es vor seinem Gesicht.
Es war seine große Liebe gewesen.
Ja, sie war es.
Noch nie war es sich dessen sicher gewesen.
Bei diesem wunderbaren Geschöpf.
Ihren Namen, hatte er sich geschworen, würde er nie wieder laut aussprechen.
Er war kein ausbruchfreudiger, amerikanisierter Gefühlsmensch, beileibe nicht.
Aber er empfand tiefste Freude, wenn er sie sah.
Es war mehr als Sex.
Sex war nur das I-Tüpfelchen dieser Beziehung.
Er liebte sie.
Sie liebte ihn.
Es war ein unverkennbarer Fall von erwiderter Liebe.
Monate unbeschwerter Leichtigkeit verbrachten sie miteinander.
Traute Zweisamkeit.
Die Konventionen des Alltags, sie wurden spielend gemeistert.
Aufgenommen fühlte er sich.
Gebraucht.
Und dann passierte es.
Im Nachhinein konnte er es nicht mehr rekonstruieren, es fing mit Kleinigkeiten an.
Das wusste er noch.
Er war sich bei Anfang dieser Beziehung bewusst, er würde Fehler machen, Elefant im Porzellanladen, wie er sich damals ausdrückte.
Aber er verhedderte sich immer weiter,
brachte Sachen ins Spiel,
die sie nicht hören sollte,
mäkelte an ihr herum,
ging Egotrips.
Er redete es kaputt,
das zarte Pflänzchen der Liebe,
zertreten der vielen Worte.
Seitdem hatte er sich ein Schweigegelübde auferlegt.
Der Rest ist schnell erzählt.
Die Beziehung ging in die Brüche,
sie wollte die Trennung,
zog sich zurück,
er war nicht mehr Herr der Lage,
konnte nur noch reagieren statt agieren
und verlor dann endgültig den Faden.
Schachmatt.
Ab diesem Tag nach sechs Monaten glücklichster Zeit in seinem Leben begann es.
Er wollte wieder mir ihr zusammen sein,
die Zeit mit ihr genießen.
Ja, zurück, zurück.
Selbst auferlegt.
Sein mühsam aufgebautes Schneckenhaus.
Alle Dinge verbannt.
Und er hatte sich doch so bemüht.
٭٭٭
Er stand auf.
Welcher Wochentag war heute?