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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"

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Alles im Fluss

©Kai-Kevin Dietrich

Nun stehe ich schon wieder hier und erlebe den Sonnenaufgang. Freudig denke ich an gestern zurück, kurz vor Sonnenaufgang. Ich stand am Rande der Brücke und starrte in die aufgehende Sonne. Die Aussicht von hier war fantastisch. Die Sonne, die rot leuchtend am anderen Ende der Welt auftauchte und langsam ihr warmes Antlitz über die Welt verbreitete, hatte eine ganz eigene, wundervolle Magie. Ich kam oft hierher, jeden Morgen um genau zu sein. Am Abend war der Ausblick noch besser, aber ich weiß schon gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal am Abend bei der Brücke war.
Der Abend war für die Liebespaare und Romantiker reserviert, der Morgen für die Selbstmörder. Deshalb stand ich jeden Morgen auf dieser Brücke und starrte in die Sonne. Doch brachte ich es nie fertig zu springen. Jedes Mal, wenn ich am Abgrund stand, bildeten sich zwei konkurrierende Hälften in meinem Gehirn. Die eine war die emotionale Seite, die mir ständig zuflüsterte, wie befreiend es sein würde und dass ich die Ruhe verdient hätte. Sie beschrieb mir, wie man um mich trauern würde und dass ich nach meinem Tod mehr Annerkennung bekommen würde. Und wenn ich viel zu lange am Rand stand, dann war sie die Seite, die mich beschimpfte und mich einen Feigling nannte.
Meine logische Seite hingegen beschimpfte mich nie. Sie erklärte mir immer nur die Vorteile, die alle von meinem Tod hätten. Aber ich war ein Feigling und ich sprang nicht. Auch an diesem Tag nicht. Wenn ich auch nur halb der Mann gewesen wäre, der ich sein wollte, dann hätte ich keinen Grund gehabt, mich von der Brücke zu stürzen, aber ich hätte mich zumindest getraut, es zu tun. Und sei es nur, um der Welt zu zeigen, dass ich es tun konnte. So aber wartete ich den Sonnenaufgang ab und fuhr dann zurück zur Stadt.
Niemand erwartete mich und ich hatte nichts zu tun. Normalerweise ging ich um diese Zeit zu dem Zeitschriftenladen um die Ecke, um mir Zigaretten zu kaufen. An diesem Tag aber nicht. An diesem Tag hatte ich nicht genug Geld, um mir Zigaretten zu kaufen. Also ging ich zu Marias Imbisstube. Sie würde mir etwas Geld und ein Frühstück geben. Ich hatte Maria im Selbstmordforum kennen gelernt. So dumm es auch klingt, aber eine Zeitlang hatte es mir geholfen, Anderen von meinen Plänen zu erzählen, verstanden zu werden und Anteilnahme zu bekommen. Maria ging es damals wie mir. Sie hatte keinen Grund zu leben und nicht den Mut zu sterben. Aber bei ihr war es anders verlaufen. Sie hatte jemanden kennen gelernt und sie hatte geheiratet. Nicht, dass ich nicht verheiratet gewesen wäre, oder Kinder gehabt hätte. Nur dass ich meine Kinder nicht sah und meine Frau nichts mit mir zu tun haben wollte.
Wenn man einmal am Boden ist, geht es eben nur noch bergab. Das war eine Lektion, die ich lange nicht verstanden hatte, die mir das Leben aber jeden Tag erneut einprügelte.
Gedankenverloren betrat ich die Imbissstube. Maria stand hinter der Theke und lächelte. Ja, sie hatte gelernt, wieder zu lächeln. Ich versuchte es ihr gleich zu tun, scheiterte aber schon im Ansatz.
"Hallo Thomas", begrüßte sie mich.
Meinen wirklichen Namen hatte ich ihr nie verraten.
"Und wie geht es?"
Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen und griff nach den Zigaretten, die sie für mich bereithielt.
"Alles im Fluss." Antwortete ich.
Alles im Fluss. Das war schon eine komische Aussage. Für die meisten Menschen hätte sie etwas Positives bedeutet. Es hätte bedeutet, dass alles in Ordnung war und dass das Leben voran ging. Für mich aber bedeutete sie das Gegenteil. Alles im Fluss, und der Strom ging stetig bergab.
Maria verstand mich und drückte mir ein paar Scheine in die Hand. Ich nahm sie und steckte sie ohne hinzusehen ein. Wahrscheinlich war es wieder viel zu viel und ich würde ihr morgen die Hälfte zurückgeben. Aber sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil es ihr gut ging und mir nicht.
Ein kleines Mädchen saß am anderen Ende des Raumes und starrte mich an. Eine Zeitlang starrte ich zurück, doch ihr Wille war stärker. Ich senkte meinen Blick und zündete mir eine Zigarette an. Das Mädchen starrte mich noch immer an. Ich versuchte ihrem Blick zu entgehen, hatte aber keine Chance.
"Was ist?" Fragte ich unwirsch.
Sie sah mich noch eine Zeitlang an, dann kam sie zu mir rüber und setze sich an meinen Tisch.
"Rauchen gefährdet die Gesundheit."
Ich musste lachen. Ich hatte schon seit Jahren nicht mehr gelacht und es tat gut.
"Und wer bist du, dass du mir das sagst?"
Die Kleine starrte noch immer auf meine Zigarette, also drückte ich sie aus.
"Ich bin Sara und ich habe Krebs."
Der letzte Zug blieb mir im Hals stecken. Ich musste husten.
"Wie alt bist du?"
"Sieben."
"Und wo ist deine Mutter?"
"Keine Ahnung. Ist nicht so wichtig. Sie merkt ohnehin nicht, ob ich da bin."
Scheinbar gab es Menschen, denen es noch schlechter ging als mir. Ich lud die Kleine zu einem Eis ein und wir gingen in den Park. Die Sonne hatte sich mittlerweile erhoben und deutete einen herrlichen Tag an. Schließlich setzten wir uns auf eine Bank, um zu reden.
"Hast du keine Angst vor dem Tod?" Fragte ich die Kleine.
Sie schüttelte den Kopf.
"Ich kenne ihn nicht, wovor soll ich mich also fürchten?"
"Hast du denn keine Angst vor dem Unbekannten?"
Wieder schüttelte sie den Kopf.
"Wenn ich Angst vor dem Unbekannten hätte, dann säßen wir jetzt nicht hier und würden miteinander sprechen."
Sie war aufgeweckt, das gefiel mir.
"Und was glaubst du, was nach dem Tod mit dir passiert?"
"Ich werde zu einem Schmetterling."
"Zu einem Schmetterling?" Fragte ich verdutzt. "Warum ausgerechnet zu einem Schmetterling?"
Sie sah mich mit einem Gesicht an, das mir zeigte, wie dumm meine Frage war. Trotzdem bekam ich eine Antwort. "Schmetterlinge können fliegen." Sagte sie bestimmt. "Das ist doch ganz logisch. Sie sind so schön und sie fliegen den ganzen Tag herum, um die Welt zu verschönern. Deswegen werde ich nach meinem Tod ein Schmetterling."
Ich nickte zustimmend.
"Du entgehst dem alltäglichen Fluss." Raunte ich.
Sie verstand mich nicht und ich wollte es ihr nicht erklären. Wir standen auf und gingen weiter. Maria hatte mir wirklich viel zu viel Geld gegeben. Ich lud die Kleine noch in den Zoo ein und am Abend gingen wir ins Kino. Am Ende des Films blieben wir bis zum Schluss sitzen. Der Vorführer wollte den Saal schließen, also bat ich Sara aufzustehen, aber sie reagierte nicht. Zuerst dachte ich sie wäre eingeschlafen, aber als ich sie auch nach noch so festem Rütteln nicht wach bekam, wusste ich, was passiert war. Ich rief sofort den Notarzt. Kurz darauf befand ich mich im Wartesaal des Krankenhauses und rauchte eine Zigarette. Neben mir saß ein kleiner Junge und starrte mich an. Ich warf die Zigarette weg und er unterhielt sich wieder mit seiner Mutter. Es dauerte Stunden, bis endlich ein Arzt zu mir kam und mich zur Seite nahm. Er stellte mir allerlei Fragen zu Sara, die ich alle nicht beantworten konnte, dann wünschte er mir herzliches Beileid.
Ein Schmetterling flog durch den Wartesaal. In Gedanken flog ich mit und dachte an Sara. Sie hatte mir etwas gegeben, das ich nie vergessen würde. Die Kraft etwas zu tun, was ich schon zu lange vor mir her geschoben hatte. Ich verließ den Wartesaal und fuhr zur Brücke. Die Frau an der Rezeption fragte mich, ob alles in Ordnung sei. Ich lachte.
"Alles im Fluss!"


Eingereicht am 14. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise, bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.


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