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Kurzgeschichtenwettbewerb "Schlüsselerlebnis"
"Schrecklich" nette Gäste - Talkshow des Grauens
©C. Klinger
Ich weiß selbst nicht mehr, was mich dazu bewogen hat, bei dieser unseligen Talkshow mitzumachen. Und wenn ich unselig sage, dann weiß ich, wovon ich spreche. Wahrlich, das weiß ich wirklich! Aber es wird besser sein, wenn ich von vorne zu erzählen beginne:
Es war Samstagnacht und es war ein ziemlich langweiliger Abend. Ich saß schon seit Stunden fade vor der Glotze. Während ich durch die verschiedenen Kanäle zappte, trank ich eine Flasche Bier nach der anderen. Ich hatte mir auch schon mit mehreren Joints das Hirn voll gedröhnt. So lungerte ich, die Füße am Tisch hoch gelagert, vor der Mattscheibe während ich mit meinem rechten Daumen auf der über das Tastenfeld der Fernbedienung switchte. Die Senderlandschaft war mannigfaltig. Musikvideos gefolgt von Actionszenen
eines Kriegsfilms, animierte Zeichentrickfiguren ausgewechselt von kopulierenden Körpern in einem Pornofilm. All das prasselte auf mich hernieder. Dabei wechselten die Eindrücke stetig im Rhythmus meines Daumens. Ich war von der Scheinwelt des Fernsehens eingelullt und die Grenze zur Realität verschwamm immer mehr. So verbrachte ich, wie gesagt, schon den ganzen Abend. Es war kurz vor drei. Mitten in der Nacht.
Ich kann mich eigentlich nicht mehr so genau erinnern, was es war, das mich veranlasst hat, plötzlich bei dieser Talkshow hängen zu bleiben. Vielleicht war es die illustre Erscheinung der Gäste oder es hat einfach nur die Fernbedienung versagt. Jedenfalls war ich bei einer dieser unzähligen Quatschsendungen gelandet, die den Äther verseuchen und die Leute verblöden. Normalerweise meide ich ja derartige Sendungen, die sich um so bewegende Themen drehen, wie zu lang geratene Nasen, zu kurz geratene Penisse oder
missratene Freunde und Freundinnen. Allesamt Themen, die mich genauso brennend interessieren wie die Diskussion über Fragen, ob Pflanzen denken oder Läuse sich miteinander unterhalten können.
Am ehesten wird es wohl der Titel gewesen sein. "Lauter schrecklich nette Gäste" war am Insert zu lesen, das regelmäßig am unteren Rand des Bildschirm eingeblendet wurde. Irgendwie erinnerte mich der Titel an eine achtziger Sitcom, die ich wegen der Dämlichkeit des Familienvaters und seiner hübschen, aber ebenso wenig schlauen Tochter gerne sah. Gut, ich war schon ein wenig bekifft und auch der Alkohol mag mir vielleicht zugesetzt haben, aber ich muss sagen, die Leute, die dort im Studio saßen, wirkten
alle der Welt entrückt. Damit meine ich nicht nur die Gäste auf der Bühne, sondern auch das restliche Auditorium, das zwischendurch zu den Ansagen des Moderators applaudierte, was aber weniger dem gewohnten Klang eines Händeklatschens entsprach, sondern mehr an hölzernes Klappern erinnerte. Das faszinierte mich anscheinend so, dass ich begann, auch den geführten Dialogen zu lauschen.
"Sie meinen also, Corinna, der sexuelle Missbrauch Ihres Stiefvaters könnte ausschlaggebend dafür gewesen sein, dass alle Ihre Beziehungen gescheitert sind?", fragte der Moderator mit verständnisvoller Miene. Gebannt hatten meine Augen jetzt das Gesicht der jungen Frau erfasst, deren Gesicht von der Kamera in Großaufnahme gebracht wurde. In der Perspektive kamen ihre großflächigen Narben im Gesicht voll zur Geltung. Ich erschrak ein wenig, ließ aber nicht von diesem Bild ab. Sie schluckte, bevor sie
mit zaghafter Stimme antwortete:
"Ich konnte nie Vertrauen zu einem Mann aufbauen. Ich war immer misstrauisch und hatte Angst, dass ich wieder ausgenutzt oder verletzt würde."
Auch wenn es gemein war, musste ich mich bei dem Anblick ihrer entstellten Gesichtszüge doch fragen, welcher Mann überhaupt Interesse für so eine Frau haben konnte, ich meine in sexueller Hinsicht. Da blieben eigentlich nur Perverse übrig und wer konnte schon einem Perversen trauen? So betrachtet war es kein Wunder, dass sie Probleme mit ihren Liebhabern hatte.
"Nun weiß ich aber, dass es nicht an mir liegt. Ich habe ein ganz einfaches Patentrezept entwickelt: Bevor ein Mann mich verletzen kann, verletze ich ihn. Wichtig ist mir nur, dass kein Mann eine Beziehung zu mir überdauert."
Diese letzte Aussage hatte ich nicht ganz verstanden. Auch nicht, warum sie dabei so kryptisch grinste.
"Gut, darauf werden wir später noch zu sprechen kommen", war nun wieder das Wort beim Moderator. "Nun möchte ich Ihnen den Rest der Runde vorstellen. Zuvor aber ein kurze Werbeunterbrechung."
Diesen Moment nutzte ich, um meine Blase zu entleeren. Nachdem ich mir auf diese Art Erleichterung verschafft hatte, führte mein nächster Weg zum Kühlschrank, wo ich für Biernachschub sorgte. Ich kehrte gerade rechtzeitig zum Fernseher zurück, denn das Publikum klackerte zur Begrüßung der neu eröffneten Gesprächsrunde. Der Gastgeber der Runde betrat wieder die Bühne und stellte sich vor die Sofas, auf denen seine Studiogäste still dasaßen. Erst jetzt fiel mir auf, dass von diesem Fernsehstudio eine eigenartige
Atmosphäre ausging, düster, aber dennoch nicht beklemmend. Überall brannten Kerzenleuchter. Der rote Plüschstoff der Sofas schimmerte im Flackern der Flammen, die Schatten auf die schweren, dunklen Samtvorhänge warfen. Die Ausstattung wirkte antiquiert und ein wenig verstaubt. Sie entsprach gar nicht dem kühlen, von minimalistischen, klaren Formen getragenen Design des neuen Jahrtausends, das man sonst von Fernsehanstalten gewohnt war. Genauso gut hätte sie auch zu einem Beerdigungsinstitut gepasst oder von eben
einem solchen stammen können.
"Unser heutiges Thema dreht sich wieder einmal um Existenzängste und wie wir damit umgehen können. Sie werden sehen, jeder meiner heutigen Gäste hat auf seine Art gelernt, mit seinem Problem umzugehen. Wenn auch Sie ein Problem mit Ihrer Existenz haben, rufen Sie uns unter folgender Nummer an. Sie haben dann vielleicht die besondere Chance live mit uns zu plaudern."
Der Moderator hielt ein Mobiltelefon in die Kamera, während am unteren Rand des Bildschirms eine Telefonnummer eingeblendet wurde, die über den Bildschirm lief. Ich studierte die Ziffern am Fernseher. Solch eine Vorwahl hatte ich noch nie gesehen. Es war auch kein internationaler Code vorangestellt, also war eine Auslandsnummer unwahrscheinlich. Nicht, dass ich alle Vorwahlen im Kopf gehabt hätte. Nein, das nicht. Aber man entwickelt doch ein Gespür dafür, welche Nummern existent sein können und welche nicht.
So viele Sterne am Anfang einer Nummer gab es nicht. Dessen war ich mir sicher. Selbst wenn es sich um einen neuen Diensteanbieter gehandelt hätte. Dann hätte er halt irgendeine neue Vorwahl, einen speziellen Nummercode gehabt, aber sicher nicht so eine Kombination, die nur aus Sternen und Nullen bestand.
Jetzt kam leider der Punkt, wo ich meine Neugier nicht beherrschen konnte. Ich wollte es genau wissen. Musste es wissen. Also griff ich neben mich, wo mein Telefon abgestellt war und wählte die Nummer. Ich hatte recht gehabt. Es kam keine Verbindung zustande. Als ich aber die Anzeige meines LCD Displays mit der Laufschrift am Bildschirm verglich, bemerkte ich, dass ich mich verwählt hatte. Da ich sonst keine Ruhe gefunden hätte, startete ich einen neuen Versuch. Diesmal wählte ich mit voller Aufmerksamkeit und
langsamer. Wider Erwarten bekam ich nach einigen Sekunden der Stille tatsächlich ein Freizeichen. Im nächsten Moment zog der Moderator sein Mobiltelefon aus der Tasche und sagte "Hallo" in Telefon und Kamera, der er sich zugewendet hatte. Ich hörte seine Stimme über die Lautsprecher des Fernsehers und den Hörer meines Telefons.
"Mit wem spreche ich?" fragte er.
"Karl", gab ich verdutzt zur Antwort. Auch meine Stimme war über das Fernsehen zu hören. Ich war auf Sendung!
"Schön, dass Sie anrufen Karl. Sie haben Glück! Sie sind der erste in der Leitung. Wollen Sie sich zu uns gesellen und ein wenig mit uns plaudern?"
"G.. g.. gern", antwortete ich immer noch zögernd, da ich nicht fassen konnte, live auf Sendung zu sein, ebenso wenig wie ich fassen konnte, überhaupt bei dieser Nummer angerufen zu haben. Es war mir auch rätselhaft, wie ich mich über die Telefonleitung überhaupt an der Diskussion beteiligen sollte. Ich stellte mich jedenfalls auf ein längeres Telefonat ein, wobei ich mich fragte, ob ich denn nun zurückgerufen würde oder die Kosten dafür selbst würde tragen müssen. Doch der Moderator lächelte mit seinen
vergilbten Zähnen in die Kamera, steckte sein Handy wieder weg und sagte jetzt: "Das ist schön! Dann freuen wir uns, Sie gleich hier bei uns willkommen zu heißen."
"Warten Sie!" rief ich entrüstet in den Telefonhörer, "wie soll denn das funktionieren?" doch es war bereits zu spät. Bevor ich die Frage zu Ende ausgesprochen hatte, läutete es an meiner Wohnungstüre. Mein Puls beschleunigte. Ich hatte das Gefühl Opfer eines skurrilen Drehbuches geworden zu sein. Der Regisseur trieb nun schlechte Scherze mit mir. Anders konnte ich mir das alles nicht erklären. Es läutete abermals an der Türe. Ich erhob mich von meinem Platz. Dabei riskierte ich noch einen
letzten Blick auf die Flimmerkiste. Der Moderator schien die gesamte Zeit über mein Tun zu beobachten. Dann sagte er: "Beeilen Sie sich, wir warten auf Sie!"
Ich stürmte zur Türe. Dabei fragte ich mich, wer das um diese Zeit sein könnte. Ich betrachtete meine Armbanduhr. Deren Zeiger standen jetzt auf kurz nach drei. Ich wunderte mich, da nach meinem Gefühl doch schon mindestens wieder eine Stunde vergangen sein mochte, seit ich das letzte Mal die Uhr betrachtet hatte. Jetzt war ungeduldiges Klopfen an der Tür zu vernehmen. Bevor ich die Türe öffnete, nahm ich eine volle Glasflasche, was es für eine war, weiß ich jetzt nicht mehr, und verbarg sie hinter meinem Rücken.
Damit, so war mein Plan, würde ich einem ungebeten Eindringling eins über den Schädel ziehen und ihn außer Gefecht setzen können. Dann öffnete ich mit einem leicht mulmigen Gefühl. Vor mir stand ein mir fremder Mann in dunklem Anzug, den Kragen seines Übermantels aufgestellt. Einzig sein fahles Gesicht stach ein wenig aus dem Dunkel seiner Kleidung hervor.
"Sie wünschen?" fragte ich den Fremden.
"Ich soll Sie abholen", gab er trocken zur Antwort. Beim Sprechen verzog er keine Miene. Seine Augen schauten nur starr in die Leere. Die Stimme war ruhig, auch wenn sie nur wenig menschlich klang.
"Was! Um diese Zeit?" empörte ich mich. "Das soll wohl ein Scherz sein?"
"Nein! Kommen Sie! Man wartet auf Sie!" drängte er weiterhin.
Ich weiß nicht, ob ich es schon erwähnt habe, aber ich habe bis heute keine Erklärung, warum ich mich darauf eingelassen habe, noch dazu, wo mir doch solche Sendungen wirklich gegen den Strich gehen. Aber leichtsinnig, wie ich war, bin ich dem Mann in seiner schwarzen Kleidung gefolgt. Auf der Straße erwartete uns eine dunkle Stretchlimousine. Mein finsterer Begleiter öffnete mit seinen Handschuhen - dass diese ebenfalls Rabennachtschwarz waren, brauche ich wohl nicht zu erwähnen - die Türe.
"Hören Sie", sagte ich zu ihm, "das ist ja nett gemeint, aber bis wir beim Studio sind, ist die Sendezeit doch längst um." Er antwortete jedoch nicht, sondern deutete mir, einzusteigen.
Zögerlich setzte ich einen Fuß in das lange Auto. Dann stieg ich aber letztlich doch ein. Ich dachte mir, selbst wenn es mit dem Auftritt nichts werden sollte, würde ich die nächtliche Fahrt durch die Stadt in dem Luxusschlitten genießen. Doch kaum, dass ich auf der Lederbank Platz genommen hatte, wurde schon die Türe auf der anderen Seite aufgerissen und ein Kopf lugte in den Fonds des Wagens.
"Kommen Sie! Sie müssen sich beeilen. So viel Zeit haben wir nicht!"
Ich betrachtete ungläubig den Mann, der hektisch mit seinen Händen vor mit umher fuchtelte und offenbar hoffte, mich oder meine Bewegungen beschleunigen zu können. Warum sollte ich aussteigen, nachdem ich gerade erst eingestiegen war? Wie gesagt, ich konnte es zu diesem Zeitpunkt nicht ausschließen, unfreiwillig Held eines schlechten Films geworden zu sein. So betrachtet, musste ich mit allem rechnen. Da ich, wie ich glaube erwähnt zu haben, ein sehr neugieriger Mensch bin, dachte ich mir, was solls? Jetzt
hatte ich mich schon so weit auf ein Abenteuer eingelassen, also warum sollte ich nicht aussteigen? Jetzt fiel mir auf, dass mein Begleiter von vorhin, der mich zu Hause abgeholt hatte, verschwunden war und blieb. Also stieg ich aus dem Auto, um meinem neuen Begleiter - der sich unter uns gesagt optisch nicht sonderlich stark von der anderen dunkel gekleideten Gestalt von vorhin unterschied - zu folgen. Als ich mich umsah, stellte ich fest, dass sich meine Straße ganz schön verändert hatte. Um mich herum waren
Gebäude, die wirklich wie ein Filmstudio aussahen. He, was für'n Stoff, dachte ich. Das Zeug, das ich mir am Abend reingezogen hatte, muss wohl mein Zeitgefühl völlig über den Haufen geworfen haben, jedenfalls hatte ich nichts von der Autofahrt mitbekommen. Auch die Uhrzeit hatte sich zum letzten Mal nicht um eine Minute verändert. Es war immer noch fünf nach drei. Das Ganze wurde mir immer unerklärlicher.
"Wo sind wir?" fragte ich den Typen, dem ich immer noch bedingungslos durch den Dschungel unterschiedlich drapierter Requisiten, halbdunkler Gänge und leerer Studioräume folgte.
"In den Fernsehstudios von >>Nightmare@TV<<.">
Albtraum TV fand ich gut. Das passte für die Leute, die nachts nicht schlafen konnten und sich zur Beruhigung solche Quasselsendungen ansahen. Plötzlich - nun war auch dieser seltsame Begleiter verschwunden - stand ich vor einem Vorhang. Ich lupfte ihn ein wenig zur Seite, als er sich urplötzlich zu den Klängen einer Fanfare von selbst öffnete. Auf einmal war ich auf der Bühne und stand dem Moderator aus der Sendung, die ich eben noch zu Hause, bequem vom Lehnsessel aus verfolgt hatte, gegenüber.
"Karl! Wie schön, dass Sie es so schnell zu uns geschafft haben!" Er kam auf mich zu und streckte mir seine Hand entgegen. Bevor ich sie fassen konnte, um sie zu schütteln hatte er sie aber auch schon wieder weggezogen gehabt. Er klopfte mir amikal auf die Schulter. Dabei kam mir der Gestank seines braunen Cordanzuges in die Nase. Der Stoff verbreitete einen unangenehmen Duft von alten Mottenkugeln, so, als ob er Jahrelang in einem Kasten vermodert wäre. "Willkommen in unserer Familie, mein Flotter",
setzte er seine Begrüßung fort und führte mich zu einem leeren Fauteuil, auf dem ich Platz nahm.
Ich erwiderte: "Die Schnelligkeit liegt wohl auf Ihrer Seite. Ich weiß nicht, wie ich das so schnell geschafft haben soll. Das ist sicher eine Stunde her, seit wir telefoniert haben."
"Immer zu einem Scherz aufgelegt, unser junger Freund!", machte sich der schmierige Präsentator, der mir ob seiner strähnigen, dünnen Haare am Hinterkopf immer unsympathischer wurde, über mich lustig. Das Publikum johlte vor Freude und begann wieder mit seinen Fingern zu klackern, was in unmittelbarer Nähe zu den Leuten unangenehme Laute produzierte und gar nicht mehr faszinierend klang. Der Moderator beugte sich über meine Schulter und flüsterte mir ins Ohr, dass eben erst die Werbepause vorüber wäre.
Wenn der Kerl nur nicht so einen unangenehmen Geruch verbreitet hätte. Was der Alkohol und das Dope bislang nicht geschafft hatte: Er hatte es geschafft. Mir war schlecht. Also sank ich in meinen Sessel und lauschte ganz still der Handlung, die um mich herum ablief. Ich muss ganz grün im Gesicht gewesen sein, als ich so andächtig und mucksmäuschenstill da gesessen hatte.
"Kommen wir zu Ihnen Herwig! Erzählen Sie uns ein wenig von Ihrem Problem."
"Mittlerweile kann ich wieder darüber reden", folgte Herwig umgehend der Aufforderung des Moderators. "Aber es hat eine Zeit gegeben, da ist mir das nicht leicht gefallen."
"Was ist Ihr Problem denn genau?"
Ich beobachtete Herwig, wie er nervös auf der Sitzfläche seines Sessels umherrutschte. Na, du Kerl, dachte ich mir, so leicht fällt es dir nun auch wieder nicht.
"Ich stehe auf kleine Mädchen", kam das Bekenntnis zögerlich über Herwigs Lippen, während er langsam seinen Kopf senkte und den Blick auf den Boden vor sich richtete. Dabei fiel mir auf, wie sein Schädel hinten seltsam verformt war, so als ob der Knochen verkümmert wäre oder ein Teil davon fehlte.
"Das ist aber noch nicht alles", setzte Herwig sein Outing fort. "Ich vergehe mich an ihnen und danach bringe ich sie um!"
Jetzt war es sogar für meine Begriffe zu viel. Ich war entsetzt. Nein, entsetzt war nicht das richtige Wort. Ich war schockiert! Da gesteht doch so ein Kerl im Fernsehen vor laufender Kamera, dass er kleine Kinder killt und niemand springt auf und verprügelt das Schwein. Niemand gab seiner Entrüstung Ausdruck. Zumindest ein Pfeifen oder ein Pfui hätte ich erwartet. Aber nichts dergleichen.
Stattdessen mischte sich der Moderator mit mild tönender Stimme, die an einen Seelsorger erinnerte, ein: "Aber auch Sie haben die Lösung gefunden?"
"Ja, oder sagen wir besser die Erlösung."
Jetzt ging doch ein leises Raunen durch die Menge. Aber als ich in die Reihen des Publikums schaute, blickte ich nur in erwartungsvolle Gesichter, nirgendwo war Ablehnung oder Empörung zu erkennen.
"Und nun zu Ihnen Sylvia. Wie sieht es bei Ihnen aus?" Der Moderator wandte sich der letzten Person außer mir, die auf der Bühne saß, zu.
Die Frau, konnte gut sein, dass sie auf Ende dreißig zuging, war eine aparte Erscheinung. Anders als die anderen beiden, die auf mich wirkten, als wären sie wie der Moderator gerade der Mottenkiste entstiegen, war sie beinahe eine rassige Schönheit. Sie trug feuerrotes, langes Haar, das ihr schmales, bleiches Gesicht noch besser zur Geltung brachte. Irgendwie hübsch halt. Sie schien auch keine Scheu zu haben, vor Publikum ihr Inneres hervor zu kehren. Ohne eine Pause wie die anderen zu machen, erzählte sie frei
von der Leber weg: "Ich war unsterblich in meinen Bruder verliebt. Ich träumte vom ewigen Glück, wollte mit ihm Kinder haben. Wir sollten die glücklichste Familie auf der Welt sein."
"Das hat aber nicht funktioniert, oder?"
"Nein, leider nicht. In unserer Kindheit war es noch einfach. Da konnte ich mich an ihn drücken, so oft ich wollte. Das hat er noch genossen. Aber mit der Pubertät war das dann vorbei. Er verweigerte sich mir körperlich, so oft ich auch versuchte, ihn zu verführen. Ich habe unzählige Versuche unternommen. Alle erfolglos."
"Was ist dann passiert?"
"Irgendwann bin ich drauf gekommen, dass mein Traum nicht in Erfüllung gehen wird."
Die Beichte dieser Rassefrau war zwar auch nicht unbedingt die Form von Lebenserfahrung, auf die ich unbedingt Bock hatte, aber im Vergleich zu dem perversen Schwein von Herwig fast schon wieder angenehm.
Der Moderator bohrte weiter mit seinen Fragen: "Konnten Sie sich damit abfinden?"
"Nein! Also habe ich meinen Liebling umgebracht, mit der Säge zerstückelt und dann Stück für Stück verspeist. So wurde er wenigstens für immer ein Teil von mir."
"Das ist also die Bedeutung von >>Ich habe dich zum fressen gern?<<", scherzte der geschmacklose Moderator, während sich mein Magen umdrehte und ich fast auf den Studioboden gekotzt hätte. Das Publikum hingegen schien seinen Spaß zu finden und johlte laut vor Begeisterung.>
"Das ist jetzt aber wirklich zu viel!", brüllte ich los. "Ihr seid doch alle Ungeheuer!"
Ich war außer mir vor Wut und Ekel. Erst jetzt merkte ich, dass das Publikum verstummt war und hunderte Augenpaare mich aus ihren leeren, regungslosen Gesichtern anstarrten. Dabei funkelten ihre aufgerissenen Augen, die beinahe aus ihren Höhlen herauskullerten, wütend. Der Moderator kam mit überlegenem Lächeln langsam auf mich zu. Wie ich ihn für dieses hämische Grinsen hasste! Meine Übelkeit war Gott sei Dank gewichen. Dafür machte sich nun Panik in mir breit. Ich verwünschte abermals den Moment, wo ich
vorhin zum Telefonhörer gegriffen hatte. Vorhin? Es war immer noch fünf nach drei! Meine Uhr musste sich verabschiedet haben. Mein Zeitgefühl betrog mich auch schon den ganzen Abend. Die wenigen Augenblicke, die es dauerte, bis der Moderator meinen Sessel erreicht hatte, kamen mir wie eine Ewigkeit vor. Dann holte er zum Todesstoß aus: "Karl! Was ist eigentlich Ihr Problem? Wir wollten doch heute Abend auch noch über Sie reden. Ich nehme an, Sie wollten sich diesbezüglich zu Wort melden? Also, was ist Ihr
Problem?"
Ich sprang von meinem Platz auf und schrie in die Menge: "Gemessen mit Euch Wahnsinnigen, habe ich doch überhaupt keine Probleme! Wenn ich Euch zuhöre, dann überkommt mich Abscheu! Ein perverser Kindsmörder, eine Männerhasserin und eine Schwester, die ihren Bruder auffrisst. Und das alles live im Fernsehen. Mir fehlen wirklich die Worte."
Vor Aufregung war ich richtig außer Atem gekommen. Ich musste keuchen und der Schweiß stand mir auf der Stirn. Das Licht der Scheinwerfer brannte zusätzlich unbarmherzig auf mich nieder.
"Karl, echauffieren Sie sich doch nicht so!", wollte mich der Moderator beruhigen. "Außerdem gilt die Regel, dass Sie zunächst von sich erzählen müssen. Die Geschichten der anderen haben wir ja schon gehört. Auf die kommen wir zurück, wenn jeder von ihnen uns seine Lösung zu seinem speziellen Problem schildert."
"Aber für deren Probleme gibt es doch keine Lösung!", schrie ich verzweifelt. "Für die kommt doch sowieso alles zu spät. Die sind doch sowieso schon alle verdammt und werden in der Hölle schmoren."
Jetzt fasste mich Herwig, der ebenfalls seinen Platz verlassen hatte, am Arm. Er packte so fest zu, dass mir vor Schmerzen fast die Tränen kamen. Mir war zu diesem Zeitpunkt ohnedies nach Heulen zumute. Er herrschte mich an: "Jetzt renk dich aber wieder ein! Das kommt doch erst am Schluss. Zuerst sollen wir doch über die Bewältigung unserer Sorgen reden."
Ich befreite mich aus seiner Umklammerung und konterte: "Für dein Problem gibt es nur eine Lösung, du sadistisches Schwein! Du verdienst ja nicht zu leben. Ihr alle verdient es nicht zu leben."
Auch der Moderator stand jetzt neben uns und lachte herzlich. Dann sagte er: "Eben mein Freund. Jetzt kommen wir doch langsam wieder zum Thema des heutigen Abends zurück." Er klopfte mir fast freundschaftlich auf die Schulter. "Darum geht es doch: Der Selbstmord als Seelenreinigung. Nur mit dem Freitod kommen wir über all unsere Probleme hinweg. Darüber wollten wir uns austauschen!"
Mit blankem Entsetzen starrte ich in die Runde. Ich betrachtete die Zombies, die mich umgaben: Herwig, der demonstrativ jenen Teil des Schädels weg klappte, wo er sich die Kugel ins Hirn gejagt hatte, Corinna (die keine Männerhasserin, sondern Männermörderin war), aus deren blutenden Narben nun die Glassplitter hervortraten, die sie beim Sprung auf das Glasvordach einer Shoppingmall aus luftiger Höhe zerschnitten hatten, und Sylvia. Von Sylvia möchte ich am liebsten gar nichts erzählen. Was gäbe ich, könnte ich
diesen grauenhaften Anblick doch nur vergessen: Überall aus ihrem Körper beulten sich die Gliedmaßen ihres Bruders aus. Langsam kamen sie durch die Haut hindurch. Ich konnte Finger erkennen, die aus dem Kopf wuchsen, Zehen, die plötzlich aus dem Bauch ragten, seine Knie, die am Rücken einen Buckel formten. Sie hatte ihren Bruder vergiftet und sich mit dem Genuss des vergifteten Körpers selbst getötet.
Damit war der Höhepunkt der Show erreicht. Das Publikum applaudierte ekstatisch. Das Geklackere wurde immer eindringlicher. Jetzt wurde mir auch bewusst, wieso sich das Klatschen so eigenartig anhörte. Die Haut hing nur mehr in Fetzen an den knöchernen Fingern hinab. Dadurch prallten immer nur Knochen aufeinander. Meine Gedanken drehten sich nur mehr um Flucht. Wie sollte ich aber aus diesem verdammten Fernsehstudio nur hinaus kommen? Ich war von Herwig, Sylvia, Corinna und dem Teufelsmoderator umringt. Hinter
mir waren die Kameras und ein Haufen an Fernsehtechnikern, die eine Barriere bildeten.
"Was ist Ihr Problem, Karl?", insistierte der Moderator mit stechendem Blick.
"Dass ich im Gegensatz zu euch Scheißkerlen lebe!", brüllte ich ihm in sein fauliges Gesicht, während ich einen großen Satz nach vorne machte.
"Was!", schrie er jetzt, nicht minder entsetzt. Sofort war ein Techniker zur Stelle, den er lautstark zur Schnecke machte, so dass auch ich noch etwas davon hörte: "Ihr Idioten habt irrtümlich wieder eine terrestrische Frequenz erwischt. Wer weiß, wie viele Menschen heute wieder zugesehen haben!"
"Aber Boss, das ist nicht so schlimm", rechtfertigte sich der Techniker, "wir finden sie. Wie das letzte Mal."
Mir war klar, dass man mir an die Wäsche wollte. Ich überwand meine Abscheu und begann ins Publikum zu springen. Ich lief einfach über die Zombies hinweg zum Ausgang. Die Knochen der Untoten knackten und brachen unter meinen Schuhen wie alte Zweige im Wald. Sie kreischten nur schrill, während immer mehr Stimmen von der Bühne riefen, man solle mich doch endlich aufhalten. Aber ich ließ mich nicht aufhalten. Nicht einmal von den Wachmännern am Ausgang, die versuchten, mich zu packen. Ich war so schnell, dass ihre
Arme, die mich an der Schulter ergriffen hatten, aus ihren morschen Schultergelenken gerissen wurden. Als ich endlich den Gang erreicht hatte, konnte ich diese grausigen Relikte aus dem Studio endlich abstreifen. Ich rannte um mein Leben und hörte nur, wie das Stimmengewirr sich immer weiter entfernte und leiser wurde, bis ich nichts mehr hören konnte. Dann langte ich endlich beim Ausgang an. Die Türe war verschlossen. Jetzt hörte ich wieder Stimmen und Schritte, die näher kamen. In Panik lief ich weiter, bis
ich vor einer Toilettentüre stand. Mein erster Gedanke war natürlich mich dort zu verstecken, also lief ich hinein. Zu meinem Glück stellte ich fest, dass dort ein großes Glasfenster war, das direkt auf die Straße führte. Ich hielt die Hände schützend vor mein Gesicht, nahm einen großen Anlauf und sprang.
Ich erwachte, als die ersten Sonnenstrahlen mich in der Nase kitzelten. Ich lag in einem kleinen Hinterhof unweit meines Wohnhauses, wie immer ich dort hingekommen sein mag. Alles um mich herum wirkte normal. Nach meiner Armbanduhr war es kurz vor sechs. Es waren kaum Menschen auf der Straße. Ein Jogger rannte an mir vorbei, ein Mann ging Zeitung lesend an mir vorüber, während sein Hund ständig versuchte, eine Stelle nach der anderen mit seinen Duftstoffen zu markieren. Ich war Gott sei Dank aus diesem Albtraum
erwacht. Doch dann entdeckte ich die Schnittwunden an meinen Händen, die immer noch leicht bluteten. Ich zog einen kleinen Glassplitter aus einer Fleischwunde am Handrücken. Das brannte! Und wie das brannte! Das war zu real, als dass ich mir das hätte einbilden können. Ich war also wirklich im Reich der Toten gewesen. Ich hatte hinter die Kulissen der Unterhaltungsindustrie der Verstorbenen geblickt. Meine eigene Lebenszeit hatte für einen Moment aufgehört zu laufen, als ich in die andere Welt hinübergegangen
war. Ich fragte mich, wie ich die Rückkehr geschafft hatte. Aber vielleicht lag es daran, dass eben meine Zeit noch nicht abgelaufen war, ich hierher gehörte und nicht dorthin.
Trotzdem würden sie mich suchen und ausschalten wollen, weil ich ihr Geheimnis entdeckt hatte. Ich blickte nervös um mich. Vielleicht waren sie schon hier, hatten mich bereits gefunden. Ich sprang auf und rannte zu meiner Wohnung. Dort konnte ich aber nicht lange bleiben. Schließlich kannten sie meine Adresse. Ich wechselte nur schnell meine Kleidung und versorgte meine Wunden notdürftig. Dann machte ich mich auf den Weg zur Polizei. Jemand musste mit der Wahrheit konfrontiert werden. Ich würde ihnen alles erzählen
und mich dann in Polizeischutz begeben.
So, jetzt dürfte ich wenigstens in Sicherheit sein. Man hat wirklich darauf geschaut, dass man mich möglichst gut von der Außenwelt abschirmt. Mein Zimmer hat keine Fenster, die Gänge sind von verschiedenen Gittern abgesichert und meine Tür ist ständig abgesperrt. Mein Aufenthalt war eigentlich schnell bewerkstelligt. Ich habe der Polizei meine Story erzählt und es hat nicht lange gedauert, bis mich ein Spezialfahrzeug abgeholt hat. Jetzt bin ich auch nur mehr ganz selten nervös, wenn ich ein Kratzen an der Türe
höre. Das kommt nämlich meistens vom Schlüssel, wenn mir das Personal mein Essen bringt, so wie jetzt.
"Na, wie geht es uns heute?"
"Danke, schon sehr viel besser. Ich habe wunderbar geschlafen und auch fast keine Albträume mehr", antworte ich auf die nette Frage des Hausdieners. Oft begleitet ihn noch ein anderer Angestellter.
"Das ist schön, das zu hören. Dann können wir die Dosis langsam verringern. Hier, auf das werden Sie sich noch besser ausruhen können!"
Dann gibt er mir eine Spritze und stellt mir ein Tablett mit Essen auf den Boden. Ich habe nämlich bis auf eine Matratze keine Möbel hier. Und die Wände sind gepolstert. Wahrscheinlich muss das so sein, damit mir wirklich nichts passieren kann.
Einmal habe ich einen Blick in das Buch gemacht, in das er immer, wenn er mich besucht, etwas einträgt. Dort habe ich die Worte: >>Paranoide Schizophrenie<< gelesen. >>Drogen<< steht in Klammer mit Rufzeichen daneben. Wahrscheinlich ein Code für meine Beschützer.
Ja, ja, sie gehen mir schon ein wenig ab, meine Joints. Auch ein Bier habe ich schon lange nicht mehr zu trinken gehabt. Aber vielleicht kann ich ja bald wieder unter die Menschen? Nur kurz halt. Irgendwann werden auch meine Albträume aufhören. Dessen bin ich mir sicher.
Eingereicht am 11. Januar 2005.
Herzlichen Dank an den Autor / die Autorin.
Nachdruck und Vervielfältigungen, auch auszugsweise,
bedürfen der schriftlichen Zustimmung des Autors / der Autorin.